Interview mit Peter Schaber Kurdistan: «Ich glaube, Basisdemokratie entsteht nicht spontan.»
Politik
Peter Schaber vom Lower Class Magazine war mit einigen seiner Redaktionskollegen längere Zeit in Kurdistan, wo er den revolutionären Prozess begleitete. Ende Mai war Peter in Zürich zu Besuch und hat mit uns über seine Erfahrungen gesprochen.
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2. August 2018
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Korrektur
Peter Schaber: Es war ein bisschen anders. Wir waren nicht nur und nicht primär in Kandil. Es gibt mehrere Bergregionen. Wir waren zum Newroz in Kandil - aber nur um zu feiern, denn eigentlich waren wir eher in einer anderen Region. In Kandil sind wir lediglich an einem Grenzübergang hängen geblieben. Mit den Grenzübergängen kannst du manchmal Glück und manchmal Pech haben. Wir hatten Glück im Pech und konnten während 2-3 Wochen bei Freunden aus der Guerilla untergebracht werden. Dann sind wir weiter nach Machmur und hatten eigentlich das Gefühl, wir kämen gar nicht rüber. Schlussendlich hat es trotzdem geklappt. Wir gingen dann zuerst nach Rojava und sind später in den Shengal [Autonome kurdische Region im Irak, auch «Sindschar» genannt, Anm. d. Red.] gefahren, um über eine Waffenlieferung zu recherchieren. Ich bin dann später noch ein zweites Mal hingefahren, weil ich da zuerst in der Jugendarbeit engagiert war und dann meine militärische Ausbildung gemacht habe. Das war ein hin und her, weil zwischen dem Shengal und Rojava formal keine befestigte Grenze mehr besteht.
Wo seht ihr Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen kurdischen Gebiete (Rojava/Shengal/Kandil)?
Die Guerillacamps sind keine zivilen Orte. Es sind sehr kleine Einheiten, die nur umfassen, was militärisch notwendig ist. Früher gab es grössere Einrichtungen, aber wegen dem zunehmenden Einsatz von Drohnen hat sich deren Grösse auf ein paar Leute reduziert. Generell glaube ich, dass das, was die Bewegung als «Hevaltie» (Genossenschaftlichkeit) bezeichnet, überall vorhanden ist. Abgesehen davon sind es jedoch sehr unterschiedliche Lebensweisen.
In der Guerilla bist du in der Natur, in den Bergen, aber zwischen dem Shengal und Rojava gibt es viele Gemeinsamkeiten. Man kann sagen, dass das, was im Shengal aufgebaut wurde, zeitversetzt dasselbe ist wie in Rojava. Der massgebliche Unterschied ist, dass in Nordsyrien eine lange Kultur der Kurdischen Bewegung vorhanden war, weil dort bereits in den 1980er und 1990er Jahren Familien mit den Ideen der Bewegung in Kontakt gekommen sind. Für die Bewohner*innen im Shengal war dies völlig neu. Als 2014 die Guerilla kam, um den IS daran zu hindern den Berg zu stürmen, haben die Jesid*innen, die auch kurdisch sprechen, sich aber mehrheitlich nicht als Kurd*innen verstehen, immer gesagt, die PKK wäre gekommen, um sie in ihren Kämpfen zu unterstützen.
Sie kannten die Organisation oft gar nicht. Erst damals ist der erste Kontakt entstanden. Die Prozesse des Aufbaus sind im Shengal deshalb viel schwieriger. Es ist dort ncht möglich, auf Jahrzehnte von Erfahrung oder auf ein intaktes Netzwerk von Sympathisant*innen zurückzugreifen. Da muss neu angefangen werden. Bei der Jugendarbeit im Shengal war sehr viel Überzeugungsarbeit nötig. Als wir da waren, sollte ein Jugendrat für die autonome Selbstverwaltung der Jugend gegründet werden. Zu diesem Zweck gingen wir von morgens bis abends zu Familien und wurden von diesen empfangen. Aufgrund der Befreiungsleistung der Organisation war sehr viel Respekt für die Partei und ihre Bewegung vorhanden, aber trotzdem wurde oft gefragt, wozu das Rätesystem gut sei und warum ihre alten Strukturen nicht beibehalten werden könnten. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die jesidische Gesellschaft eine lange Geschichte von Genoziden hat und eine sehr gebrochene Gesellschaft ist. Es herrschte oft das Gefühl vor, dass alles umsonst sei, da sowieso die nächsten kommen werden und sie umbringen wollen. Gerade bei den Jesid*innen war der Fluchtdrang sehr gross.
