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Rotwein oder Traubensaft?

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Über den politisierten Konsum und Nicht-Konsum von Alkohol und Drogen in der Geschichte sozialer Bewegungen Rotwein oder Traubensaft?

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Gesellschaft

Es dürfte viele geben, die Drogenkonsum und Politik als zwei von einander beinahe gänzlich entkoppelte Dinge ansehen.

Die Hardcore Punk-Rock Band «Minor Threat», welche den Kult-Song «Straight Edge» hervorbrachten, an einem Gig im Wilson Center in Washington, D.C. am 1. Mai 1981.
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Die Hardcore Punk-Rock Band «Minor Threat», welche den Kult-Song «Straight Edge» hervorbrachten, an einem Gig im Wilson Center in Washington, D.C. am 1. Mai 1981. Foto: Malco23 (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

Datum 10. Juli 2015
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Es gab und gibt jedoch auch Stimmen, die das Gegenteil behaupten und entweder, wie derzeit die hedonistische Technolinke, die Vorteile des Drogenkonsums in höchsten Tönen besingen oder wie Straight Edger_innen auf die negativen Begleitumstände desselben hinweisen und ihn gleich ganz in Bausch und Bogen verdammen. Beide Standpunkte können dabei auf lange Traditionen zurückblicken, die im Folgenden nachgezeichnet und gleichzeitig kritisch betrachtet werden sollen. Die zentrale Frage dabei ist, ob und inwiefern der Konsum bzw. Nicht-Konsum von Drogen politisch sein kann.

Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte

Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann eine Temperanzbewegung, die sich später manchen Ortes zu einer regelrechten Prohibitionsbewegung auswuchs, viele Argumente von Straight Edge vorwegzunehmen. Die Argumente der Gegenseite klangen damals bereits nicht viel anders als die Stimmen all jener, die auch heute gerne von »Lustfeindlichkeit« und »Verzichtsethik« sprechen. Dabei waren die Argumente auf beiden Seiten so vielfältig wie die sozialen Milieus, aus denen sie hervorgebracht wurden. So war ein Grossteil der Feindschaft zum Alkohol religiös-pietistisch – heute würden wir wohl »fundamentalistisch« sagen – motiviert und sah das Saufen als Sünde oder zumindest als Katalysator für sündiges Verhalten an. So sind zum Beispiel die Urväter der ersten Temperanzbewegung im Irland der 1830er Jahre, der katholische Pfarrer Theobald Mathew und der presbyterianische Priester John Edgar, beides Männer der Kirche. Diese Tendenz lässt sich für alle geographischen Schwerpunkte der Bewegung, namentlich die Britischen Inseln, Skandinavien und die Schweiz, feststellen. Die Temperanzbewegung war Teil eines allgemeinen Aufschwungs christlich-religiöser Erweckungsbewegungen beiderseits des Atlantiks, der auch in der verstärkten Missionstätigkeit in den Kolonien in Afrika und Fernost seinen Ausdruck fand.

Es gab jedoch auch in der Arbeiter_innenbewegung eine alkoholkritische Strömung, der es keineswegs um Sünde ging. Stattdessen wurde kritisiert, dass die proletarische Kneipenkultur die Arbeiter_innenklasse von der sozialen Revolution abhielt und gleichzeitig die ohnehin schon elende Lage vieler Familien aufgrund des regelmässigen Versaufens des Lohns durch den für gewöhnlich männlichen Familienvorstand oft noch drastisch verschlechtert wurde. Als dritte Strömung schliesslich lässt sich die feministische Temperanz- und Prohibitionsbewegung nennen, die schon früh auf den männerbündlerischen und patriarchalen Charakter der Saufkultur hinwies und ebenfalls die sozialen Folgen derselben im Blick hatte.

