„Für alle reicht es nicht“
Was aber sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür, Menschen rechtsextrem zu binden und Begriffe wie Abendland, Volk und „deutsche Kultur“ alltäglich werden zu lassen? Eine zentrale Idee wurde schon 1932 öffentlich verlautbart und könnte aufklärend wirken:„Gegen die kommunistische Lebenslüge ‚Keiner oder Alle' hat Hitler gesetzt: ‚Für alle reicht es nicht'. [...] Der Lebensstandard der weissen Rasse kann nur gehalten werden, wenn der der anderen Rassen sinkt. Die Selektion ist nach wie vor das Prinzip der Politik der Industriestaaten. Insofern hat Hitler gewonnen“ (Müller 2017, S. 8).
Diese Zuspitzung von Heiner Müller formuliert einen rationalen Grund für protofaschistische Bewegungen, der an Ahnungen der Besorgten und Sich-Fürchtenden anschliesst: Für alle reicht es nicht!
Liegengelassene gesellschaftliche Widersprüche, die Demontage und Gefährdung von Institutionen (und Rechtsstaatlichkeit), deren Legitimation oftmals eine Beschämung des Denkvermögens (zuletzt: die vorgeschlagene deutsche Leitkultur des Innenministers) ist, wird mit den Vereinfachungen des Rechtsextremismus wieder dem Schatten des Aufklärungslichts anheimgegeben.
In diesem Schatten beginnt die „Die autoritäre Revolte“ von Volker Weiss zu sprechen. Schon im Titel des Buches kann die Selbstbeschreibung der alten Rechten gefunden werden: Ernst Jünger und van der Bruck brauchten den Begriff des Autoritären für ihre Ideologiebildung. Und an den „Alten“ – an ihren Texten, nicht an ihren Taten – soll die neue Rechte vermessen werden. Weiss beschreibt in eigenen Kapiteln die Zusammensetzung, die Herkunft, die Politikkonzepte, Begriffsbindungen (zum Beispiel „Abendland“, „Universalismus“) der rechtsextremen Bewegung. Und er setzt sich vertraut und in bekanntem Vokabular ab: der – wenn auch problematische – gebildete Konservatismus, aus dem von ganz rechts schmuddelig Völkisches gebraut wird und der dabei versagt und „wild“ wird, sich aber in seiner Wildheit durch die „Triebhaftigkeit“ des Gegners bestätigt sieht:
„Oswald Spengler, Carl Schmitt und Ernst Jünger können noch intellektuell anregende Lektüren bieten. Armin Mohler und Karheinz Weissmann sind zumindest zeitgeschichtlich interessante Autoren. Doch schon Texte von Götz Kubitschek, Ellen Kositza und Martin Lichtmesz stellen lästige Pflichtübungen der Forschung dar. Donovan jedoch ist eine Zumutung, die das Milieu des Antaios Verlages als von primitivsten Begehrlichkeiten getrieben entlarvt. Nach den massenhaften Übergriffen auf Frauen durch grösstenteils arabischstämmige Männer während der Silvesternacht 2015/16 in deutschen Städten sah sich auch die neue Rechte in ihren Ressentiments bestätigt“ (S. 240).
In diesem Zitat ist schon der ganze Weiss enthalten. Ohne einen eigenen Gedanken, eine leitende Fragestellung und ganz ohne Forschung, die über die Recherche von Literatur hinausgeht, zeigt er die Traditionen des Rechtsextremismus (siehe die oben angegebenen Namen und ergänze sie um einige weitere), deren Verschlankung durch die Intellektuellen der neuen Rechten, die Verästelungen der Organisationen, ihre Streitigkeiten und Veröffentlichungsorgane (inklusive Verlag). Den Bezugspunkt bildet die „konservative Revolution“ der Weimarer Republik – ein Begriff, den die Rechten selbst erfanden und von links als Protofaschismus kritisch gefasst wurde. Für den Autor liegt das eigentlich Bemängelswerte darin, dass die neuen Rechten den alten intellektuell nicht gewachsen sind. Sie bilden sich nur ein, in dieser Tradition zu stehen (die so sauber gehalten wird).