Nach einer gewissen Zeit hat sich das geändert. Als ich das erste Mal im Shengal war, war diese Realität sehr ernüchternd. Ich hatte das Gefühl, dass alles künstlich betrieben werden musste. Bei meiner Rückkehr ein paar Monate später war schon deutlich mehr Leben in den Institutionen und Strukturen. Die Institutionen in Rojava und im Shengal sind ähnlich aufgebaut – es gibt Selbstverwaltungsräte, autonome Frauenstrukturen und Akademien. In Rojava ist es so, dass die Veränderungen je nach Ort ganz unterschiedlich angenommen werden. Gerade wenn man in neu befreite, mehrheitlich arabische Gebiete im Süden fährt, trifft man auf das gleiche Phänomen wie im Shengal. Alles muss ganz neu aufgebaut werden. Das ist kein Prozess, der sich in ein paar Monaten abschliessen lässt.
Über diesen Aufbauprozess gab es viele Berichte – zum Beispiel über Orte wie Manbidsch, eine hauptsächlich arabische Stadt. Da wurde die Erfahrung gemacht, dass die Entwicklung relativ schnell voran ging und die kurdische Bewegung eher zurückhaltend agiert hat. Die Institutionen wurden als sehr gemischt beschrieben und viele Frauen haben sich unmittelbar nach der Befreiung gleich den neu entstandenen Frauenstrukturen angeschlossen. Hast du das auch so empfunden?
Ich war leider nur sehr kurz in Manbidsch. Wir besuchten die Stadt im Rahmen einer Tour für zwei Tage um uns die Strukturen anzuschauen. Im Unterschied zu anderen Städten, kann ich nicht soviel zur dortigen Realität sagen. Zudem war die Sicherheitslage damals noch nicht sonderlich gut, weshalb wir nur sehen konnten, was uns die geführte Tour gezeigt hat. Mein Eindruck war, dass sich in Manbidsch vor allem junge arabische Frauen relativ schnell in den Jugendstrukturen organisiert haben. Letztere hatte eine Vorreiterrolle im Aufbau der Institutionen. Und ja, die Rätestrukturen waren ethnisch sehr gemischt. Da vereinten sich arabisch sprechende Kurd*innen, viele Turkmen*innen und viele Araber*innen hinter dem Ziel der Selbstverwaltung der lokalen Bevölkerung.
Trotzdem kann es sein, dass solche Strukturen am Anfang von kurdischen Aktivist*innen aufgebaut werden. Das halte ich persönlich auch für sehr logisch, denn das vorher existierende staatliche Gebilde hat alles daran gesetzt, Menschen nicht ihre eigenen Angelegenheiten verwalten zu lassen. Dieses Bewusstsein muss zuerst einmal gebrochen werden. Selber Verantwortung zu übernehmen muss zuerst erlernt werden. Ich glaube, so etwas wie Basisdemokratie entsteht nicht spontan. Der Vergleich mit anderen Aufständen, die keine solche Initiativkraft wie die kurdische Bewegung hatten, zeigt dies auf:
Nach dem Gezi-Aufstand 2013 in der Türkei wurde auch versucht, in den einzelnen Stadtteilen Rätestrukturen aufzubauen, als der zentrale Gezi-Platz in Istanbul geräumt wurde. Doch es zeigte sich, dass dafür zu wenig Kontinuität und Ausdauer vorhanden war. Auch deshalb ist es so, dass am Anfang in arabischen Gebieten kurdische Kader die Strukturen mitaufbauten. Es gibt aber mittlerweile bereits viele arabische Gebiete, die ihre eigenen Aktivist*innen hervorgebracht haben. Je mehr arabische Gebiete aufgebaut wurden, desto mehr arabische Aktivist*innen gibt es demzufolge auch, die in befreiten, mehrheitlich arabischen Regionen aktiv werden können.
Öcalan und seine Theorien scheinen für euer Buch und natürlich auch für die Entwicklung in allen kurdischen Gebieten von grosser Bedeutung zu sein. Welche Rolle spielt Öcalan für die Selbstverwaltungsstrukturen sowie den bewaffneten Kampf heute noch?
Sein Einfluss ist sehr eingeschränkt, weil er auf der Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft sitzt. Trotzdem hat er als Theoretiker eine Sonderrolle für den kurdischen Befreiungskampf. Es ist nicht so, dass es nur Öcalan gibt. Es gibt innerhalb der Kurdischen Bewegung ein grosses Bewusstsein für viele Vorkämpfer*innen wie zum Beispiel Mazlum Dogan oder Sakine Cansiz. Ausserdem ist die Lektüre von vielen anderen Bewegungen sehr präsent. Es ist nicht so, dass sie sich ausschliesslich mit Öcalan beschäftigen, aber er hat eine herausragende Bedeutung. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass die Diskussionen, die im Paradigmenwechsel zusammengefasst wurden und deren theoretischer Ausdruck Öcalan formuliert, bis in die Mitte der 1990er Jahre zurückgehen. In der Guerilla wurde schon vorher diskutiert und es gab viele Auseinandersetzungen darüber, was geändert werden muss – gerade nach dem Wegfall der sozialistischen Länder. Kollektive Debatten hatten einen massgeblichen Einfluss.