Auf der anderen Seite hingegen, also dort wo der Konsum von Alkohol legitimiert oder auch glorifiziert wurde, lassen sich vor allem zwei Hauptargumente finden. Das eine ist im schlimmsten Sinne des Wortes konservativ, das andere durchaus vertretbar. Das konservative Argument ist das noch heute immer wieder in diversen Kontexten geäusserte »Es war schon immer so« oder alternativ auch »Das gehört halt dazu«, mit dem bis heute am Stammtisch auch noch die letzte rassistische oder sexistische Kackscheisse legitimiert wird. Unterstützenswert hingegen war die Kritik, dass die Temperanz- und vor allem die christlich-religiös motivierte Prohibitionsbewegung sich nur vordergründig gegen den Alkohol, eigentlich jedoch gegen den urbanen, modernen und kosmopolitischen Lebensstil als Ganzen stellten.

Für viele Menschen erschien die Forderung nach Einschränkung oder Verbot des Alkoholkonsums wie ein Schlag sozialkonservativer Kreise gegen etwas, das ihnen in einer Gesellschaft, die von Ausbeutung und Unterdrückung geprägt und im Grunde nur schwerlich zu ertragen war, wenigstens ein wenig Freude und Frohsinn bescherte. Ausserdem fungierte das kollektive Besäufnis in der Kneipe oder anderswo als Gemeinschaft stiftendes Ereignis, dessen Integrationskraft nicht zu unterschätzen ist: In einer Welt, die durch Industrialisierung, Landflucht und Vereinzelung aus den Angeln gehoben schien, in der traditionelle Muster und Strukturen, Feste und Rituale an Wirkmächtigkeit massiv eingebüsst hatten, war es eine Art Kitt, der die urbane Gesellschaft als Ganzes, aber auch die Arbeiter_innenmilieus im Speziellen ein Stück weit zusammenhielt. So stellte auch der Sozialdemokrat Karl Kautsky um 1890 fest: »Das einzige Bollwerk der politischen Freiheit des Proletariats, das ihm so leicht nicht konfisziert werden kann, ist das Wirtshaus.«

Genau diese Argumente finden auch später ihren Widerhall in den zahlreichen den Rausch bejahenden sub- und gegenkulturellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts: bei Punk genauso wie bei der Harlem Renaissance, bei Walter Benjamin wie bei The Grateful Dead, ebenso wie bei den Beatniks oder dem Second Summer of Love des Acid House. Was all diese Bewegungen jedoch vom Widerstand gegen Temperanz und Prohibition unterscheidet, ist zum einen die sehr banale Tatsache, dass es bei ihnen nie nur um Alkohol, sondern immer auch um andere Substanzen ging, zum anderen aber auch das Moment der Utopie, das bei ihnen stets eine Rolle spielte. Für sie alle war der Rausch – mal im Kollektiv, mal alleine und zurückgezogen begangen – eine Art Türspalt, durch die ein Schimmer einer möglichen besseren Welt hindurchschien. Nicht ganz zufällig sprach Aldous Huxley in Bezug auf LSD von den Doors of Perception, den Pforten der Wahrnehmung, die auch die Band The Doors zu ihrem Namen inspirierte. Der Rausch wurde als Mittel und Weg gesehen, für einen Moment die Utopie beim Schopfe zu ergreifen und wenigstens eine Ahnung davon zu erlangen, wie sich eine freiere Gesellschaft, ein freieres Leben anfühlen könnten.

Für einen Teil der afroamerikanischen Bevölkerung vor allem der Grossstädte des Nordens, deren Grosseltern oder Urgrosseltern noch in Sklaverei lebten, war das Kiffen und das Tanzen zu Jazz und Swing ein Moment gelebter Befreiung. Es war ein symbolischer Akt des Kettenabschüttelns. Über Jahrhunderte hinweg hatten nur die Weissen gefeiert. Jetzt endlich waren die zuvor Unterdrückten an der Reihe. Dass dieser Akt der Befreiung auf andere, die sich von der Gesellschaft ausgestossen oder nicht akzeptiert fühlten, äusserst anziehend wirkte, ist nachzuvollziehen. So waren mit Allen Ginsberg und William S. Burroughs mindestens zwei der HauptvertreterInnen der Beat Generation, die sich in Jazzclubs herumtrieb und den Drogen ausgesprochen zugeneigt war, schwul und damit in anderer Form aber doch ähnlich wie die von Rassismus betroffenen Afroamerikaner_innen von systematischer Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen.

