Sind Rausch und Ekstase gleichsam universelle, weltgeschichtliche Phänomene, so gilt dies nicht gleichermassen für das Phänomen der Sucht. Ihre Geschichte ist kaum 200 Jahre alt. Als Erfindung des 18. Jahrhunderts, in dem sie zunächst in Gestalt der Trunksucht, später in Gestalt der Opiumsucht vorkommt, wird sie zu einer Zeit entdeckt, als sich der Mensch gerade als autonomes, geschichtsmächtiges Subjekt zu verstehen beginnt. Mit der Erfindung der Sucht dreht sich das Verhältnis zum Rausch gleichsam um. Was einst als Gottheit verehrt wurde, wird nun zur verbotenen Frucht.
Als Phänomen des bürgerlichen Zeitalters ist die Sucht auf das Innerste mit diesem verwoben. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat die Sucht einmal als die »Sehnsucht des verlorenen Subjekts« [1] bezeichnet. Unbestreitbar war die Sucht von Beginn an die dunkle Kehrseite bürgerlicher Subjektivität. Aber als das Phänomen der Sucht im 18. Jahrhundert ins gesellschaftliche Bewusstsein zu dringen begann, war es zunächst gerade nicht das erstarkende bürgerliche Subjekt, das sich von ihr bedroht fühlte. Sich der Versuchung der Droge hingebend, fühlte es sich dieser zugleich überlegen. Gefährlich schien die Droge allein für die anderen – für Arbeiter, Frauen und Kinder, denen die Standhaftigkeit bürgerlicher Subjektivität fehlte. Legte nicht die sich im 19. Jahrhundert in der Arbeiterklasse ausbreitende Branntweinabhängigkeit Zeugnis von deren Verführbarkeit ab?
Nochmals 200 Jahre später, in der spätmodernen Gegenwart, scheint die Sucht hingegen allgegenwärtig. Selbstredend geht es dabei nicht nur und nicht vordergründig um die Heroinabhängigen vom Bahnhof Zoo. Jene Substanzen wie Heroin, Morphium und Cannabis, um die sich die gesellschaftliche Diskussion über Drogen meistens dreht, nur weil sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts illegalisiert wurden, spielen überhaupt in der Spätmoderne eine untergeordnete Rolle. Die gegen sie geführten Verbotskampagnen lassen sich viel eher als Rückzugsgefechte einer bürgerlicher Rationalität verstehen, die den Kampf an anderer Stelle bereits verloren hat. Was im Sport seit Jahrzehnten zur Tagesordnung gehört, ist in Gestalt des »Neuroenhancement« und anderen Formen von Alltagsdoping nun auch im Rest der Gesellschaft angekommen. Kaffee reicht als Fitmacher schon lange nicht mehr aus. Ob Ritalin, Amphetamine oder das als Glückspille deklarierte Prozac – die Einnahme psychoaktiver Substanzen zur Herstellung eines inneren Gleichgewichts oder zur Optimierung der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit ist heute aus der Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Was der Soziologe Günther Amendt vor einigen Jahren die »Pharmakologisierung des Alltags« [2] genannt hat, meint genau jene Diffusion von Drogen in den Alltag der Menschen. Dabei geht es jedoch nicht ausschliesslich um die quantitative Zunahme des Suchtverhaltens. Entscheidend ist vor allem die veränderte Funktion, die Drogen heute innerhalb der Gesellschaft zukommen.
Einst hat der Einzelne im Rausch nach Ruhe, Glück, Vergessen und manchmal sogar nach Erkenntnis gesucht. Sie galt ihm als Ausflucht aus der Enge seines gesellschaftlichen Lebens, dessen Erhalt der Bürger nur durch Selbstkontrolle und Selbstdisziplin und der Arbeiter durch Verkauf seiner Arbeitskraft bis zum letzten Rest sichern konnte. Rauschmittel, allen voran Wein und Branntwein, aber auch Opium und Kokain, waren das andere der Arbeit, das gleichwohl als Anderes zugleich dessen Fortbestand sicherte. Gegenwärtig werden Drogen zunehmend Teil des Arbeitsprozesses selbst. Keine Notausgänge sind sie mehr, durch die der Einzelne wenigstens für einen Moment seinem Selbst entfliehen kann. In ihrer populärsten Gestalt sind Drogen heute stattdessen zu Mitteln geworden, mit denen das zerrüttete und verlorene Selbst beständig nach seiner Optimierung strebt.