Die Schriften Öcalans sind sicher leitend für den Aufbau in den Gebieten, wobei ich finde, dass nicht alleine aus Schriften bewertet werden kann, was da passiert. Die konkrete Umsetzung hat noch einmal eine sehr pragmatische Dimension und muss zu einem gewissen Grad auch auf den Gegebenheiten vor Ort basieren. Wie bei jeder anderen Schrift auch ist das auch in diesem Fall Auslegungssache, denn auch Öcalans Schriften sind auf verschiedene Weisen interpretierbar. Wenn man zum Beispiel über «Volk» spricht, gibt es auf der einen Seite die ethnische Dimension, also etwa dass die Rätestrukturen nach ethnischen Richtlinien gebildet werden sollen.
Auf der anderen Seite gibt es jenseits von Staat, Macht und Gewalt einen klassenmässigen Volksbegriff, der sich auf unterdrückte Schichten beruft – sowohl anhand von geschlechtlichen als auch ökonomischen Kriterien. Es gibt wie bei jedem anderen Theoretiker oder jeder anderen Theoretikerin einen Spielraum der Auslegung, der auch innerhalb der Bewegung, die ja sehr viel Wert auf Bildung und Diskussion legt, debattiert wird.
Wie wird der Volksbegriff denn in Rojava interpretiert? Was waren deine Eindrücke hierzu?
Die ethnische Dimension ist ganz klar notwendig. Du musst im mittleren Osten einen Ausgleich finden, damit weder regionale Herrscher noch internationale Player eine Bevölkerungsgruppe gegen die andere ausspielen können. Das gegenseitige Ausspielen von Schiiten gegen Sunniten ist zum Beispiel ein beliebtes Herrschaftsinstrument das sowohl lokale Regierungen wie auch die USA häufig anwenden. Deswegen ist sehr wichtig, dass die Frage gestellt wird, wie in diesen Gebieten ein Gleichgewicht hergestellt werden kann, damit Menschen nicht mehr gegeneinander aufgebracht werden können. Aus diesem Grund finde ich es gut, dass es für jede Religion eine Rätestruktur gibt. In Qamishlo zum Beispiel gibt es christliche Viertel und assyrische Viertel. Es gibt arabische Viertel, turkmenische Viertel und viele mehr - und sie alle entwickeln selbstorganisierte Strukturen. Wirkliche Konflikte zwischen diesen Strukturen habe ich im Alltag eigentlich nie erlebt. Die einzelnen Gemeinschaften leben in ihren Vierteln, haben aber im Alltag keine Berührungsängste. Es gibt zwar einen Rassismus zwischen Kurden und Arabern, der überwunden werden muss, aber die Koexistenz funktioniert mehrheitlich gut.
Auf der anderen Seite ist es so, dass die PKK als Arbeiterpartei bereits in ihrem Ursprung einen Klassenbezug hat. In Rojava ist das schwieriger fassbar, weil die Klassenstruktur nicht mit derjenigen einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft vergleichbar ist. Gerade nach dem Krieg sind die Eigentumsverhältnisse nicht so, dass es so etwas wie Grossindustrielle in relevantem Ausmass gäbe, oder dass auf der einen Seite die Kapitalist*innen und auf der anderen Seite die Arbeiter*innen stünden. Was es gibt, ist Claneigentum, aber auch dieses ist im Norden nicht sonderlich gross.
Einerseits wurde das Claneigentum bereits vor der Revolution von Assad zerschlagen. Das kurdische Grosseigentum wurde zum Beispiel durch die Umsiedlung von kurdischen Grossgrundbesitzern und die gleichzeitige Ansiedlung von arabischen Bauern zerstört. Auf der anderen Seite sind viele Grossgrundbesitzer geflohen, haben mit dem IS kollaboriert oder standen dem Regime nahe. Deren Ländereien sind nun vakant. Wenn eine Kooperative entsteht, darf diese das Land bearbeiten, da es offiziell keinen Eigentümer mehr gibt. Dann gibt es andererseits auch Clans die auf der Seite der Revolution standen. In diesem Falle gibt es weder ein Bedürfnis noch eine Möglichkeit, diese Clans zu enteignen. Dafür besteht keine Notwendigkeit.
Auf der einen Seite gibt es genug freien Grund, um darauf Kooperativen zu gründen, ohne Personen oder Gruppen zu enteignen. Auf der anderen Seite würde eine solche Politik Konflikte provozieren, die wiederum militärisch ausgetragen werden müssten. Clans haben einen grossen Anhang und auch die im Clan objektiv gesehen Unterdrückten sind nicht automatisch auf deiner Seite, wenn du den Clanchef angreifst. Die Realität ist oft anders. Die ungeduldigen Forderungen nach sofortiger Enteignung machen aus meiner Perspektive vor Ort relativ wenig Sinn.
