UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Recht auf Stadt

274

Ein Gespräch mit Niels Boeing Recht auf Stadt

users-677583-70

Gesellschaft

Niels Boeing ist Journalist und als Mitglied u.a. von SOS St. Pauli aktiv im Hamburger Netzwerk Recht auf Stadt. 2011 erschien von ihm "Alles auf null. Eine Bestandsaufnahme zum Leben im Kapitalismus in 99 Thesen" bei Edition Nautilus.

Rote Flora in Hamburg.
Mehr Artikel
Mehr Artikel
Bild vergrössern

Rote Flora in Hamburg. Foto: Hinnerk11 (CC BY-SA 4.0 cropped)

Datum 15. März 2014
1
0
Lesezeit9 min.
DruckenDrucken
KorrekturKorrektur
GWR: Lass uns mal die Scheinwerfer anschmeissen, um über die aktuellen Auseinandersetzungen um Rote Flora, Essohäuser, Lampedusa-Flüchtlinge, das Hamburger Gefahrengebiet sowie die Rolle der Medien-Öffentlichkeiten und die Perspektive des Recht-auf-Stadt-Netzwerks zu sprechen, in dem du aktiv bist. Stell doch bitte zuerst mal das RAS-Netzwerk vor.

Niels Boeing: Das Hamburger Netzwerk hat sich im Sommer 2009 aus gut 20 recht unterschiedlichen Gruppen gegründet. Der gemeinsame Nenner war damals, dass viele die Schnauze von der Gentrifizierung [1] voll hatten, aber die nicht einfach nur kritisieren wollten.

Verschiedene Leute brachten damals den Gedanken eines "Rechts auf Stadt" von Henri Lefebvre ein, der von der Frage ausgeht: Wem gehört die Stadt? Worauf haben sie ein Recht? Lefebvre hat dies 1967 in seinem Buch "Le droit à la ville" skizziert. Zwar nicht als geschlossene Theorie, aber er beschreibt das Recht auf die Stadt als Recht auf Teilhabe, an dem, was in der Stadt produziert wird, oder als Recht auf Zugang zur Stadt, dass gerade vielen Flüchtlingen verwehrt wird.

Lefebvre brachte dabei schon Begriff der "Autogestion" ins Spiel, der sich sehr frei vielleicht so übersetzen lässt: Wir "regieren" uns als Stadtbewohner_innen einfach selbst.

In den letzten acht Monaten ist eine Menge passiert, die den Ruf nach einem "Recht auf Stadt" wieder lauter werden lässt: Die Proteste im Gezi Park in Istanbul führten zu Soli-Aktionen im Park Fiction, einem öffentlichen, von den Anwohner_innen erkämpften Park am Hafen, es gab heftige Proteste in Altona gegen Polizeikontrollen, die in racial-profiling-Manier abliefen, dann natürlich die Flüchtlingsgruppe Lampedusa in Hamburg. Sie hat viele Leute mobilisiert und auch klar gemacht, dass das Recht auf Stadt nicht nur eine Angelegenheit von Leuten sein kann, die Zeit für Aktionen haben und sich gut artikulieren können, dass es wirklich für alle erstritten werden muss. Dazu kamen noch die Räumungsdrohung gegen die Rote Flora und die "Evakuierung" der von den Eigentümern systematisch heruntergewirtschafteten Esso-Häuser an der Reeperbahn.

GWR: Demnächst sind in Hamburg Bezirkswahlen. Da bestünde doch die Möglichkeit, eine Recht-auf-Stadt-Liste oder eine Regenbogenliste, also eine offene Initiativen-Liste ähnlich der bunt-alternativen Liste, die es hier in den Achtziger Jahren schon einmal gegeben hat, aufzustellen. Wäre das eine Option?

Niels Boeing: Nein. Darüber gibt es einen grossen Konsens. Recht auf Stadt hat sich von Anfang an als ausserparlamentarische Bewegung verstanden. Die Stadtbewegung Irlekulanu in Tel Aviv ist ein gutes Beispiel, dass eine parlamentarische Strategie nicht aufgeht: 2008 mit eigener Liste angetreten, holten sie aus dem Stand 18 Prozent der Sitze im Stadtparlament und mussten dann im parlamentarischen Alltag doch erkennen, dass sich wenig umsetzen lässt, wie mir zwei Aktivistinnen aus Tel Aviv berichtet haben.

GWR: Ich kann die Kritik an den Abläufen im parlamentarischen System nachvollziehen. Aber wer entscheidet heute konkret über stadtplanerische Entwicklungen? Wer bestimmt, wo was gebaut wird? Und was kann man dem an emanzipatorischer Stadtentwicklungspolitik entgegensetzen?