Wurde in der Moderne in Folge der Pathologisierung des Rausches aus dem vormodernen Drogengenuss die moderne Drogensucht, so ist in der Spätmoderne an die Stelle beider die Medikalisierung des Alltags getreten. Zivilisationsgeschichtlich lässt sich diese Entwicklung zugleich als Geschichte vom Aufstieg und Niedergang selbstbewusster Subjektivität erzählen. Der Rausch und die Ekstase als gesellschaftliche Institutionen gehören der Zeit vor dem bürgerlichen Subjekt an. Hier war das selbstbewusste Ich noch nicht klar genug von seiner Umwelt geschieden, um die Verschmelzung mit dieser als Bedrohung seiner eigenen Existenz wahrzunehmen. Noch den mittelalterlichen Mystikern galt die ekstatische Erfahrung als eine andere, aber der rationalen mindestens gleichgestellte, Erkenntnis. Hatte sich das Subjekt dort noch nicht als Sich-selbst-Identisches gefunden, hat es sich in der Sucht verloren. Wenn die Souveränität des Selbst an die Befreiung des Menschen aus seiner »selbstverschuldeten Unmündigkeit« gebunden ist, dann kündigt sich in der Sucht der Niedergang des autonomen Subjekts an. Der Süchtige ist Sklave seiner selbst.
Was über den Umweg der Geschichte der Subjektivität deutlich werden kann, ist der Zusammenhang, der zwischen der Entstehung der Sucht in der Moderne, ihrer spätmodernen Allgegenwärtigkeit und dem Prozess der Zivilisation besteht. Wie die selbstbewusste Subjektivität so ist auch das Phänomen der Sucht ein Kind der gesellschaftlichen Verhältnisse – und zwar in einem doppelten Sinn: Waren es die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und die mit ihnen einhergehende veränderte gesellschaftliche Stellung des Einzelnen, die zur Entdeckung des Phänomens der Sucht in der Moderne geführt haben, so tragen die gesellschaftlichen Verhältnisse andererseits wiederum zur kollektiven Flucht in die Sucht bei. Dies gilt für die sich im 19. Jahrhundert in der Arbeiterklasse ausbreitende Branntweinepidemie gleichermassen wie für die spätmoderne Allgegenwärtigkeit der Sucht.
Letztere lässt sich als pathologische Antwort auf den »neuen Geist des Kapitalismus« verstehen. Die Sucht ist – wie auch die Depression – die Kehrseite eines in die Eigenverantwortlichkeit entlassenen »unternehmerischen Selbst«. [3] Denn unter den Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung bedeutet der Appell an die Eigenverantwortlichkeit der Individuen, wie er nicht zuletzt dem sozialpolitischen Programm des »Forderns und Förderns« zugrunde liegt, im Ernstfall nicht mehr und nicht weniger als die Privatisierung von Strukturproblemen der Gesellschaft.
Eine solche Individualisierung gesellschaftlicher Konflikte muss den Einzelnen jedoch überfordern. Statt mündiger produziert der Ruf nach Eigenverantwortlichkeit so ihrer selbst müde gewordene Subjekte, die sich dem Diktat der Selbstoptimierung widerstandslos unterwerfen, weil ihnen das, was Sigmund Freud Realitätsprüfung genannt hat, immer weniger gelingt. Die spätmoderne Tragödie ist, dass sich der Einzelne noch dort für seine Misere verantwortlich fühlt, wo er es am wenigsten war, der darüber entscheiden konnte. Von dort aus ist der Weg in die Sucht nicht mehr weit. Der tägliche Griff zur optimierenden Droge ist der Rettungsanker des an seiner eigenen Unzulänglichkeit leidenden Subjekts.
