Jenseits allem gebotenen Alarmismus hat sich nun der Historiker Michael Wildt darangemacht, den Begriff des Volkes einer kritischen Prüfung zu unterziehen und den Nutzen „des Völkischen“ für die AfD unter die Lupe zu nehmen. Der Autor ist ein Experte, wenn es um historische Genese und Wirkmacht des rassistischen „Volksgemeinschafts“-Konzeptes geht, allerdings äusserte er sich bislang selten zu aktuellen Fragen. Nachdem aber vor zwei Jahren ein Online-Artikel Wildts zur Konstruktion der „Volksgemeinschaft“ durch André Poggenburg, den AfD-Landesvorsitzenden in Sachsen-Anhalt, positiv aufgegriffen wurde, schien eine Intervention bitter nötig. „Volk, Volksgemeinschaft, AfD“ ist keine wissenschaftliche Abhandlung – das handliche und mit 160 Seiten recht überschaubare Büchlein soll vielmehr breitere Leser*innenkreise erreichen.
Geschichten aus der Geschichte
Der Dreiklang, der schon den Titel prägt, spiegelt sich auch in den drei Hauptkapiteln des Buches wider. Dabei führt das erste Kapitel „Volk“ in die historische Genese des Begriffes ein. Wildts Bezugspunkte sind ebenso prominent wie nachvollziehbar: Er beginnt mit Aristoteles, der den athenischen Stadtstaat, die Wiege der Demokratie, kritisch betrachtete. Über Cicero und andere geht es zu Thomas Hobbes und seinem Hauptwerk, dem Leviathan. Und von diesem zu Jean-Jaques Rousseau, dessen Idee von der „volonté générale“, dem allgemeinen Willen, „den Mythos von der Einheit, der Homogenität des Volkes begründet“ (S. 25). Die Vorstellung eines Souveräns, welcher die Staatsgewalt innehat und „das Volk“ repräsentiert, zog sich seitdem durch die Verfassungen hindurch: „We the people of the United States“, heisst es seit 1787; „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“, proklamierte die Weimarer Verfassung von 1919.Doch zwischen Philadelphia und Weimar liegt nicht nur ein Ozean, sondern auch ein ganzes Jahrhundert und ein Weltkrieg, in denen sich das, was unter dem „Volk“ zu verstehen sei, grundlegend wandelte. Die Bestrebungen, der deutschen Kleinstaaterei durch die Formung einer Nation zu entkommen, ebenso wie die ethnischen „Säuberungen“ in den Balkankriegen 1912/13 hatten das ius sanguinis, das Abstammungsprinzip, zum zentralen Faktor gemacht. Der demos (Staatsvolk) sollte nicht mehr ohne den ethnos (Volk) auskommen. Die Homogenisierung des „Eigenen“ bedingte die Konstruktion des „Anderen“.
Die Aufgabe der Wissenschaften sollte es sein, zu bestimmen, was der „Volkskörper“ war und wer dazu gehören durfte. Ein „Volk“ sollte sich auch territorial verorten können, einen „Lebensraum“ haben, der über die Grenzen einer „Staatsnation“ hinausging. Nicht nur die politische Rechte der Weimarer Republik versuchte, nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzziehungen zu revidieren und argumentierte mit einem diffusen ‚Selbstbestimmungsrecht' der deutschen Minderheiten. Dabei konnte man auf gängige Bilder zurückgreifen, denn tatsächlich entstand die Vorstellung von einem „deutschen Osten“, den es zu besiedeln galt, bereits in Preussen. Sie kulminierte im Zweiten Weltkrieg in Vertreibungen und Massenmord.
Wildt kommt im zweiten Kapitel darauf zu sprechen, dass „bei den Nationalsozialisten die Volksgemeinschaft vor allem durch Grenzen, durch Exklusion bestimmt“ (S. 66) wurde. „Gemeinschaftsfremde“, besonders Jüdinnen und Juden, durften nicht Teil der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ sein. Dabei, so Wildt, war diese Idee keine nationalsozialistische Erfindung: Die Entstehung der kapitalistisch formierten bürgerlichen Gesellschaft weckte Sehnsüchte nach einer ursprünglichen, vormodernen Gemeinschaft, für die Ferdinand Tönnies zuerst 1887 und erneut 1912 (acht Auflagen bis 1935) in seinem Grundlagenwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ gewissermassen die Vorlage lieferte.
