Wo stehen wir heute? Wer als 20-Jähriger kein Linker ist...

Politik

Die Medien blasen zum Sturm: schon lange gegen Russland, jetzt auch vermehrt gegen Linke. DIE ZEIT, die NZZ, der SoBli.

Anti-WTO Demonstration in Seattle 1999.
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Anti-WTO Demonstration in Seattle 1999. Foto: Jnarrin (CC BY 3.0 cropped)

24. August 2016
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Wer als 20-Jähriger kein Linker ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch ein Linker ist, hat keinen Verstand. Dieses Zitat – in dieser oder ähnlicher Form, oft steht statt «Linker» das Wort «Sozialist» – wird meist Winston Churchill zugeschrieben, aber auch der deutsche Dichter Theodor Fontane (1819-1898), der italienische Philosoph Benedetto Croce (1866-1952), der britische Philosoph Bertrand Russell (1872-1970), der irische Dramatiker George Bernhard Shaw (1856-1950) oder der deutsche SPD-Politiker Björn Engholm (geb. 1939) werden als Quellen erwähnt. Und ein Blick in die Gesellschaft zeigt, dass der politische Rutsch von links nach rechts – zuweilen von ganz links nach ganz rechts – im Verlaufe eines Lebens weitverbreitet ist. Und jeweils mit dem Hinweis verteidigt wird, dass «bessere Erkenntnis» ja erlaubt sein soll.

Paradebeispiel in der Schweiz etwa ist Thomas Held, der – nomen est omen – in den späten 1960er Jahren der Held der Zürcher Studentenunruhen war – oder zumindest deren lautstarker Mann am Megaphon – , gut 30 Jahre später aber, 2001, Direktor der sogenannten Denkfabrik AvenirSuisse wurde, jener Schweizer Lobby-Organisation, die mit Geldern der Banken und der Grossindustrie die Schweizer Polit-Szene zu überzeugen versucht, dass das mit Arbeit verdiente Geld der Kleinen vor allem nach oben fliessen muss – nach oben in die Taschen der Grossen.

Konkurrenz und Kalter Krieg zwischen Ost und West

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die europäischen Linken, die Sozialdemokraten – die jungen und die alten – , vor allem zwei Ziele: die Besserstellung der Arbeiterschaft und die Vermeidung von Krieg. Nicht ohne Erfolg. Selbst auf der eher rechten Seite, bei den Unternehmern, war klar: Kapitalismus ja, aber nur mit sozialer Verantwortung. Der sogenannte Rheinische Kapitalismus war breit akzeptiert und trug mit dem System der «Marktwirtschaft mit sozialer Verantwortung» – gerade auch in Deutschland – viel zur Wirtschaftsblüte bei.

Zumindest bis 1989. Denn im Osten Europas und in Russland herrschte der Kommunismus. Mit der Sowjetunion und ihren Satelliten stand Westeuropa politisch in Konkurrenz und militärisch im Kalten Krieg. Ein angemessener Wohlstand der Arbeiterklasse war im Westen deshalb die anerkannte Methode, Sympathien zum Osten schon gar nicht aufkommen zu lassen. Bis die Sowjetunion 1989 wirtschaftlich kollabierte und unter Gorbatschow die Schlagbäume an den Grenzen fielen. Ein Freudentag – auf beiden Seiten! Mit mehr Freiheit und erhofftem wirtschaftlichem Aufschwung in Osteuropa, mit der Bestätigung im Westen, dass die Marktwirtschaft das «richtige» System ist.

Eine neue Ära

Nur, der Westen fühlte sich in seiner Politik nicht nur bestätigt, er zog aus dem Kollaps der Sowjetunion auch einen falschen Schluss: Der Kommunismus funktioniert nicht, also funktioniert nur der Kapitalismus. Und flugs änderte er sein System. Denn was auch nur andeutungsweise kommunistisch, sozialistisch oder auch nur deklariert sozial war, galt fortan als abgewirtschaftet, veraltet, einfach als falsch. Der Nachsatz «mit sozialer Verantwortung» entfiel. Jetzt durfte endlich Kapitalismus pur gelebt werden. Mit eigener Arbeit Geld zu verdienen, war out. Ab sofort verdiente man Geld mit Geld! Was immer noch dem Staat gehörte oder genossenschaftlich organisiert war, selbst Wohnbaugenossenschaften oder städtische Wasserversorgungen, sollte privatisiert und an Investoren verkauft werden – und wurde es auch oft.

Und was war mit dem Krieg? Der war kein Thema mehr. Man rollte den Staaten des Warschauer Paktes den Roten Teppich aus und holte sie in die EU und in die Nato. Nur Russland blieb aussen vor. Zwar hatte Deutschland, aus Dankbarkeit für die nun mögliche Wiedervereinigung, Gorbatschow in die Hand versprochen, die Nato nicht weiter nach Osten zu erweitern, aber mangels völkerrechtlich gültigem – schriftlichem – Vertrag und mit Druck aus den USA war auch das bald vergessen. Die Russen, die sich 1990 freuten, nun wieder zu Europa zu gehören, sahen sich bald getäuscht, denn George W. Bush persönlich hatte die europäische Diplomatie angewiesen, die Russen nun spüren zu lassen, dass sie die Verlierer waren.

Und wo stehen wir heute?