Die Macht des Dionysischen – Rausch und Realität in der Vormoderne
Es ist keinesfalls schon immer selbstverständlich gewesen, dass Nüchternheit das Mass und der Rausch die Abweichung ist, wie es heute erscheint. Nicht dass der Mensch früher immerzu berauscht durch die Welt gegangen wäre, aber der Rausch war ein integraler Bestandteil vormoderner Gesellschaften, während es die moderne Vorstellung von Nüchternheit, die die Soziogenese des Ichs begleitet hat, so noch gar nicht gab. Vor der Einführung der Kartoffel hierzulande war Bier neben Brot das Hauptnahrungsmittel der breiten Bevölkerung – noch bis ins 17. Jahrhundert hinein war Alkohol Genuss- und Nahrungsmittel in einem.Von Anbeginn an stand der rauschhafte Zustand dabei in Verbindung mit der Idee der Transzendierung der Grenzen des Selbst. In ihm zeigt sich ein anderer Bewusstseinszustand, der die Beschränkung des Alltäglichen überwindet und so die Tore öffnet für neue und ganz andere Erfahrungen. Noch die sich heute oft im Zustand der Trunkenheit zeigende Neigung, ausfällig zu werden, die Grenzen anderer sowohl physisch wie psychisch nicht mehr zu achten, lässt sich als Verfallsform jener Aufhebung ichhafter Gebundenheit verstehen. Sie gewinnt dort an Bedeutung, wo dem Einzelnen aufgrund der Internalisierung gesellschaftlicher Zwänge die Affektentladung zunehmend versagt bleibt. In einfachen Gesellschaften waren Rausch und Ekstase hingegen in der Regel eingebunden in rituelle oder religiöse Handlungen, die sich gerade das über die Grenzen des Einzelnen hinausweisende Moment des Rausches zunutze machten. Als heiliger Ritus war der Rausch wie die Konsumtion der Mittel, die ihn hervorrufen, ein öffentliches Phänomen, das nicht zuletzt dem Zweck diente, durch die gemeinsame kultische Erfahrung den Zusammenhalt des Kollektivs zu stärken. Nicht zufällig war neben dem Wirtshaus im Mittelalter vor allem die Kirche der gesellschaftliche Ort an dem Alkohol getrunken und der gemeinsame Rausch als gleichsam sakrales Ereignis zelebriert wurde. [4]Diese Haltung zum Rausch beginnt sich mit Anbruch der Neuzeit zu ändern.
Apollons Sieg über Dionysos oder: Die Ernüchterung der Welt im Schatten der Entstehung selbstbewusster Subjektivität
Die Neuzeit ist eine Zeit rasanter Veränderungen: Industrialisierung, Kapitalisierung und Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols auf der einen, der Bedeutungsverlust von Religion, Familie, Tradition und Herkunft auf der anderen Seite führen zu einer bis dahin unbekannten Freisetzung der Menschen aus traditionellen Abhängigkeitsverhältnissen, in deren Folge der Einzelne eine bis dahin unbekannte und unvorstellbare Bedeutung gewinnt.Die Entwicklungen seit der Neuzeit sind aus soziologischer Perspektive mal als Individualisierung, mal als Rationalisierung und mal als funktionale Differenzierung beschrieben worden. Gemeinsam ist diesen Diagnosen, dass sie in ihrem Zentrum auf ein Individuum verweisen, das durch Internalisierung bisher von aussen bestimmter Verhaltensmaximen über sich selbst Herr geworden ist. Norbert Elias hat dies den »Prozess der Zivilisation« genannt. Dieser geht mit einem individuellen wie kollektiven »Zwang zur Langsicht« [5] einher. Die durch die funktionale Differenzierung, allen voran durch die Optimierung, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gesteigerte Abhängigkeit der Individuen von einander setzt ebenso wie der Prozess der Rationalisierung voraus, dass das zukünftige Verhalten des Einzelnen für ihn selbst wie für die anderen planbar und antizipierbar geworden ist.