Die hipsters der Beat Generation wiederum waren einer der Haupteinflüsse dessen, was heute völlig unzureichend unter dem stark verharmlosenden Begriff Flower Power subsummiert wird. Auch hier war das Moment der Utopie von entscheidender Bedeutung. Nicht zufällig gehörten LSD, Meskalin und Marihuana genauso dazu wie Mao, Ché und Ho Chi Minh. Das Experimentieren mit neuen Wohnformen wie Kommune und WG oder auch das Konzept der Freien Liebe waren im Grunde nur andere Ausprägungen desselben Phänomens. Bei allem war die entscheidende Motivation jene, die als bedrückend oder unterdrückend verstandenen und empfundenen Verhältnisse aufzubrechen und die Utopie ein Stück weit ins Hier und Jetzt zu holen. In den zwei Deutschlands und in Österreich kam dazu noch der Wille der Abgrenzung von der Eltern- und Grosselterngeneration, deren Verstrickung in den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen eines der Hauptthemen der jeweiligen Student_innenbewegungen war.

Schmerzen mit Promille vertreiben

Ein Blick auf die Debatten der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit führt nahezu zwangsläufig auch zu der Fragestellung, wie die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt haben und welche Rolle der Konsum von Drogen denn heute eigentlich spielt. Zunächst fällt dabei natürlich ins Auge, dass auch heute noch so ziemlich alles, was falsch sein kann, auch weiterhin falsch ist. Noch immer sind es Staat, Nation, Kapital und Patriarchat, die die Subjekte zwar im doppelten Sinne frei machen, aber gleichzeitig abweichendes Verhalten sanktionieren und unsere Leben nachhaltig beschädigen. Noch immer herrscht ein Zwang zu Lohnarbeit und Selbstverwertung, und noch immer ist ein Ausserhalb weder vorhanden noch in Sicht. Schlimmer noch glauben heute grosse Teile der Bevölkerung nicht einmal mehr an die Möglichkeit dieses Ausserhalb und sehen keinerlei Möglichkeit der Überwindung des Bestehenden in Richtung einer freieren Gesellschaft. Stattdessen affirmieren sie entweder die herrschenden Verhältnisse oder ergehen sich in Anrufungen eines starken Staates oder wahlweise auch anderer Autoritäten, zu deren Aufgabe die Behebung vorhandener Missstände erklärt wird.

Utopien im Sinne von Visionen von vernünftig eingerichteten Produktionsweisen und Gesellschaftsordnungen sind also weiterhin wichtig und vielleicht sogar wichtiger denn je, da selbst die Vorstellung, es könnte auch noch anders gehen, im Verschwinden begriffen ist.

Wenn also hedonistische Linke auf Technopartys oder Punkkonzerten versuchen, für einen Moment aus dem Bestehenden auszubrechen und in Tanz und Feierei die »freiwillige Assoziation freier Menschen« zu leben, dann hat das durchaus politische Relevanz. Das Problem jedoch ist, dass bei aller guten Absicht, bei allen guten Vorsätzen, dieses kurzfristige Ausleben der Utopie im »Ferienkommunismus« oder anderswo nur bedingt funktionieren kann, wenn es im Kern die bestehenden Verhältnisse reproduziert. Der Konsum von Drogen – wozu in diesem Falle explizit auch Alkohol zählt – reproduziert auf ökonomischer Ebene Ausbeutungsverhältnisse und führt auf zwischenmenschlicher Ebene viel zu oft zu Unfähigkeit oder Unwillen, die eigenen Grenzen oder die Grenzen anderer wahrzunehmen und zu respektieren. Grenzverletzungen, Übergriffe und sexualisierte Gewalt sind allzu oft die Folge, und daran wird sich auch nichts ändern, solange Patriarchat und heteronormative Geschlechterrollen genau derlei Verhalten hervorbringen und fördern. Vor allem aber sind durchfeierte Wochenenden mittlerweile fest eingeplanter Teil der Reproduktion der eigenen Arbeitskraft. Was am Wochenende auf linken Solipartys oder Crustkonzerten passiert, ist bestenfalls graduell anders als das, was sich in Grossraumdiscos und Kleinstadtkaschemmen abspielt.