Bei der Industrie ist es so, dass weite Teile der industriellen Infrastruktur kaputt oder die Leute, die sie bedienen können, weg sind. Zusätzlich gibt es immer noch das Embargo, was es schwierig macht, Fabriken wieder in Stand zu setzen. Es ist zwar möglich, Schmuggelware ins Land zu bringen, aber es wird darauf geachtet, dass keine Technologie oder dafür notwendige Produkte ins Land kommen. In diesem Kontext müssen wir auch über das Öl und die Flüsse und damit verbunden über Wasser und Elektrizität sprechen. Da wird darauf geachtet, dass diese nicht in private Hände kommen. Es gibt einen neuen Gesellschaftsvertrag der im Rahmen der Wahlen vom 22. September vorgestellt wurde. Der erste Gesellschaftsvertrag war sehr liberal. Auch wenn eine Revolution nicht nach ihrem Gesellschaftsvertrag beurteilt werden soll, so habe ich mich schon gefragt, ob das wirklich sein muss.
Der neue Gesellschaftsvertrag wurde Ende 2016 verabschiedet. Auf der einen Seite wurde das duale System zwischen Dezentralisierung und repräsentativer Demokratie besser formuliert und Instrumente, wie das Recht der Kommunen übergeordnete Entscheide zurückweisen zu können, institutionalisiert. Trotzdem bleibt der Eindruck, dass das repräsentative System und seine politischen Körperschaften viel weitreichendere Entscheidungsspielräume erhalten haben, als dies das theoretische Konzept vorsieht.
Gut, ich komme aus einer kommunistischen Tradition und finde eine solche Entwicklung selber nicht problematisch. Ich denke, dass es gewisse Dinge gibt, die nicht in den jeweiligen Kommunen entschieden werden sollen. Wenn ein Dorf zum Beispiel neben einem Staudamm liegt, dann macht es keinen Sinn, die Entscheidungsgewalt über diesen Staudamm, der unter Umständen genügend Elektrizität für ganz Syrien produziert, dem Dorf zu überlassen. Da schaffst du dann ja auch Machtverhältnisse, die nicht gut sind.
Solche hypothetischen Beispiele finde ich eher schwierig. Es gibt kollektive Entscheidungsgremien. Es ist festgehalten, dass im Sinne der Allgemeinheit entschieden werden muss und dass Ressourcen kollektiv genutzt werden müssen...
Ich meine jedoch auch die Planung der Verteilung der Elektrizität und des Öls und so weiter. Ich finde es gut, dass nicht alles völlig dezentralisiert geregelt ist.
Die Neuausrichtung der PKK, weg von nationalstaatlichem Separatismus hin zum demokatischen Konföderalismus, wird gemeinhin auf eine ideologische Kehrtwende von Öcalan zurückgeführt. Handelt es sich tatsächlich um eine Top-Down-Entwicklung und seht ihr neben ideologischen auch strategische Gründe für diesen Wandel?
Ich kenne natürlich die internen Diskussionen der PKK in den 1990er Jahren nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass vor allem die Auswertung des Scheiterns des Sozialismus in der Sowjetunion für das veränderte Staatsverständnis eine Rolle gespielt hat. Ich glaube, der Kern des Paradigmenwandels liegt, in Kombination mit einer Neubewertung von wichtigen Pfeilern wie zum Beispiel dem Patriarchat, in diesem veränderten Staatsverständnis. In der politischen Linie setzte sich die Ansicht durch, dass der Staat für ein emanzipatorisches Projekt die falsche Form ist, weshalb sich die Idee eines kurdischen Nationalstaates verflüchtigte. Die PKK strebte nie nach einem reinen Kurdenstaat, sondern immer nach einem sozialistischen Staat in der Region Kurdistan.
Der Wandel im Staatsbild spielt eine Hauptrolle in der ideologischen Entwicklung. Diese hat neben der inhaltlichen auch eine strategische Komponente, die sich am Beispiel vom Konzept des Volkskrieges zur Befreiung Kurdistans, der in den 1980er Jahren zu einem militärischen Patt führte, gezeigt hat. Das Verständnis über die Rolle des Militärs wurde im Rahmen des Paradigmenwechsels von solchen Umständen beeinflusst und neu definiert. Viele verschiedene Faktoren fliessen in diesem neuen Paradigma zusammen – sowohl militärische, wie auch theoretische. Ich glaube, dass vieles davon für eine Linke im Westen ebenfalls andenkbar ist. Es scheint mir sinnvoll, diese neuen Konzepte auch hier zu nutzen und sie sich anzueignen, wenn man hier Politik macht.