Der Mensch muss berechenbar – und das heisst nicht zuletzt nüchtern – geworden sein. Es ist dies die Geschichte der Soziogenese des Ich, an deren Kumulationspunkt sich das bürgerliche Subjekt der Moderne und die Neubewertung des Rausches begegnet. Nicht zufällig beginnt sich der »grosse Ernüchterer« Kaffee, dessen Wirkung sich der Verkaterte auch heute noch gern am Morgen danach zunutze macht, im 17. Jahrhundert rasant innerhalb des Bürgertums auszubreiten. »Die in alkoholischer Benebelung dahindämmernde Menschheit« so lautete Wolfgang Schivelbusch zufolge tatsächlich der Tenor der »Kaffeepropaganda« im 17. Jahrhundert »wird mit Hilfe des Kaffees zur bürgerlichen Vernunft und Geschäftigkeit erweckt«.[6]
Im Mittelpunkt der Soziogenese des Ichs steht die Verwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge. In der Folge bilden sich in jedem Einzelnen Kontrollmechanismen aus, die dazu führen, dass viele Affektimpulse weniger spontan auslebbar sind. Zu den wichtigsten in der Neuzeit entstehenden Kontrollmechanismen zählen das rationale Denken und das moralische Gewissen. Schon Friedrich Nietzsche hat deren Entstehung als Prozess der Verinnerlichung von Herrschaft beschrieben, in deren Konsequenz das Ich eigentlich erst an Tiefe und Gestalt gewinnt. »Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine ›Seele‹ nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Masse auseinander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist.« [7]
Der gleiche Gedanke begegnet auch in der Psychoanalyse: Das Ich gewinnt dort in dem Masse an Bedeutung, wie sich der Einzelne in einem Prozess der Verinnerlichung, an deren Ende die Entstehung des Über-Ichs als Repräsentationsinstanz des gesellschaftlichen Norm- und Wertesystems steht, aus der unmittelbaren Abhängigkeit von der Aussenwelt befreit. Nun ist es nicht mehr die Vaterfigur, sondern das Ich selbst, dem es in der Realitätsprüfung zukommt, über die Rechtmässigkeit der Ansprüche seines Trieblebens, seines Gewissens und der Aussenwelt zu entscheiden.
Aus der Perspektive des Subjekts fällt die Beurteilung dieses Prozesses ambivalent aus: Ohne diesen Prozess hätte sich das Subjekt nicht als Selbst gewinnen können. Alle Freiheit, die es historisch sowohl gegenüber der Natur als auch gegenüber der Gesellschaft erlangt hat, beruht auf der Fähigkeit, »Ich« zu sagen. Darin liegt tatsächlich ein fortschrittliches Moment der Moderne gegenüber der Vormoderne. Aber der Preis, den es dafür gezahlt hat, ist hoch. Historisch war die Soziogenese des Ich nicht mit der Abschaffung des Zwangs, sondern dessen Verinnerlichung verbunden. Wo jedoch an die Stelle äusserer Herrschaft Selbstbeherrschung tritt, da ist immer noch Herrschaft und nicht Freiheit das bestimmende Prinzip.
Die Ernüchterung der Welt in der Moderne und die sie begleitende Entstehung bürgerlicher Subjektivität lassen sich als später Sieg Apollons über Dionysos verstehen. Verkörperte Dionysos bei den Griechen Ekstase und Rausch, so stand Apollon für Vernunft und Selbstbeherrschung. Sie waren göttliche Gegenspieler. Und doch beweist ihr nicht enden wollender Kampf, dass beiden historisch einmal ein Recht zukam. Die Moderne hat einem von beiden dieses Recht streitig gemacht. Mit der Aufklärung sollte das Realitätsprinzip siegen, aus dem das Ich seine Stärke bezog. Aber sie hat nicht mit der List des Unterlegenen gerechnet. Dieser rächt sich, indem er sich zur grössten Gefahr erhebt. Davon berichtet die Entstehungsgeschichte der Sucht.
Dionysos' Rache oder: Von der Entdeckung der Sucht
Für das Ich, das infolge des Prozesses der Zivilisation zunehmend an Bedeutung gewinnt, werden umgekehrt all die Erfahrungen und Realitäten, die es als Infragestellung seiner neu gewonnenen Subjektivität wahrnimmt, zu einer Bedrohung, der es zu entkommen gilt. Was sich in jeder Kindheit als Sieg des Realitäts- über das Lustprinzip wiederholt, ist die Absage des Subjekts an jene bedrohlichen Mächte der Verführung und Auflösung des Ich. Menschheitsgeschichtlich ging die Entdeckung der Autonomie des bürgerlichen Subjekts mit einer gesellschaftlichen Neuinterpretation der Macht und Rolle des Begehrens einher. Für den Philosophen Immanuel Kant lag die grösste Gefahr der Freiheit des Menschen nicht etwa in einer äusseren Gewalt, in einem auf Willkür gründenden Herrschaftssystem oder in einem ungerechten Gesetz.Die grösste Bedrohung seiner Autonomie schlummerte in ihm selbst. Es waren seinen Neigungen und Triebe, das, was Freud später Es genannt hat. Im Rausch potenziert sich diese Gefahr. Nicht nur ist der Rausch konstitutiv mit der Erfahrung der Transzendierung des Ich verbunden. Auch die vom Ich gegen sein eigenes Innenleben installierten Torhüter – seine Vernunft, sein Gewissen, seine Moral – verlieren in Folge der Transzendierung des Selbst im Rausch ihre Macht. Es ist dieser rauschinduzierte Kontrollverlust des Subjekts, auf den noch der juristische Tatbestand der Unzurechnungsfähigkeit verweist. Dass der Rausch in der Moderne seine Akzeptanz als selbstverständlicher Bewusstseinszustand verliert, bedeutet umgekehrt jedoch nicht, dass der moderne Mensch im Durchschnitt weniger Alkohol getrunken hätte.