Die Banken mussten ihrer gigantischen Casino-Spiele wegen 2008 und 2009 zwar mit Geld aus den Staatskassen gerettet werden, aber gerade weil sie wissen, dass man sie auch künftig wieder retten wird, machen sie, was sie wollen. Die Blase ist jetzt schon grösser als 2008. Die globalen Konzerne zahlen kaum Steuern oder höchstens ein Minimum in irgendwelchen Steuerparadiesen – arbeiten aber lassen sie in Billiglohnländern. Renten werden gekürzt, aber Reiche werden reicher. Und um eine Annäherung Westeuropas mit der hochentwickelten Industrie und der führenden Technologie an das an Öl, Gas und anderen Bodenschätzen reiche Russland zu verhindern – die beiden würden zu gut zusammenpassen! –, mussten und müssen die auf die eigene Weltmacht bedachten USA alles tun, alte Animositäten und Konfliktherde zu revitalisieren.

Man denke etwa an die Vertreibung eines gewählten Präsidenten in Kiew und dessen Substitution durch eine US-genehme Marionetten-Regierung Ende Februar 2014, trotz einem von drei EU-Aussenministern, darunter der deutsche Frank-Walter Steinmeier, vermittelten und unterzeichneten Kompromissvorschlag für vorgezogene Wahlen. Die Reaktion Russlands mit der Wiedereingliederung der Krim ist bekannt. Damit aber war auch das Thema Kriegsverhinderung vom Tisch. Im Gegenteil: Es durfte wieder zum Krieg geblasen werden!

Und trotzdem gibt es noch Linke?

Die Zeit scheint gekommen, da man den noch verbliebenen Linken, denen die soziale Verantwortung und der politische Ausgleich noch immer ein Anliegen sind, den Garaus machen kann. So etwa hat die grosse deutsche Wochenzeitung DIE ZEIT, einst ein offenes Blatt, erst kürzlich dem 1970 aus der damaligen Tschechoslowakei zugezogenen Schriftsteller Maxim Biller mehr als anderthalb Seiten Platz zur Verfügung gestellt, um seine hasserfüllte Polit-Jauche über die «neuen» Linken zu giessen – darunter Slavoj Žižek, Yanis Varoufakis, Bernie Sanders oder auch Jakob Augstein.

Und was ist mit dem Krieg?

Auch das andere grosse Ziel der Nachkriegs-Linken, die Vermeidung von Kriegen, der Frieden in Europa, wird nur noch – sagen wir: im besten Falle – als naiv dargestellt. Der Krieg ist wieder salonfähig geworden. Mehr noch, es gibt wieder eine echte Kriegshetze. Nicht zuletzt die Neue Zürcher Zeitung und dort an erster Stelle Chefredaktor Eric Gujer lassen keine Gelegenheit ungenutzt, den USA und der Nato weitere militärische Aufrüstung zu verordnen.

René Lüchinger, im Hause Ringier sogenannter «Chefpublizist» der Blick-Gruppe, hat im SonntagsBlick vom 14. August 2016 dem Chefredaktor der NZZ, Eric Gujer, ein äusserst schmeichelhaftes Porträt gewidmet. Der Chefpublizist von der Dufourstrasse attestiert dem Chefpublizisten von der Falkenstrasse, 200m weiter westlich, mit Hochachtung die Nähe zur Realität: «Da schreibt kein Schreibtischtäter. Sondern einer, der nach dem Mauerfall draussen war, an den Brennpunkten der Welt.»

Gefälligkeitsjournalismus, nennt man so was in der Branche. In dem Fall Gefälligkeitsjournalismus eben von Chef zu Chef. (Im letzten Abschnitt der Lüchinger-Lobhudelei fand sich auch noch ein Seitenhieb an die Adresse von infosperber.ch, wo man, wörtlich, «vielleicht noch nicht gemerkt» hat, dass «die Welt von heute nicht mehr die damalige ist». Lüchinger ist bekannt für seinen lockeren Umgang in der Vermischung von wirtschaftlichen Interessen Einzelner mit unabhängigem Journalismus; die Kritik wiegt insofern nicht schwer.)

Gibt's Alternativen?

Was zu denken gibt: Wenn vom renommiertesten deutschsprachigen Wochenblatt DIE ZEIT über das Schweizer Wirtschafts- und Intelligenzblatt NZZ bis zur grossauflagigen Boulevard-Postille SonntagsBlick alle die uneingeschränkte Macht der globalen Konzerne propagieren und höhere Investitionen in Kriegsmaterial fordern, woher kann dann eigentlich noch ein anderer Gedanke kommen? Oder, wenn es denn andere Gedanken gibt: Wie und wo können sie sich bemerkbar machen?

»Wer mit 20 Jahren kein Linker ist, hat kein Herz»: Wo eigentlich sind die 20-Jährigen, die zwar noch keinen Verstand haben, aber wenigstens ein Herz? Wo sind die 40-Jährigen, die ja jetzt Verstand haben und wissen müssten, wohin seit der Jahrtausendwende die Reise geht?

Müssen wir trotz allem auf die 50-, die 60- und die 70-Jährigen hoffen, die wissen, dass es den Verstand braucht, aber dass es ohne das Herz auch nicht geht? Wo nur noch das Geld regiert, zum Wohle der Wenigen, zum Verderben der Vielen, ist keine Zukunft.

Christian Müller / Infosperber

Der Autor hat zur Zeit der Zürcher Studentenunruhen in den späten 1960er-Jahren an der Uni Zürich Geschichte und Staatsrecht studiert, ist Thomas Helds Megaphon allerdings nie hinterhergelaufen. Er war schon damals journalistisch tätig und vertraute mehr auf Argumente als auf laute Töne.