Ihren vorzeitigen Höhepunkt erreicht diese Entwicklung seit einigen Jahren mit der Einführung von Dating-Apps und dem Versprechen, ihren Kund*innen vom spontanen Sex-Date bis zu massgeschneiderten Partner*innen fürs Leben alles anbieten zu können. Der Haken daran: Die Menschen wollen Liebe und Sex, doch die App will nur ihr Geld. Selbst die tiefgreifendste sexuelle Emanzipation scheint nicht vor der Kommerzialisierung sicher zu sein. Und anstatt die sexuelle Befreiung zu feiern, bieten wir uns wie Waren auf einem Dating-Markt an. Aber gibt es Möglichkeiten, dieser kapitalistischen Vereinnahmung ein Schnippchen zu schlagen, vielleicht durch ein anderes zwischenmenschliches Verhalten? Dieser Frage fügt die Journalistin Şeyda Kurt mit ihrem aktuellen Buch „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“ nun ein weiteres Puzzlestück hinzu.
Polygame Revolte
Şeyda Kurt verquickt in ihrem Buch biographische Notizen mit politischen Überlegungen und kulturellen Anspielungen in dem Versuch, Romantik, Liebe und das allgemeine Miteinander neu zu denken. Ausgangspunkt ist ihr Unbehagen darüber, dass sie stets ihre privaten Beziehungen aus ihren politischen Überlegungen herausgehalten hat:„Trotz der Impulse der feministischen #MeToo-Bewegung aus den letzten Jahren und der Kritik an diskriminierenden und ausbeuterischen Verhältnissen schliessen selbst viele Feminist*innen die Sphäre der romantischen Zweierbeziehungen aus ihren Verhandlungen viel zu häufig aus.“ (S. 12)
Doch das will sie ändern und so zieht sich das Thema der Liebe mit all ihren Spielarten sowie der Begriff der Zärtlichkeit als Leitfaden durch ihr Buch – immer wieder begleitet und unterbrochen von intersektionalen Einschüben über Rassismus, Sexismus oder Klassismus. Kurt spricht über ihre Kindheit und Jugend als Tochter von Eltern mit „Gastarbeiter“-Biographien; und darüber, wie ihr unzählige türkischsprachige Filme – die sogenannten Yeşilçam-Filme, nach einem bekannten Produktionsort benannt – aus den 1970er Jahren Ideen von romantischer Liebe und Beziehung vermittelten: „Die heteronormative Ehe ist – wie auch in Deutschland – die unangefochtene Norm. Und für viele Frauen ist sie eine Instanz, die ihr Überleben sichert.“ (S. 39) Mit zunehmender linker Politisierung wird ihr ihre Prägung durch Gesellschaft und Kultur jedoch bewusst und sie beginnt diese Norm zu hinterfragen – so wie viele Feminist*innen von früher und von heute.
Ein Ausweg aus der heteronormativen Sackgasse, in der sie sich und ihren Körper als fremdbestimmt erkennt, findet sie (zumindest teilweise) in den Konzepten der Polyamorie und der offenen Beziehung, die sie auch für ihre eigene Beziehung einfordert:
„Und ein revolutionärer Moment war der Abschied von der Monogamie für mich persönlich vielleicht doch: eine Revolte gegen die patriarchalen Erwartungen meiner familiären Erziehung, gegen eine imaginäre autoritäre Stimme in meinem Kopf.“ (S. 78)
Monogame Norm
Kurt hat recht: Die patriarchalen Prägungen sitzen viel zu tief in uns. Es ist wichtig, immer wieder aufs Neue alternative Konzepte der Liebe und des Miteinanders stark zu machen. Dabei erfindet sie das Rad aber nicht neu, schliesslich füllt die Beschäftigung mit dem menschlichen Zwischen- und Miteinander ganze Bibliotheken und reicht allein in den letzten Jahren von Paul B. Preciados Theorie der Kontrasexualität als Gegenentwurf zur Heterosexualität bis zum Solidaritätskonzept der Beziehungsweisen bei Bini Adamczak. Şeyda Kurt malt in ihrem Text jedoch leider zu oft mit dem groben Pinsel. Zum Beispiel versteht sie romantisch „als ein historisch gewachsenes Konzept, das die Beziehung von zwei Menschen normieren will.