Auch Opium war das gesamte 19. Jahrhundert über in Apotheken frei erhältlich und sein Konsum weit verbreitet. Gerade das war Teil des Problems. Die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen liessen die anhaltende Konsumtion von Rauschmittel zu einem sozialen Problem ersten Ranges werden, von dem das Selbstverständnis des Subjekts und das Fortbestehen der Gesellschaft gleichermassen betroffen waren. Dem Einzelnen raubte der Rausch mit dem Verlust von Freiheit und Verantwortlichkeit jene Eigenschaften, auf denen seine relative Unabhängigkeit beruhte. Der Gesellschaft hingegen entzog er jene berechenbaren Personen, auf die sich das System der Arbeitsteilung berief. Die gesellschaftliche Antwort auf diese Problemkonstellation war die Pathologisierung des nicht enden wollenden Rausches durch die Entdeckung der Sucht.
Zivilisationsgeschichtlich erweisen sich die Soziogenese des Ich und das wachsende Misstrauen gegen den Rausch so als zwei Seiten der gleichen Medaille. Man verkennt die Bedeutung der Entdeckung des Phänomens der Sucht im ausgehenden 18. Jahrhundert, wenn man sie lediglich als eine neue medizinische Diagnose begreift. Die Einsicht in die abhängig machende Wirkung von Drogen ist streng genommen kein neues, sondern ein ganz anderes Wissen. Sie beruht sowohl ideen- als auch sozialgeschichtlich auf Voraussetzungen, die vor dem Zeitalter der Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht gegeben waren. Das Phänomen der Sucht kann es ohne das bürgerliche Subjekt nicht geben, weil es dessen Freiheit ist, die sich in der Sucht ihrer eigenen Beschränktheit und Vergänglichkeit bewusst wird.
Der gefesselte Schiffslenker oder: Der Konflikt als Modell bürgerlicher Subjektivität
Obwohl die Sucht ideengeschichtlich die dunkle Kehrseite bürgerlicher Subjektivität bildet, war es sozialgeschichtlich gerade nicht das bürgerliche Subjekt, das sich von ihr bedroht fühlte. Sein Ich schien gefestigt genug, um von der Versuchung zu kosten, ohne ihr zu erliegen. Davon zeugen nicht zuletzt die zahlreichen Selbstexperimente bürgerlicher Intellektueller – unter ihnen Charles Baudelaire, Edgar Allen Poe, Walter Benjamin, Sigmund Freud, Ernst Jünger und Aldous Huxley –, von denen Erfahrungsberichte erhalten geblieben sind.[8] Als sozialgeschichtliches Phänomen wurde die Sucht daher auch als Problem der Arbeiterklasse entdeckt, die infolge des die Industrialisierung begleitenden Anstiegs sozialen Elends im 18. Jahrhundert zunehmend dem Branntwein verfiel. Tatsächlich lässt sich eine schichtspezifische Analogie zwischen der Durchsetzung des Kaffees im Bürgertum auf der einen und der Popularität des neu entdeckten Branntweins innerhalb der Arbeiterklasse auf der anderen Seite ziehen – letztere ist die pharmakologische und soziale Inversion des Kaffees. Der Branntwein schafft »in dem Masse neue Qualitäten des Alkoholrauschs, wie der Kaffee neue Qualitäten der Nüchternheit schafft«.