In der krisengeschüttelten Weimarer Demokratie diente der wiederkehrende Appell an die „Volksgemeinschaft“ gerade durch Liberale und SozialdemokratInnen der Herstellung von Inklusion und sozialer Einheit im Sinne des Staatserhalts, der – ganz im Gegensatz zur völkischen Rechten – dabei nur auf Grundlage der demokratischen Reichsverfassung gesichert werden konnte. Dennoch beschrieb keines dieser Gesellschaftskonzepte den Ist-Zustand. „[D]ie politische Kraft der Rede von der Volksgemeinschaft“ lag „vielmehr in der Verheissung, in der Mobilisierung“ (S. 73), so der Autor. Carl Schmitt lieferte dann die staatsrechtliche Legitimierung für die völkische Politik der Nationalsozialisten: Das Volk herrschte nur als und durch die ethnisch homogene „Volksgemeinschaft“ und diente also der Herstellung von Konformität und Indifferenz, aber auch der Teilhabe. Nur „Gleichartige“ sollten vor dem Gesetz gleich sein. Zwei Drittel der Deutschen gehörten bei Kriegsbeginn einer nationalsozialistischen Organisation an.
Im Kriegsverlauf zeigten sich die Grenzen der „Volksgemeinschaft“, wie Wildt anhand von Stimmungsberichten der Nationalsozialisten nachzeichnet, als Referenzrahmen jedoch blieb sie anleitend. Einen Zusammenbruch wie 1918 im Ersten Weltkrieg sollte es nicht geben. Im Krieg zeigte sich auch, wie stark das völkische Inklusionsversprechen mit Ausschluss und Deportation der Jüd*innen oder auch Ausbeutung von Millionen Zwangsarbeiter*innen zusammenhing: „Die NS-Gauleiter verlangten ab 1940 nachdrücklich die Deportation der deutschen Juden, um deren Wohnungen mit Volksgenossinen und Volksgenossen zu besetzen“ (S. 85). So verweist Wildt auch darauf, dass – trotz „aller Inklusionsrhetorik“ – „die Volksgemeinschaft vor allem durch Grenzen, durch Exklusion bestimmt“ (S. 66) gewesen sei. Schon im NSDAP-Programm von 1920 wurde die Staatsbürgerschaft an die Zugehörigkeit zum „Volk“ gekoppelt. Jüd*innen waren explizit ausgeschlossen.
Wer ist das Volk heute?
Wer vor 1933 den Begriff der „Volksgemeinschaft“ benutzte, musste kein Nationalsozialist sein. Wer aber „nach 1945 wie die AfD und andere rechte Gruppierungen immer noch mit der ‚Volksgemeinschaft' hantiert, befindet sich stets in der geistigen Nähe des Nationalsozialismus“ (S. 116). Das dritte und entscheidende Kapitel „Das Volk der AfD“ befasst sich also mit dem völkischen Element der AfD, eröffnet zunächst jedoch mit einer Aufzählung der verschiedenen extrem rechten Strömungen und Parteien in (West-)Europa, die Wildt lediglich unter dem Label des „Populismus“ zusammenfasst. Dabei geht der Autor davon aus, dass rechtspopulistische AkteurInnen ein dichotomes Freund-Feind-Bild vertreten, in dem das „reine Volk“ einer „korrupten Elite“ gegenüberstehe. Anhand ihres Grundsatzprogramms weist der Autor nach, wie sich die AfD als „wahre“ Vertreterin des Volkes geriert.Dabei übernehme die Partei linke Entwürfe, wie Antonio Gramscis Konzept der kulturellen Hegemonie, um sie „für die eigenen Zwecke umzuwerten“ (S. 102). Allerdings gerät der Nachweis, die AfD suche – bewusst oder unbewusst – Anleihen in der Linken, zu knapp und mündet in der Suche nach einer Wesensverwandtschaft. Johannes Agnolis radikale Parlamentarismus-Kritik und dessen Beschreibung der gesellschaftlichen Antagonismen von Kapital und Arbeit haben tatsächlich aber wenig gemein mit dem Parteien-Bashing à la AfD. Es geht der AfD und anderen extrem rechten Parteien bei dem Ruf nach direkter Demokratie ja nie um Partizipation, sondern um die antipluralistische und rassistische Formulierung eines diffusen „Volkswillens“ – und der mündet immer und auch jetzt bereits im Pogrom. Stutzig wird man auch, wenn Wildt das ethnisierende Konzept der AfD einem nordamerikanischen Lebensentwurf gegenüberstellt, seien doch in den USA Freiheitsrechte und Toleranzgebot als verfassungsrechtliches Ideal gerade im Angesicht einer Tradition als Einwanderungsland massgebend. Dabei sind die USA nicht erst seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten ein Land mit einer langen Unterdrückungsgeschichte, in dem Minderheiten nicht aufgrund einer „Toleranz“ der Mehrheit leben dürfen, sondern sich ihre Rechte immer erkämpfen mussten und müssen. Immerhin verweist Wildt im resümierenden Abschnitt durchaus auf die Kämpfe der Ausgeschlossenen.