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass in Rojava noch viele staatliche Institutionen existieren. Niemand hat jemals gesagt, dass die autonomen Regionen aus Syrien herausgebrochen werden sollen. Es ging immer um die Demokratisierung nicht nur der kurdischen Gebiete, sondern ganz Syriens. Vorläufig braucht es im Norden Instrumente die ähnlich funktionieren wie ein Staat. Ein Staat eines neuen Typs, wenn man es terminologisch korrekt formulieren will. Ein Gebilde mit vielen klassischen Staatsmerkmalen: Es gibt Zölle, es gibt eine Polizei, es gibt eine Art Gerichtsbarkeit, wenn auch eine relativ wenig formalisierte. Trotz dieser Institutionen ist es so, dass es parallel dazu auch utopische Merkmale gibt.
Im Falle der Asayish wird das gut sichtbar. Es handelt sich dabei sich um eine professionalisierte Polizeitruppe und nicht um rein lokale Verbände. Das ist eigentlich nicht das, was die Bewegung will, da sich ihrer Vorstellungen entsprechend lokale Komponenten ganz um ihre eigene Sicherheit kümmern sollten. Derzeit werden die Truppen der Asayish über die YPG aufgebaut in der Hoffnung, dass diese eines Tages wieder überflüssig werden, bzw. komplett in den lokalen Strukturen aufgehen. In der momentanen Kriegssituation reicht es aber nicht aus, wenn nur die Kommunen für Sicherheit sorgen.
Wie hast du das Funktionieren der Asayish empfunden? In der Theorie ist die Asayish ja eine freiwillige Polizeistruktur, die sich aus den Dörfern rekrutiert. Letztere tragen dabei auch die Verantwortung und die Entscheidungshoheit. Gemäss Berichten haben die Asayish flache Strukturen und immer wechselnden Führungspositionen, um Machtungleichgewichte zu verhindern.
Ob die Führungspositionen ständig abwechseln, weiss ich nicht. Unsere Erfahrungen mit den Asayish waren im Wesentlichen immer sehr unspektakulär. Sie organisieren die Checkpoints auf den Strassen und führen Kontrollen durch. Die Kontrollen waren nicht ausserordentlich streng und wurden von uns als relativ lose wahrgenommen. Weder wir noch die lokale Bevölkerung wurden an den jeweiligen Checkpoints ewig durchsucht. Die Asayish setzt sich aus normalen Leuten aus der lokalen oder regionalen Bevölkerung zusammen. Ihre Mitglieder erhalten einen Lohn für ihre Arbeit bzw. eine Aufwandsentschädigung. In diesem Sinne sind sie schon eine professionelle Polizei. Das ist nicht völlig abwegig, da deren Mitglieder ihren Lebensunterhalt sichern müssen.
Die Asayish haben neben den traditionellen Streitschlichtungsorganen (Mala Gel und Mala Jin) auch eine mediative Funktion. Dabei geht es nicht darum, Leute wegzusperren, sondern den gesellschaftlichen Frieden zu bewahren. Sie sollen im Falle von Streitigkeiten im Sinne der Rehabilitation entscheiden, um im Falle einer Strafe eine möglichst rasche Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen. Es gibt die HPG (ältere Leute aus der Gemeinschaft die hohes Ansehen geniessen), Mala Gel und Mala Jin, die als offizielle und institutionalisierte Streitschlichtungsorgane wirken, aber auch die Asayish können in solchen Fällen zum Einsatz kommen. Im Grossen und Ganzen sind solche Angelegenheiten relativ informell geregelt. Wer einen Konflikt in einem bestimmten Fall lösen wird, hängt oft davon ab, wo dieser stattfindet und wer gerade in der Nähe ist.
Auch bei schwereren Delikten funktioniert die Justiz relativ informell. Ein Fall zu Mehrehen ist mir in Erinnerung geblieben. Die Gründung neuer Mehrehen (Polygamie) wurde gesetzlich verboten, alte Mehrehen jedoch nicht zwingend aufgelöst. In einem Fall hat ein Clanchef versucht, die Regelung zu umgehen und sich heimlich in einem anderen Ort mit einer Zweitfrau vermählen lassen. Dafür ist er in den Knast gewandert. Auf meine Frage, wie hoch seine Strafe ausfällt, erhielt ich als Antwort, dass er Bildung erhält, bis er versteht, was er falsch gemacht hat. Es gibt also keine strikt vorgegebenen Strafrahmen wie etwa im deutschen Strafgesetz. Das Ziel ist, darauf hinzuarbeiten, dass eine Person sich wieder in den gesellschaftlichen Kontext einfügen kann.
In eurem Reisetagebuch Konkrete Utopie betont ihr explizit die Wichtigkeit der Kader für die gegenwärtige Entwicklung (speziell für den Aufbau der Rätestrukturen). Ihr schreibt, die Revolution in Rojava sei «der praktische Beweis der Richtigkeit der Leninschen Avantgardetheorie, nicht ihre Widerlegung». Die Avantgardetheorie basiert auf dem Konzept des Demokratischen Zentralismus, wohingegen der Demokratische Konföderalismus eine radikale Dezentralisierung anstrebt. Wie begründest du die Verknüpfung von Rojava und Leninismus?