Der Hinweis, dass diese Rechten eine Antwort auf „68“ sein könnten wird häufig seitenweise plausibilisiert hingebogen, um dann als falsch behauptet zu werden. Dass Islamismus und Rechtsextreme Schnittmengen aufweisen und insofern nicht als Feinde, sondern als Gegner einzuschätzen sind, die auch mal gemeinsam antiamerikanisch, antiwestlich auftreten, fehlt auch nicht. Es reiht sich eine Behauptung an die andere, kein Material wird analysiert, kein Kontext hergestellt. Die sozial-ökonomischen Bedingungen in Europa/der Welt, die Morde und Gewalttaten von Rechtsextremisten, die Kriege im Nahen Osten: All dies ist keine Zeile wert.
Am Ende des Buches enthüllt Weiss den „Feind“, der dann doch wieder alle eint, weil diese Seiten einen Zweck haben: der Andere wird bis zur Unkenntlichkeit seines Menschseins zum Anderen gemacht: „Der Islam“ ist das Thema. Weiss' Lesart von Foucaults Theorem des Sexualitätsdispositivs, die so verkehrt ist (Foucault mutiert zum Repressionstheoretiker), dass die Leserin beginnt, jegliches Leseverständnis des Autors in Frage zu stellen, wird instrumentalisiert zum „Beweis“, dass „der Islam“ aus der Knechtung der weiblichen Sexualität – anders als „der Westen“ – nicht herausfinden kann.
Der Versuch, Frauenrechte zum Zentralproblem „des Islam“ zu formulieren und die Unfähigkeit dieser „rückständigen Gesellschaften“ eine Entwicklung, wie Foucault sie angeblich vorführte, durch das Bürgertum und mit einer nicht vom Sexualitätsdispositiv eingezwängten Arbeiterschicht ins Liberale zu durchlaufen, wird mit fehlender Bildung behauptet. Die seit dem zweiten Irakkrieg (1991) gern benutzte politische Aufwertung von Frauenrechten, die mit Krieg zum Geschlechterfrieden gebracht würden, nutzt auch Weiss. Auch dies ist ein (Aufklärungs)Schatten, weil über die Verbindung von Menschenrechten und Ökonomie geschwiegen werden kann, obwohl alle Frauenkämpfe (auch) ökonomisch verankert waren.
„Tatsächlich geht es um politische Herrschaft im Gewand der Religion. Die nach konservativer Koran-Interpretation regulierten Gesellschaften haben [...] ganz modern erkannt, dass die Sexualität als Schlüssel zur Privatsphäre die vollständige Herrschaft über die Gesamtgesellschaft ermöglicht“ (S. 250).
Die rassifizierte Islamfeindlichkeit erhält durch ein schlichtes Herrschaftsmodell veredelte Motive: die Gläubigen sind offenbar von „Frauen“ so besessen wir ihre Gegner. „Das fatale Orientalismusbild des 19. Jahrhunderts ist damit wieder präsent“ (Menzel 2017, S. 61). Der Nachweis, dass das Weltbild des nationalistischen Rechtsextremismus das 19. Jahrhundert nicht verliess, wird von Weiss selbst mit Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert gegen den Islam „fortschrittlich“ weitergeführt. Chapeau!
Einende Empörung statt Analyse
Das Buch ist übereinstimmend positiv besprochen worden, es ist konsensfähig von der FAZ bis zur taz. Das liegt unter anderem daran, dass es die Fixierung auf Reizwörter der Nationalisten verstetigt: Volk und Raum, Rassismus, traditionelles Frauenbild. Sie werden empört abgelehnt und es eint die Empörung mehr als die Analyse. Ist es tatsächlich erstaunlich, dass auf einen autoritär gewordenen Kapitalismus von rechts autoritär geantwortet wird? Kommt die Kraft der Rechten eventuell aus den Entwicklungen des Kapitalismus und weniger aus den mühsam bemühten alten Texten? Nancy Fraser hat den Begriff des „progressiven Neoliberalismus“ entwickelt, der das Phänomen beschreibt, dass Emanzipationsgewinne (Frauen, Homosexuelle, Anti-Rassismen, Lebensweisen) als gesellschaftlicher Druck und Neu-Formierung des Alltags zurückkommen. Während der wohlfahrtsstaatlich gezähmte Kapitalismus „Vermarktlichung und soziale Sicherung vereint gegen die Emanzipation in Stellung brachte, erzeugt das jetzige [Regime, Anm. kh] eine noch abartigere Konfiguration, in der Emanzipation im Zusammenspiel mit Vermarktlichung die soziale Sicherheit untergräbt“ (Fraser 2017, S. 96).Dies meint nichts anderes, als dass die Emanzipation gegen ihre Streiterinnen zurückschlägt; Diversität und Emanzipation sind Teil des neoliberalen Systems zu dem Preis, dass die Aufgaben, die die „Produktion des Lebens“ (Marx) mit sich bringen, nicht mehr sozialstaatlich gefüllt werden. „Doppelverdiener-Dasein“ ist sowohl Emanzipation als auch Zwang; und deshalb nicht für alle positiv gelebte Autonomie. Um nur die antagonistische Verstrickung von Gender in die neokapitalistischen Verhältnisse ins Auge zu fassen: Nur wer die gerissenen Versogungs-Lücken finanziell ausgleichen kann („Dienstboten“), wird den befreienden Schmerz ertragen wollen. Die Rechtsextremen widerstreiten reaktionär: Sie wollen zurück in eine alte Geschlechter-Arbeitsteilung und bekämpfen „Gender-Politik“.