[9]Hinter der Selbstsicherheit des bürgerlichen Subjekts verbirgt sich ein Subjektverständnis, das sich im Anschluss an die psychoanalytischen Überlegungen als Konfliktmodell verstehen lässt. In den Augen Freuds ist es der Konflikt zwischen den aus dem Es drängenden Trieben und den im Über-Ich verankerten moralischen Forderungen, in dessen Schatten sich das Subjekt konstituiert. Die Stärke des Ich resultiert dabei aus diesem Konflikt. Sie hängt von der Fähigkeit ab, mit der sich das Ich in ihm behauptet. Das Erstarken des Ich auf der einen und die Herausbildung eines rigiden Über-Ich auf der anderen Seite berichten von dem Prozess der Zivilisation gleichsam aus der Innenperspektive des Selbst. Es ist die Möglichkeit der Umkehrung dieses Prozesses, mit der sich das Subjekt im Zustand des Rausches konfrontiert sieht. Was ihm droht, ist die Regression. Psychoanalytisch lässt sich diese als Wiederkehr des Verdrängten oder als Aufbegehren des Es gegen das Ich beschreiben. Das bürgerliche Subjekt, dessen Sinnbild der an den Masten gefesselte Odysseus ist, vertritt hingegen das entgegengesetzte Prinzip.[10] Er bändigt die Gefahr, in dem er – wie der dem Verderben bringenden Gesang der Sirenen lauschende Odysseus – seine Triebe in Ketten legt. Weil er noch im Rausch dem Postulat, »wo Es war, soll Ich werden« folgt, geht aus der Begegnung mit den Mächten der Auflösung als Sieger hervor.
Zivilisationsgeschichtlich stellte die Psychoanalyse zuvorderst eine Kränkung bürgerlicher Subjektivität dar, insofern sie bestritt, dass das Ich Herr im eigenen Hause ist. Nichtsdestotrotz beruht auch Freuds Funktionsbestimmung des Ich, dem nicht nur die Vermittlung zwischen den Ansprüchen der Aussen- und Innenwelt zugemutet wird, sondern das in der Realitätsprüfung auch noch über die Berechtigung der Ansprüche auf Triebbefriedigung einerseits und Triebverzicht andererseits entscheiden soll, auf einer in der Moderne entstandenen Verbindung von Souveränität und Subjektivität.
Retrospektiv erweist sich Freuds Subjektivitätsmodell als der Spiegel einer Gesellschaft, in der dem Leitbild bürgerlicher Selbstbestimmung gesellschaftliche Verhältnisse gegenüberstehen, in denen ein relativ rigider Sittenkodex, eine auf Disziplinierung zielende Erziehung und eine auf Pflichterfüllung und Unterwerfung ausgerichtete Arbeitsdisziplin zu einem System sozialer Kontrolle zusammengeschlossen waren, denen sich der Einzelne zu unterwerfen hat. Zog das Ich seine Stärke aus dem Leitbild bürgerlicher Souveränität, so war das System sozialer Kontrolle für die Härte des Über-Ichs verantwortlich. Auch die gelegentliche Flucht bürgerlicher Intellektueller erklärt sich zumindest ein Stück weit aus dieser Konstellation, erlaubte doch der von Meskalin und Haschisch ausgelöste Rausch der Enge und Härte der eigenen bürgerlichen Existenz wenigstens für einen Moment lang zu entfliehen.
Diese Zeiten sind jedoch – wird soziologischen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte Glauben geschenkt – vorbei.