“ (S. 12) Sie hat insofern recht mit dieser Feststellung, wie sie im Anschluss auch schreibt, als dass der romantischen Beziehung, insbesondere in Hetero-Konstellationen, ein Vorrang zukomme und sie als exklusiv, meist monogam und sexuell verstanden werde. Aber verkürzt damit gleichzeitig das Verständnis und Potential der romantischen Liebe: Schliesslich kann diese im Idealfall einen Raum jenseits der gesellschaftliche und ökonomische Ordnung eröffnen. Also ganz zweckfrei sein und utopische Momente des Glücks in einer ansonsten durchrationalisierten Welt aufblitzen lassen – dieses Potenzial beschreibt beispielsweise Eva Illouz in „Der Konsum der Romantik“. Dafür darf diese Liebe aber eben nicht als lohnende „Investition“ in die eigene Zukunft verstanden werden oder, wie es in Kurts Text öfters aufscheint, als rein gesellschaftlich und historisch geprägtes Phänomen.In der Liebe nichts Neues
An dieser Stelle macht sich noch ein weiteres Manko des ansonsten locker und zugänglich geschriebenen Buches bemerkbar: Den Argumenten bleibt selten genügend Raum, um sich zu entfalten. Sprunghaft werden die teils sehr diversen Themenfelder zusammengeworfen oder nebeneinandergestellt. Daraus ergibt sich im Gesamtbild ein diffuses Einverständnis mit der Autorin: Es stimmt schon alles, was sie sagt. Man hat wenige Einwände, aber ein wirklicher Erkenntnisgewinn stellt sich leider nicht ein. Sie feiert polygame und polyamore Beziehungskonzepte, geht aber nicht tiefer darauf ein, wie diese sich in einem von heteronormativen und von Lohnarbeit geprägten Alltag bewähren können beziehungsweise mit welchen Bandagen man dabei zu kämpfen hat; abgesehen von den Aushandlungsschwierigkeiten mit ihrem Partner.Ebenfalls bleibt das Thema der Einsamkeit unterbelichtet. Viele Menschen, die sich in modernen Massengesellschaften – egal ob im urbanen Raum oder auf dem Land – mit grosser Anonymität konfrontiert sehen, suchen den Kontakt zu anderen Menschen. Sie suchen den Austausch von Angesicht zu Angesicht, Berührungen, Intimität, Vertrauen und Zärtlichkeit. Und es ist genau dieser Missstand, der von den kapitalistischen Plattformökonomien hinter den Dating-Apps ausgebeutet wird. Das funktioniert gerade deshalb so gut, weil die Apps eine technische Möglichkeit versprechen, Menschen zusammenzubringen oder sogar die grosse Liebe zu finden. Bei allen Versuchen der Inklusivität in Kurts Text bleibt hier jedoch eine inhaltliche Leerstelle, was insofern verwundert, da es für so viele Menschen relevant ist. Diese gesellschaftliche Dimension jedoch, die auch eine Klassenfrage ist und die Zugänglichkeit zu polyamoren und/oder radikal zärtlichen Orten und Theorien beinhaltet, geht im Text nicht über ein Reflektieren des eigenen persönlichen Verhaltens hinaus.
Und schliesslich: was Leser*innen nach der Lektüre wirklich etwas ratlos zurücklässt, ist die fehlende Definition des Begriffs der radikalen Zärtlichkeit. Es ist ein wunderbarer Titel und könnte ein wichtiger Arbeitsbegriff sein, der sich durch viele Lebensbereiche zieht. Was Şeyda Kurt jedoch damit meint, bleibt letztlich unklar. Die Leser*innen müssen den Begriff selbst für sich ausfüllen. Dazu sind zwei Dimensionen bedeutsam: zum einen die Frage danach, ob Liebe, Intimität und Zärtlichkeit allein dem Wesen der Menschen entspringen, also beispielsweise psychoanalytisch oder philosophisch ergründet werden müssen; und zum anderen, inwieweit es sich auch um gesellschaftlich konstituierte Phänomene handelt, die somit politische Implikationen hervorrufen. Diese gegenseitige Bedingtheit wird im Text jedoch nur angedeutet und die Lösungsansätze bleiben individuell.
Und dennoch: Für eine jüngere Generation, der Alexandra Kollantai oder frühere feministischen Bewegungen zu angestaubt erscheinen, kann Şeyda Kurts „Radikale Zärtlichkeit“ ein eleganter Einstieg zur Politisierung ihrer Privatsphäre und der Ausgang eines politischen Handelns auf dem Feld der Liebe sein.