Der Schlussabschnitt geht aber vor allem der Frage nach, wer denn nun das „Volk“ sei. Zwar scheine es historisch als revolutionäres Subjekt immer wieder auf, letztlich müsse es aber „unauffindbar“ (S. 131) bleiben. Heute müsse sich das demokratische Prinzip in einer „Gesellschaft der Gleichen“ (Pierre Rosanvalon) verwirklichen, in dem Vielfalt zum Massstab der Gleichheit werde. Das „Volk“ sei „heute nur als Gesellschaft der Singularitäten“ (S. 139) zu verstehen. Tatsächlich plädiert Wildt für ein Loslösen von dem Grundgedanken des "Volkes" und für ein Experimentieren in der Demokratie angesichts der Teilhabeanforderungen, die Migrationsgesellschaften heute stellen.
Ob der Autor dabei den Volksbegriff auf den Müllhaufen der Geschichte werfen will, wird nicht ganz klar: „Das Volk ist nicht tot, aber es hat sich überlebt“ (S. 143). Auch werden ökonomische Fragen, die ja ebenso Fragen von Gesellschaft und Demokratie sind, kaum mit den genannten politischen und gedächtniskulturellen verknüpft. Daher bleibt zumindest fraglich, inwieweit sich das liberale Gleichheitsversprechen tatsächlich einlösen lässt. Aktuell scheint es Teil des Dilemmas linker Formierungen in Europa zu sein, angesichts rechter Mobilisierungen scheinbar unter dem Zwang zu stehen, sich für das liberale Trugbild von Freiheit und Gleichheit entscheiden zu müssen. Als würde nicht heute an den EU-Aussengrenzen immer noch gelten, was schon 1801 für die französische Kolonie St. Domingue galt: Menschenrechte sind nur solange universell, solange „unsere“ ökonomischen Interessen nicht infrage stehen. Die Forderungen der Französischen Revolution sollten damals ebensowenig für die haitianischen Sklaven gelten, wie sie heute für die Geflüchteten gelten sollen. Politische und ökonomische Teilhabe sind schliesslich unteilbar. So muss mit dem Fazit des Autors keineswegs übereinstimmen, wer seine grundlegenden Ansichten zur Genese von „Volk“ und „Volksgemeinschaft“ unterstützt.
Auch konnte vieles nicht untergebracht werden. So fordert die Lektüre immer wieder zu Nachfragen heraus, die Wildt leider nicht beantwortet. Gerade die Ausführungen zu AfD und zur Revitalisierung des Völkischen bleiben mitunter vage und an der Oberfläche. Der begrenzte Platz bedingt wohl auch, dass Ausführungen zu den neurechten Vordenkern um die Wochenzeitung Junge Freiheit und das private Institut für Staatspolitik (IfS) oder zur aktivistischen Identitären Bewegung weitgehend unterbleiben mussten. Gleichwohl bietet das dünne Büchlein Anregungen, sich den „Klassikern“ von Hannah Arendt und Benedict Anderson bis hin zu Jean-Jacques Rousseau und Ferdinand Tönnies zu widmen.