Dass gender – wie Rasse, wie Klasse – zu einer politisierbaren Kategorie, zu einer Analyse- und Gestaltungsdimension wurde, wird von rechts durchaus wahrgenommen, allerdings als falsche Selbstermächtigung. Geschlecht fungiert als „natürlicher Hafen“ rechter Ideologien, hier ankern sie und werden plausibel gemacht. Die aktuelle hektische Debatte um die „Ehe für alle“ liess diese Funktion in den konservativen Diskursen noch einmal erkennbar werden, verdeutlichten aber auch, wie wirkungslos und teils lächerlich sie sind, wenn sie eher liberal verbrämt artikuliert werden und nicht zur den alten Vokabeln greifen können: vorherbestimmte natürliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, gesellschaftliche Pflicht des Gebärens, natürliche Verbindung von Mutter und Kind und so weiter. Die zunehmend privatisierte und deinstitutionalisierte individuelle soziale Reproduktion der Menschen ist in den politischen Diskussionen kein Thema beziehungsweise kein verallgemeinerbares Thema.
Es wird wichtig, wo es um Sozialausgaben und -berufe geht. Der Fehler linker Organisationen liegt darin, dass sie die Diskriminierungen, Unterwerfungen und Demütigungen der „alten“ Emanzipation unter neuen Bedingungen nicht zum Thema machen. Die Entgegensetzung Herdprämie versus Erwerbsarbeit ist eine der 1980er Jahre und keine Seite beantwortet die (auch globalisierte) Frage nach der Neuordnung von ökonomischer Produktion und sozialer Reproduktion ohne Dienstboten, Sklaven und dauerhaft Überforderte in unseren Breitengraden zu schaffen.
Es reicht nicht, sich über die Reizwörter zu empören und so beschränktes Einverständnis zu schaffen. Die Linke muss in ihrer Kapitalismuskritik die veränderten Bedingungen von individueller und kollektiver Emanzipation herstellen und kann nicht die erreichten Errungenschaften kontextlos wie gemeisselte Gesetze als einklagbares Rechtsgut fordern – wie es etwa die Angriffskriege im mittleren Osten tun: Im Namen von Frauenrechten wurden „rückständige“ Bevölkerungen um mehrere Dekaden zurück gebombt. Wie es die Konservativen tun: Sie verbieten die Burka in einem burkalosen Land.
Die Transformierung von stereotypen Weiblichkeitsformen in diverse Gender-Horizonte ist längst in Dienst genommen und kommt als konsumierbare Ware zurück. Das ist ein politisierbarer Zusammenhang, mit dem gegen Rechtsextremismus gearbeitet werden kann, ohne sich selbst nach rechts beugen und die Auswirkungen von vormaliger Emanzipation als Druckmittel verkennen zu müssen. Die Geschlechterverhältnisse lassen sich leicht integrieren in ein Projekt, das von der Frage – die hegemoniefähig ist – geleitet wird: unter welchen verallgemeinerbaren gesellschaftlichen Voraussetzungen kann/könnte es für alle reichen?
Ja, die Rechtsextremen betreiben ein hegemoniales, sehr gefährliches Projekt. Ja, die Linke sollte ein erkennbares hegemoniales Projekt anschieben und auch dann nicht vom Kapitalismus schweigen, wenn er – gepanzert mit Gewalt – sich unüberwindbar gibt. Die Nationalisten und Rechtsextremen reagieren durchaus auf gesellschaftliche Verhältnisse. Die Verzerrungen, das Reaktionäre und die Fehlurteile über diese Verhältnisse sind zu bekämpfen. Aber dazu müssen sie selbst erst verstanden sein. Das Buch von Weiss trägt dazu nicht bei.