Die Tragödie des Narziss oder: Von der Pharmakologisierung des Alltags
Es weht ein neuer Wind im Kapitalismus, der von den Einzelnen nicht mehr oder wenigstens nicht mehr ausschliesslich Unterwerfung und Pflichterfüllung fordert, sondern der zunehmend nach Kreativität, Eigenverantwortung und Autonomie verlangt. Michel Foucault hat das als Übergang von der Disziplinierung zur Regierung durch Selbstführung beschrieben. Das Schwinden der Regulierungskraft der Disziplinarmächte hinterlässt ein Individuum, das scheinbar sich selbst überlassen wird – realiter aber durch eine politische Praxis der Führung zur Selbstführung aktiv dazu angehalten ist –, die Gestaltung seiner selbst wie seines Lebens in die Hand nehmen muss. Dabei steht es vor dem Problem, dass es sein Ziel nie wirklich erreichen kann.Persönliche Entfaltung, Selbstoptimierung und unternehmerisches Handeln sind prinzipiell unabschliessbare Projekte. »Werde, wer Du bist!«, dient hier als paradoxer Leitspruch.[11] Hat die Führung zur Selbstführung prinzipiell zwei Gesichter – sie fördert und fordert Autonomie –, weisen sie, wo sie zusammenwirken, in eine eindeutige Richtung: Weil man nie genug man selbst sein kann, droht das Leitbild zugleich zum Schreckbild zu werden. Dem Diktat fortwährender Selbstoptimierung ist keine Grenze gesetzt ausser die der eigenen Kraft. Ist von dort aus der Weg zur Medikalisierung des Selbst nicht mehr weit, so markiert dies zugleich den Punkt, an dem die konsequente Fortführung der die Soziogenese des Ich begleitende Verwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge in sein genaues Gegenteil umzuschlagen droht.
Zivilisationsgeschichtlich ist es gerade der Prozess der Internalisierung von Zwängen gewesen, von dem das souveräne Subjekt seinen Ausgang genommen hat. Die Autonomie des bürgerlichen Subjekts beruhte auf der Unabhängigkeit von unmittelbarem Zwang. Aber die Macht der Gesellschaft blieb für das Subjekt dennoch spürbar – was innerpsychisch durch das Über-Ich repräsentiert war, hatte seine Entsprechung in einer gesellschaftlichen Ordnung, die aller relativen Autonomie des Subjekts zum Trotz auf Disziplinierung, Kontrolle und Zwang beruhte. Nicht dass der gesellschaftliche Zwang in der Spätmoderne verschwinden würde, aber er droht unsichtbar zu werden. So bewegt sich der, zumindest in den westlichen Gesellschaften zunehmend verbreitete, neue kapitalistische Regierungsmodus gerade im Medium der Freiheit. Doch dies ist keineswegs die Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will. Stattdessen soll durch das Medium der Freiheit hindurch ein auf sozial verantwortlicher Eigeninitiative basierendes gesellschaftliches Relationsmuster etabliert werden, in deren Zentrum der tendenzielle Übergang von der öffentlichen zur privaten Sicherheit steht.
Was das bedeutet, wird in der Übertreibung deutlich: In Zukunft muss niemand mehr kranken-, arbeitslosen- oder pflegeversichert sein, er muss auch nicht zur Schule gehen und wird auch nicht wie zu Beginn des 18. Jahrhunderts zur Arbeit gezwungen. Aber wenn er auf der Strasse lebend Hunger, Kälte und Schmerz erleidet, weil man in dieser Gesellschaft nicht überleben kann ohne Bildung und Arbeit, dann hat er sich dieses Schicksal selbst zuzuschreiben und muss auch allein die Verantwortung dafür übernehmen. In der Spätmoderne gibt es kaum Lebensmöglichkeiten, die nicht zur Wahl stehen und über die der Einzelne nicht entscheiden muss. Weil die Gestaltung ihres Lebens so in immer weiterem Umfang in den Händen der Subjekte zu liegen scheint, werden auch ungewollte Schicksale nicht als Ausdruck der Strukturprobleme der Gesellschaft, sondern als Konsequenz falscher Entscheidungen wahrgenommen. Schon heute bleibt etwa der Massencharakter der Arbeitslosigkeit ein statistischer Vermerk, dem keine Erfahrung entspricht. Gewissermassen entgegen besseren Wissens erscheint den Betroffenen ihr Schicksal als selbst verursacht. Ulrich Beck hat diesbezüglich einmal von der »Zerschlagung [eines kollektiven Erfahrungshorizonts] ins Persönliche« [12] gesprochen.