Ich glaube, dass es zwei verschiedene Felder gibt. Auf der einen Seite gibt es den Aufbau ziviler Institutionen, der von unten nach oben passieren soll. Dieser folgt der Devise, dass die Leute ihre Angelegenheiten selber in die Hand nehmen sollen. Die Gesellschaft soll so dezentral wie möglich organisiert sein und die Idee der Basis- und Rätedemokratie repräsentieren. Gleichzeitig gibt es eine Kraft, die diesen Aufbau anstösst. In Rojava lässt sich sehr gut beobachten, dass das nicht einfach so passiert und nicht spontan in der Bevölkerung entsteht. Es braucht Aktivistinnen und Aktivisten, die das vorantreiben. Das verstehe ich unter Avantgarde, da dass diejenige Kraft ist, die die ersten Schritte in eine gewisse Richtung macht und die dieses Konzept in die Gesellschaft hineinträgt.
Die Aktivist*innen der kurdischen Bewegung sind sehr organisiert – in der YPG genauso wie in der PKK. Da gibt es die Mythen, dass man Kommandanten wählen darf. Es hat demokratische Kontrollmechanismen, aber trotzdem gibt es eine Leitung und eine Disziplin, die mit dem Eintritt in diese Organisationen akzeptiert werden. Die revolutionäre Kraft ist als eine disziplinierte, gemeinsam handelnde Kraft organisiert und ohne diese Kraft wäre der Aufbau von Basisdemokratie in der Zivilgesellschaft nicht möglich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er im Mittleren Osten nicht möglich wäre, weil hier die Fragen der Selbstverteidigung und des bewaffneten Kampfes zentral sind. Der bewaffnete Kampf braucht Organisation. Es kann nicht jede*r machen, was er will, in der Annahme, dadurch zum Ziel zu gelangen. Am Ende ist es wichtig, dass die Bewegung einen hohen Organisierungsgrad hat und als einheitliche Kraft funktioniert.
Reicht das bereits aus um Lenins Theorien bestätigt zu sehen oder handelt es sich dabei nicht um natürliche Entwicklungen im Rahmen eines revolutionären Prozesses? Inwiefern widerspiegelt sich denn der avantgardistische Zentralismus in der Organisationsstruktur Rojavas?
Mir persönlich ist es nicht so wichtig, wie man das nun nennt. Ich glaube, wenn man sich in der Beschreibung des Phänomens einig ist, dann reicht das. Ein Kader in Rojava ist ein Vollzeitrevolutionär, also das was Lenin einen Berufsrevolutionär nannte. Das ist charakteristisch für Kaderparteien - es handelt sich nicht um ein Hobby oder um eine Freizeitbeschäftigung. Der Kern der PKK (bzw. der kurdischen Bewegung) besteht aus Vollzeitrevolutionär*innen, die ihr Leben dem Aufbau einer anderen Gesellschaft widmen. Das halte ich für ein wichtiges Charaktermerkmal einer Kaderpartei. Wenn man nun bei Lenins Schrift «Was tun» oder bei dem «Brief an einen Genossen über organisatorische Fragen» nachschaut, dann findet man viele Gemeinsamkeiten mit der Funktionsweise der PKK als Partei. Ich finde aber den Streit, ob das nun einem bestimmten theoretischen Konzept entspricht oder nicht, auch ein bisschen müssig.
Da stimme ich zu. Das führt leicht zum Versuch, eine bestimmte Bewegung in ein theoretisches Korsett zu zwängen. Das kann auf der einen Seite spannend sein, aber auch viele Polemiken auslösen, was wiederum eine Gefahr darstellen kann...
Genau, das wären dann eher akademische Fragen. In Deutschland reden viele von «Initiativkraft». In diesem Zusammenhang glaube ich, dass das Element der Spontaneität im revolutionären Prozess stark überbewertet wird. Dadurch vergisst man, dass es eine kontinuierliche revolutionäre Kraft braucht, um diese spontanen Kräfte überhaupt zu einem Ziel hin zu orientieren.
Meinst du nicht, dass diese beiden Elemente – die Spontaneität und die Kontinuität - Wechselwirkungen sind?
Das ist aber auch bei Lenin so. Im Grunde ist es so, dass die Avantgarde bei Lenin der Teil der Unterdrückten ist, der den ersten Schritt macht, sich aber trotzdem immer als Teil der Bevölkerung versteht. Die PKK begreift sich auch in diesem Sinne als Volk des Volkes und nicht als abgehobener Teil der Bevölkerung. Mit Blick auf Bewegungen in Europa gibt es diesbezüglich wichtige Erkenntnisse, wenn wir nach Griechenland blicken und uns die Generalstreikbewegung anschauen, die Besetzung des Syntagma-Platzes zum Beispiel, den Gezi-Aufstand in Istanbul oder die Platzbesetzung der Puerta del Sol in Madrid.