Die Verhältnisse, unter denen wir leben und arbeiten, sind im Grunde menschenfeindlich und nicht zu ertragen, da sie uns zu blossen Bestandteilen kapitalistischer Ausbeutungsprozesse degradieren. Das spüren nicht nur linke Hedonist_innen. Das spüren auch fast alle anderen. Lediglich die Antworten und Reaktionen auf die von fast niemandem als befriedigend empfundenen Verhältnisse sind unterschiedlich. Die einen erkennen deren Ursachen in den Funktionsmechanismen des Kapitalismus. Die anderen halten sie wahlweise für unabänderlich oder verorten die »Schuld« an den Verhältnissen bei wechselnden Minderheiten – seien es nun »die Juden«, »die Manager« oder »die Banken« – ein Blick auf die Occupy-Bewegung reicht hier aus, um wahre Abgründe aufzuzeigen. Um im Alltag mit der Situation umzugehen, um mit den permanent erlittenen Beschädigungen irgendwie leben zu können, wählen sie jedoch hüben wie drüben oft und gerne die gleichen Kulturtechniken, wobei das Feiern und der Konsum von Alkohol und Drogen oft zu den bevorzugten Wahlmöglichkeiten gehören.

Somit ist Kritik am Konsum von Alkohol und Drogen, wie sie oft von Straight Edger_innen geäussert wird, nicht komplett unbegründet. Auch die Tatsache, dass Drogen vielfach explizit eingesetzt werden, um leistungs- und arbeitsfähiger und damit schliesslich vor allem verwertbarer zu werden, darf hier nicht ausser Acht gelassen werden. Der Manager mit 70-Stunden-Woche und die Türsteherin mit Doppelschicht, die beide zu Amphetaminen oder Kokain, zumindest aber zu gigantischen Mengen Koffein greifen, um ihr Arbeitspensum überhaupt erfüllen zu können, sind nur zwei plastische Beispiele für einen gesellschaftlichen Trend, der auch anderswo zu beobachten ist. Konkurrenzkampf und nicht vorhandene Solidarität untereinander zwingen viele Menschen dazu, ihre Körper immer leistungsfähiger zu machen und das notfalls auch über die Grenzen des eigentlich Machbaren hinaus. Die Aspirin, die eine_n die letzten paar Stunden vor dem Computerbildschirm im schlecht belüfteten Büro auch noch durchhalten lässt, die im Fitnessstudio verbrachte Freizeit und das exzessive Feiern am Wochenende, bei dem der unter der Woche aufgestaute Stress wenigstens teilweise abgebaut werden kann, sind allesamt Beispiele derselben gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen wir zu leiden haben und die uns entmenschlichen.

Es gibt Menschen, die versuchen, sich all dem zu entziehen, indem sie freiwillig aus dem rat race ausbrechen und gar nicht mehr versuchen mitzuhalten. Manche greifen sogar explizit zu Drogen und führen ausdrücklich ein exzessives Leben, um sich selbst unverwertbar zu machen. Auf individueller Ebene mag das – abgesehen von gewissen Nebenwirkungen – vielleicht sogar funktionieren. Als Gegenentwurf auf gesellschaftlicher Ebene taugt dies dagegen nicht. Wie die ökonomische Situation sich gegenwärtig darstellt, gibt es ohnehin zu viele Menschen, als dass alle in den drei Sphären der Wirtschaft – in Produktion, Distribution und Konsumption – Verwendung finden könnten. Zynisch gesprochen entlastet jede_r Arbeitslose in einer Welt, wo es einen Überschuss an Humankapital gibt und nahezu jede_r ersetzbar ist, die staatlichen Sicherungssysteme, das Gesundheitssystem, die Rentenkasse und ganz allgemein die Kassen des bürgerlichen Staats, wenn sie_er an den Folgen von Alkohol- oder Drogenkonsum stirbt.