In der Härte der Formulierung deutet sich bereits die Härte der ihr entsprechenden Wirklichkeit an. Denn eine solche Individualisierung der Verantwortlichkeit, die den Einzelnen tatsächlich zum Schöpfer seiner selbst wie der gesellschaftlichen Situation, in der er sich befindet, erklärt, muss den Einzelnen notwendig überfordern, weil sie ihm die Bürde für Verhältnisse anlastet, die sich seiner Macht entziehen. Nicht obwohl, sondern gerade weil sich der gegenwärtige Vergesellschaftungsmodus auf die Autonomie und Verantwortlichkeit der Subjekte beruft, trägt er, statt das Subjekt zu stärken, systematisch zu seiner Schwächung bei. Alain Ehrenberg hat diesbezüglich von dem erschöpften Selbst der Spätmoderne gesprochen. Günther Amendt nennt es ein Selbst, dem ohne Pillen die Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr gelingt.[13] So erweist sich die spätmoderne Allgegenwärtigkeit der Sucht als Kehrseite einer Gesellschaft, die – wie es die »eiserne Lady« des Neoliberalismus Margaret Thatcher zu sagen pflegte – keine Gesellschaft, sondern nur Individuen kennt.
Einst war es gerade der Konflikt zwischen den eigenen und den im Über-Ich aufgehobenen, gesellschaftlichen Regeln, an denen sich das Ich als Ich formte und durch den es seine Stärke gewann. Dem modernen Selbst stand es in der Folge zumindest prinzipiell offen, die Ursache seines Leidens bei sich selbst oder bei der Gesellschaft zu suchen. In der Spätmoderne nimmt das Subjekt die gesellschaftliche Begrenzung seiner Handlungsmacht hingegen nicht mehr als gesellschaftliche Versagung, sondern als eigenes Versagen wahr.
An die Stelle des Leidens an dem gestrengen Über-Ich ist das Gefühl, nicht auf der Höhe seines Ich-Ideals zu sein, getreten. Wo jedoch der Einzelne einzig dem Schatten seines eigenen Selbstbildes hinterherjagt, ohne dass dabei die gesellschaftliche Präformierung dieses Bildes in den Blick gerät, da kündigt sich der Niedergang des modernen Subjekts an. Alain Ehrenberg hat das im Anschluss an die Psychoanalyse als Übergang vom Konflikt- zum Defizitmodell der Subjektivität beschrieben – ein Übergang der auch gesellschaftspolitisch weitreichende Folgen hat: Das in der Gegenwart häufig als Schwinden des Politischen diagnostizierte Ausbleiben gesellschaftlicher Konflikte, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Kehrseite eines Subjekts, das immer nur die eigene Unzulänglichkeit verspürt.
Denn wo es so scheint, als wäre der Einzelne selbst für das Ideal verantwortlich, das zu erfüllen ihm nicht gelingt, da ist es nicht länger die Gesellschaft, sondern der Einzelne selbst, der sich ändern muss. Und die Mittel dazu stellt ihm die Gesellschaft gern bereit: Prozac – das euphorisierende Antidepressivum, Viagra – die Pille der ewigen Lust und Ritalin – der Stoff, der nicht enden wollende Konzentrationsfähigkeit verspricht, sind die gesellschaftliche Antwort auf diesen kollektiven Gemütszustand.
Auch diese Entwicklung hat ein mythisches Vorbild: Es ist die Differenz zwischen Ödipus und Narziss. Sie stehen für die Differenz des modernen und spätmodernen Unbehagens an der Gesellschaft. Ödipus blendet sich am Ende selbst, weil er gegen die moralischen Grundfesten seiner Gesellschaft gehandelt hat: Ohne sein Wissen hatte er den Vater getötet und Inzest mit der Mutter betrieben. Narziss hingegen kennt keine Gesellschaft. Oder anders gesagt, in seiner krankhaften Selbstbezogenheit wird ihm die ganze Gesellschaft zum Spiegel seiner selbst. Ödipus und Narziss sind beide tragische Gestalten. Während Ersterem jedoch wenigstens die Einsicht in die Tragödie seines Seins gelingt, stürzt sich Letzterer besinnungslos auf der Suche nach seinem eigenen Selbst in den Tod.
Nun stürzt sich das spätmoderne Subjekt zwar nicht buchstäblich in den Tod, aber mit dem Griff zur optimierenden Droge narkotisiert es sein Selbst. Es ist ein geschwächtes Selbst, das sich der Sucht hingibt und die Sucht trägt ihrerseits ihren Teil zur Schwächung dieses Selbst bei. Darin liegt der Trug des narzisstischen Glücksmoments, das Drogen wie Kokain, Prozac oder Ritalin versprechen. Anstatt ihm zu helfen, führen sie die Zerstörung fort, die die Gesellschaft an seinem Selbst begonnen hat.