Niels Boeing: Zunächst sollten wir noch einmal schauen, in welchem Kontext wir über Stadtentwicklung reden. Es gibt das informelle Konzept, Hamburg als Unternehmen zu betrachten.

Die Stadt verortet sich seit Jahren im Metropolenwettbewerb, wie viele andere Millionenstädte auch. Also werden bestimmte Stadtteile wie Business-Units behandelt, wie es ein Konzern auch machen würde. St. Pauli ist für das Unternehmen Hamburg ein Entertainment-Unit, in dem sich noch einiges optimieren lässt, wo noch "Kernkompetenzen" herausgearbeitet werden können, die in der Musical-Kultur oder in der gehobenen Gastronomie gesehen werden.

Eine ähnliche Zurichtung ist auch in Wilhelmsburg zu erkennen. Die Internationale Bauausstellung oder die Internationale Gartenschau dienten dazu, diesen Stadtteil an die innerstädtischen Filetstücke heranzubringen, ihn zum "Schöner Wohnen" auf der grössten Flussinsel Europas zu entwickeln. Auch das wurde dem Stadtteil von oben verordnet. Ähnlich war es in Altona mit der Ansiedlung von IKEA.

GWR: Gerade was die Ansiedlung der IKEA-Kiste betrifft, hat es doch einen Volksentscheid gegeben, der aber verloren wurde.

Niels Boeing: Ja, aber es gab zwei Bürgerbegehren. In dem Begehren pro IKEA hat eine Mehrheit dafür gestimmt, richtig, aber das Begehren contra IKEA fand erst gar nicht mehr statt, weil die Bezirksversammlung Altona einen Verfahrenstrick anwandte. Auch wurde bezirksweit abgestimmt, was unsinnig war.

Volksentscheide sind nicht die Lösung. Wir müssen vielmehr in einer ersten Etappe dahin kommen, dass die Stadtteile sich in Teilen selbst verwalten, mindestens ihre Bebauungsplanung in die eigene Hand nehmen können. Sie brauchen eigene Stadtteilversammlungen, die dann Delegierte in die Bezirksversammlung schicken.

Man würde also für den Anfang auf der untersten Ebene ein Rätesystem einführen. Natürlich müsste dieses Rätesystem auch erst einmal eingeübt werden, es würde nicht verhindern, dass sich die Leute vielleicht genauso die Köpfe einschlagen wie im parlamentarischen System. Aber es wäre ein Anfang, dieses verkrustete, kaputte parlamentarische System, das wir haben, von unten aufzubrechen.

GWR: Jetzt gilt es doch auch, mehr Menschen für den Kampf um ein selbstbestimmteres Leben zu gewinnen. Wie könnten sich also Menschen, die mit der Stadtentwicklung nicht zufrieden sind, bei euch engagieren? Welche Möglichkeiten des Mitmachens gibt es?

Niels Boeing: Recht auf Stadt versteht sich als Netzwerk und nicht als Bündnis, weil wir unsere Strukturen offener lassen wollen.

Neue Gruppen, Initiativen auch Einzelpersonen können dazukommen, was übrigens rund 30 Gruppen seit 2009 gemacht haben. Die Initiativen unterstützen sich dann oft auch gegenseitig. Aber man muss die Initiative vor Ort erst einmal selbst ergreifen, mit Nachbar_innen und Freund_innen.

Recht auf Stadt ist keine klassische politische Organisationen, die stellvertretend für andere etwas bewegt. Wobei es nach fast fünf Jahren durchaus sinnvoll wäre, öfter auch selbst als Akteur aufzutreten.

GWR: Wie offen sind denn jetzt die Initiativen? Die musikalische Clubszene - ich selber lege ja in der Molotow-Bar auf - fühlt sich von den Diskussionen in der politischen Szene nicht angezogen, die haben andere Probleme: Die müssen einen Club füllen, Bands buchen, Thekenschichten organisieren, ... - und die Initiativen sagen dann, das sei kapitalistisch, das sei Ausbeutung. Da klafft doch eine grosse Lücke?

Niels Boeing: Es gibt in den Initiativen unterschiedliche Grade der Radikalität, wie man dieses Thema Recht auf Stadt als Gegenbewegung zum Kapitalismus versteht. Aber Illusionen sollte sich niemand machen: Wer sich eine Möhre im Supermarkt kauft, ist auch Teil des Kapitalismus. Es geht vielmehr darum, wer welche Rolle in der Stadtentwicklung spielt, wer mit der Politik welche Deals macht. Da gibt es dann auch schon mal Kritik an der Clubszene, zurecht, wie ich finde.