Eskapismus kann insofern nie einen wirklichen politischen Weg darstellen. Was er allerdings kann – und das ist durchaus wichtig – ist auf individueller Ebene Leiden mindern und Menschen, die andernfalls am Bestehenden verzweifeln würden, genau die Kraft und Energie geben, die sie brauchen, um sich von Neuem den Verhältnissen entgegen zu schleudern. Genau das ist auch der Punkt, an dem die von Straight Edger_innen geäusserte Kritik, die ja nicht in allem unbegründet ist, zu kurz greift. Das bereits in Minor Threats namensgebendem Song »Straight Edge« geäusserte Diktum, keine Krücken zu brauchen, kann nun einmal nicht eins zu eins auf andere übertragen werden. Jede_r sollte für sich selbst entscheiden dürfen, ob und welche »Krücke« sie_er braucht oder nicht braucht, um mit der Welt zurecht zu kommen. Anderen ihre »Krücke« zu verweigern, ist mindestens unterlassene Hilfeleistung, meistens aber eher noch faschistoider Bockmist.

Im Grunde jedoch sind die progressiveren Flügel von Straight Edge und Hedonismus gar nicht so verschieden, wie es scheint. Beide versuchen, ihre jeweilige Utopie aus dem Nichtort ins Hier und Jetzt zu holen und sie im Bestehenden schon ein Stück weit erfahrbar zu machen. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass Hedonist_innen im Rausch einen Abglanz einer freieren Gesellschaft erahnen, während Straight Edger_innen sich nach einer Gesellschaft sehnen, in der ein solcher Abglanz schlicht nicht mehr nötig ist. So äussern sie oft den Wunsch, andere mögen doch auch tanzen und feiern können, ohne dabei auf irgendwelchen Substanzen zu sein.

Am militanten bis faschistoiden Ende von Straight Edge, so beispielsweise beim repressiven Prohibitionismus der Bands Earth Crisis oder Vegan Reich, schliesst sich schliesslich der Kreis zu den ersten Zeilen dieses Textes. Denn wo Vegan Reich davon träumen, judge and jury zugleich zu sein, und Earth Crisis einen firestorm to purify herbeisehnen, sind die Grenzen zu pietistischem Chiliasmus und zu protofaschistischer Eugenik nur mehr fliessend. Damals wie heute wollten Menschen ihre Vision einer reineren und in ihren Augen besseren Gesellschaft durch Zwang und notfalls mit Gewalt durchsetzen. Dass sich dabei weder die Ziele noch die gewählten Mittel mit progressiver Politik vereinbaren lassen, liegt auf der Hand. Eine Kritik, die Worte wie »Sünde«, »Schuld« oder »Laster« verwendet – und genau dieser Wortwahl befleissigen sich die beispielhaft genannten Bands – kann immer nur moralisch und damit niemals politisch, sondern im Grunde nur schlicht falsch sein.

Doch damals wie heute gibt es auch andere Stimmen, solche, die nicht nach Reinheit streben und von Körpern als Tempeln fabulieren, sondern ganz im Gegenteil Drogen als Herrschaftsinstrument erkennen und sich diesem entziehen wollen. So verweist etwa die Straight Edge nahestehende anarchistische Gruppe CrimethInc. in ihrem Pamphlet Anarchy and Alcohol darauf, dass jeder Staat für sich beanspruche zu entscheiden, welche Drogen verboten und welche gefördert werden sollten. Zu glauben, dass Staaten und Regierungen sich dabei nur durch traditionelle Konventionen oder wohlmeinendes Besorgnis um das Wohlergehen ihrer Bürger_innen leiten lassen, wäre zutiefst blauäugig.