Da gab es quantitativ immer grosse Menschenmengen, aber nach dem spontanen Aufbegehren waren schnell kaum mehr Spuren in der Gesellschaft vorhanden. Das hat unter anderem mit der Repression zu tun, aber ebenfalls mit dem Umstand, dass die Repression nicht ausgehalten wurde. Das hängt damit zusammen, dass keine kontinuierlich arbeitende Kraft vorhanden war. Die Geschichte der kurdischen Bewegung in Baku zeigt im Gegensatz dazu, dass die organisierte Parteistruktur das verknüpfende Element war. Die Partei hat schwierige Zeiten überlebt, konnte das spontane Aufbegehren organisieren und sich regenerieren. Ohne die Existenz dieser Kontinuität gäbe es heute wohl diese Revolution nicht.
In Anbetracht des ideologischen Wandels der PKK hin zu einem dezentralisierten politischen Modell – nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der revolutionären Organisation – und der von dir geäusserten Interpretation: Da ergeben sich doch gewisse Widersprüche? Sind diese Widersprüche ein Problem, oder liegen die in der Natur der Sache?
Ich würde sagen, dass dieser Prozess nicht als Kritik an der Organisation von marxistisch-leninistischen Parteien zu verstehen ist. Dass es bei der PKK kleine dezentrale Einheiten gibt, die sich isoliert in den Bergen aufhalten und ihr kollektives Alltagsleben organisieren, hat mit der Guerilla-Kriegsführungstaktik zu tun. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht trotzdem ein Zentralkomitee und übergeordnete Instanzen gibt, die die allgemeine Strategie für einen bestimmten Kampf beschliessen. Ansonsten würden diese Einheiten völlig ziellos in den Bergen herumirren und wüssten nicht, worauf sie sich fokussieren bzw. vorbereiten müssten. Das ist auch in Rojava so: es ist nicht so, dass in Rakka jede Enheit für sich selber entscheidet, was sie an dem Tag machen will. Das wäre gar nicht möglich, weil einzelne Einheiten gar keinen Überblick über die Gesamtlage haben.
Würdest du sagen, dass das auch für die Selbstverwaltungsstrukturen gilt?
Nein. Bei den Selbstverwaltungsstrukturen ist es eher umgekehrt. Da ist es so, dass die kleinste Einheit diejenige ist, die am nächsten bei der Basis ist und am meisten entscheiden soll. Nur was da nicht entschieden werden kann, soll auf der nächst höheren Ebene entschieden werden.
Wie verhalten sich diese beiden unterschiedlichen Organisationskonzepte zueinander. Auf der einen Seite die Selbstverwaltungsstruktur, die auf dem Dezentralisierungsgedanken beruht. Auf der anderen Seite die Organisationsstruktur der YPG/PYD, die immer noch sehr zentralisierten Machtstrukturen folgt?
Die Organisationsweise ist ein bisschen gegenläufig und die Funktion der Aktivist*innen, also der Initiativkraft, ist es, diese Strukturen aufzubauen und sich daraus zurückzuziehen, sobald sie mit Leben gefüllt sind. Das ist das, was ich beobachtet habe. Wenn Kommunen aufgebaut werden, dann werden zu Beginn gewisse Aufgaben von Aktivist*innen aus der kurdischen Bewegung mit dem Ziel übernommen, sich in dieser Struktur selbst überflüssig zu machen. Es ist eine Art Hilfe zur Selbstständigkeit und das scheint mir auch richtig in einer Avantgardestruktur.
Zu den Kämpfen in Rojava: du hast dich im Anschluss an eure Reise den Volksverteidigungseinheiten angeschlossen und aktiv an der Befreiung von Rakka teilgenommen. Die grösste Gefahr für das Projekt der Selbstverwaltung hast du dabei im «Zerfall der Einheit von zivilem Aufbau, der Gestaltung des eigenen Zusammenlebens und des bewaffneten Kampfes» gesehen. Kannst du diese Gefahr genauer erklären und siehst du mögliche Lösungsansätze dafür?
Im Zusammenhang mit dem Bündnis der Syrian Democratic Forces haben sich innerhalb kurzer Zeit viele Gruppen, die nicht dem politischen Paradigma der kurdischen Bewegung folgen, angeschlossen. Es handelt sich nicht unbedingt um linke Gruppen, sondern um verschiedenste arabische, assyrische und weitere Milizen. Dabei blieb die Politisierung dieser Gruppen hinter der militärischen Notwendigkeit zurück, die es zu dieser Zeit gab. Die Schuld dafür trägt keine Gruppe, sondern die Kriegssituation in Syrien. Es gab keine anderen Möglichkeiten, grosse Menschenmassen an die Front zu schicken.