GWR: Noch einmal: Wie schafft man es, dass sich mehr Menschen trauen, sich konkret zu beteiligen? Meine Beobachtung ist, dass ich eine Szene sehe, die sich sehr intensiv und bis zum Anschlag engagiert. Das sind zu wenige. Wieso ist der Widerstand oder das Widerständige nicht grösser?

Niels Boeing: Zum einen muss man ehrlich feststellen, dass sich mit auch noch so phantasievollen oder entschlossenen Aktionen nicht automatisch eine Gegenposition durchsetzen lässt. Das zermürbt manche. Dann gibt es viele Leute, die sich mit prekären Jobs herumschlagen, da reichen Kraft und Zeit einfach nicht mehr. Andererseits beobachte ich auch, dass sich immer mehr Menschen politisieren. Leute, die noch vor Jahren noch gesagt hätten, Politik sei nichts für sie. Die waren plötzlich auch auf der Strasse für die Lampedusa-Flüchtlinge, oder neulich gegen das Gefahrengebiet, dass die Hamburger Polizei über 80.000 Menschen verhängt hatte. Die gingen mit der Klobürste raus, machten jede Nacht "Stadtteilspaziergänge". Das verbreitete sich schnell, gerade auch im Netz, so dass die regionalen Medien sich dem irgendwann nicht mehr entziehen konnten.

GWR: Warum haben die Hamburger Zeitungen und Radiosender, von Radio FSK mal abgesehen, den Skandal des Aufstockens der ersten Demonstration am 21.12.2013 so gar nicht reflektiert? Die Presseinformationen der Polizei wurden ja eins zu eins abgeschrieben, ohne dass selbst vor Ort recherchiert wurde.

Niels Boeing: Ich habe den Eindruck, dass dpa solche Berichte schon in einer Art Formular vorrätig hat, da müssen sie nur noch eintragen, so viele Demonstrant_innen versammelten sich, so viele Polizisten wurden verletzt, so viele Böller explodierten. Die anderen Medien, inklusive der bürgerlichen "Qualitätsmedien", übernehmen das einfach in ihren Online-Meldungen.

GWR: Wie kann das sein?

Niels Boeing: Das hat zum einen sicher damit zu tun, dass die Printmedien seit Jahren ausbluten, da werden Redaktionen ausgequetscht und auf Effizienz getrimmt, dass es nur so raucht. Aber es gibt eben auch den bürgerlichen Konsens, das Behauptungen der Polizei stimmen, da wird nicht mehr gegenrecherchiert. Das sind längst Verhältnisse wie in einer Bananenrepublik.

GWR: Wie reagiert man auf die Aufrüstung der Polizei? Haben sich die Demonstrationsrituale überlebt? Macht es noch Sinn, auf eine Demo zu gehen, so wie es der in Anführungsstrichen Schwarze Block vorgemacht hat?

Niels Boeing: Wir müssen uns mehr Gedanken machen, welche Aktions- oder Protestform wann am sinnvollsten ist, den Protest strategischer planen. Ich finde hierfür die Arbeiten von Gene Sharp sehr interessant, der mit seinen 198 "methods of non-violent action" systematisch untersucht hat, wie man gewaltfrei undemokratische Verhältnisse beseitigen kann. Sharp unterscheidet Protest, Nicht-Kooperation und Intervention. Dazu gehören natürlich auch militante Aktionen, die massive Störungen verursachen. Aber er warnt davor, sich mit Polizeikräften, die immer besser ausgerüstet sein werden, direkt zu messen.

Ich fand es ganz hübsch zu sehen, wie der Protest gegen das Gefahrengebiet und die Reaktion der Polizei auf diesen Protest dazu führten, dass der Tourismus auf der Reeperbahn nachliess. Mit unangemeldeten Spaziergängen lässt sich die Cash Cow des Hamburger Tourismus also schon stören. Über solche Störungen müssen wir jetzt mehr nachdenken. Das ist vielleicht die Lektion aus diesen letzten Wochen - dass ein klassisches Demonstrieren nicht mehr reicht, ebenso wenig wie Appelle an die Politik.

KP Flügel / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 387, März 2014, www.graswurzel.net

Fussnoten:

[1] "Die Gentrifizierung (von englisch gentry 'niederer Adel'), ebenso Gentrifikation (von englisch gentrification), ist ein Begriff aus der Stadtsoziologie, der den sozioökonomischen Strukturwandel bestimmter grossstädtischer Viertel im Sinne eines Anstiegs von Wohnpreisniveau und Kaufkraft beschreibt. Parallel vollzieht sich ein Austausch der Wohnbevölkerung durch Abwanderung ärmerer und Zuzug wohlhabenderer Bevölkerungsgruppen." (Wikipedia)