Viel logischer und der Wahrheit näher kommend ist die Einschätzung, dass der Staat genau diejenigen Drogen illegalisiert, deren Handel oder Konsum seinen Interessen als ideeller Gesamtkapitalist schaden, und genau jene für legal erklärt, deren Handel oder Konsum er für seine Interessen förderlich oder doch zumindest für nicht wirklich schädlich befindet. Es sollte jedoch auch angemerkt werden, dass hierbei Gesetzestext und Alltagspraxis nicht zwingend übereinstimmen müssen. Es ist anzunehmen, dass die staatlichen Behörden sehr wohl wissen, dass quasi in jedem Club und auf jeder Party, die etwas auf sich hält, illegalisierte Substanzen konsumiert werden. Von Rechts wegen wäre hier eigentlich polizeiliches Einschreiten geboten. Tatsächlich jedoch lässt der Staat vieles durchgehen und sanktioniert nur beizeiten und eher willkürlich. Ziel staatlicher Drogenpolitik ist also offensichtlich weniger das totale Unterbinden, das auch ohnehin unmöglich wäre, als viel mehr ein gewisses Mass an Kontrolle und Einflussnahme – etwa durch das Verdrängen offener Drogenszenen an andere Orte, selektiv durchgeführte Razzien oder aber durch verschieden hartes Vorgehen gegen diverse Drogen.

Der Staat und seine Behörden scheinen alles in allem kein rechtes Interesse an einer wirklich rigorosen Verfolgung des illegalisierten Drogenkonsums zu haben. Dahinter steckt eine recht einfache Kosten-Nutzen-Kalkulation. Die Kernaufgabe des bürgerlichen Staates ist, die kapitalistische Ausbeutung aufrecht zu erhalten. Seine Drogenpolitik ist wie jeder andere Politikbereich auch dieser Maxime untergeordnet. Es ist schlicht so, dass die gängige Praxis, sich mit zweieinhalb Tagen Feierei für rund fünf Tage Scheisse am Arbeitsplatz zu belohnen, die dauerhafte Ausbeutung der jeweiligen Arbeitnehmer_innen überhaupt erst möglich macht. Wenn Menschen physisch und psychisch dazu in der Lage wären, auf Dauer sieben Tage die Woche durchzuarbeiten, dann würden Staat und Kapital das auch von ihnen verlangen. Da dies aber nicht der Fall ist, wird ihnen eine gerne auch toxisch induzierte Phase der Rekreation und der Reproduktion der Arbeitsfähigkeit zugestanden.

Nun ist es aber so, dass die Tätigkeiten, die die Arbeitsfähigkeit aufrecht erhalten sollen, den Nebeneffekt haben können, sich kritisch mit den herrschenden Zuständen auseinanderzusetzen. Somit können Feierngehen und Drogennehmen zumindest auf indirekte Weise tatsächlich als politisch gelesen werden, da sie auf individueller Ebene politisches Handeln in Theorie und Praxis unter Umständen überhaupt erst ermöglichen. Im Grunde handelt es sich bei beidem jedoch nur um Hilfsmittel, die das kurzfristige Ausklinken aus Ausbeutung und Selbstausbeutung ermöglichen oder vereinfachen. Dabei ist allerdings nicht das Feiern oder das Drogennehmen, sondern viel mehr das Ausklinken das eigentlich Wichtige – und ob das jetzt nüchtern, drauf oder drüber geschieht, sollte doch wohl lieber jede_r selbst entscheiden.

Jan Tölva
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 44
www.phase-zwei.org

Der Autor arbeitet als Soziologe und Journalist, lebt in Berlin und ist immer noch Punk.