Es gab natürlich die Hoffnung, dass es nach der Befreiung von Rakka einen Status für Rojava innerhalb eines gesamtsyrischen Friedensprozesses geben würde. Das wäre dann die Gelegenheit gewesen um die tausenden Menschen, die sich diesem Kampf angeschlossen haben, in die Zivilgesellschaft zu integrieren, mit Bildung zu arbeiten und die Politisierung voranzutreiben. Das wäre wichtig gewesen, um die revolutionäre Kultur zu verbreitern und zu vertiefen. Die russische Seite hat sich jedoch anders entschieden und der Türkei die Möglichkeit gegeben, Afrin anzugreifen. Dadurch ging der Krieg in eine neue Runde. In und um Afrin können sich nun neue dschihadistische Gruppen bilden, sodass der Krieg wahrscheinlich noch lange nicht zu Ende sein wird. Gleichzeitig erleben wir nun auch noch ein direktes Eingreifen von Israel. Die Hoffnung, dass mit dem Sieg über den IS der zivile Aufbau vollständig in den Mittelpunkt rücken könnte, ist leider durch die geopolitische Entwicklung der letzten Monate enttäuscht worden.
Der Krieg selber ist riesig. Da gibt es etwa das Problem, dass allein in Rakka 10'000 Menschen gekämpft haben. In dieser Zeit war die Vermittlung der Kultur der kurdischen Bewegung über Kritik und Selbstkritik oder die regelmässige Überprüfung des gemeinsamen Zusammenlebens an der Front sehr schwach. Das hat verschiedenste Gründe. Das war sprachlich bedingt, hatte aber auch kulturelle Ursachen. Deshalb wäre es wichtig gewesen, die revolutionäre Kultur besser zu verankern. Die Voraussetzung, dass dies überhaupt gelingen kann, wäre, dass Rojava einen offiziellen Status kriegt.
Die ständige Bedrohung durch die Türkei und durch andere Kräfte verhindert eine Vertiefung der revolutionären Kultur. Zum Krieg selber sage ich nicht viel. Es ging darum zu zeigen, dass wir einen Beitrag zur Verteidigung der Revolution leisten wollten. Was ich erstaunlich fand, ist der Unterschied in der Kriegsführung zwischen den Kräften vor Ort und der «Bündnispartner» aus dem Westen. Es war eine totale Rücksichtslosigkeit von amerikanischer Seite zu spüren, weil die im Unterschied zur YPG nachher nicht mehr mit der Bevölkerung in Kontakt bleiben müssen. Die hatten ein anderes Interesse.
Für die US-Armee/die Koalition sind Flächenbombardements, Waffentests und Uranmunition ein Teil dieses Krieges. Das zerstört viel - auch in ökologischer Hinsicht: Rakka liegt am Euphrat und ich fand es sehr erstaunlich, dass dort Uranmunition eingesetzt wurde (zu Beginn, als wir noch nicht da waren, auch Phosphor). Es ist wichtig, den Mythos einer existierenden Einheit zu dechiffrieren. Auch in der Kriegsführung gibt es keine Einheit, sondern unterschiedliche Interessen. Die kurdische Bewegung ist eine syrische Kraft und will keine unnötigen zivilen Opfer in Kauf nehmen. Das gilt für die westliche Koalition nicht. Denen ist das letztlich egal.
Oft heisst es, die westliche Linke könne von der kurdischen Bewegung viel lernen. Was habt ihr während eurer Zeit in Kurdistan gelernt, was wir für unsere Kontexte hier brauchen können und wie lässt sich das adaptieren?
Auch hier gibt es vieles, aber ich glaube das Wichtigste ist die Gesellschaftsfähigkeit einer radikalen Linken. Es ist eine Linke, die sich nicht in eigene Räume zurückzieht und sich nicht abschottet von einer Gesellschaft, die sie für nicht brauchbar hält. Vor allem in Deutschland war das ein Thema. Es gibt durchaus Besserung, aber es war lange Zeit der Gestus einer radikalen oder autonomen Linken, die Restbevölkerung für verdorben und für nicht revolutionsfähig zu halten. Ich glaube, diese Sache, dass man in der Gesellschaft als ansprechbare, erkennbare Kraft arbeiten muss, ist die wichtigste Lektion.
Das beinhaltet auch, zu bedenken, was das für sich selber bedeutet, also wie man Politik machen muss oder wie Diskussionen geführt werden können. Man kann viel über das eigene Gruppenleben und die Gestaltung dessen lernen, aber auch darüber, wie internationale Solidarität neu aufgebaut werden muss. Es gibt viele Aspekte, aber der Aspekt der Gesellschaftsfähigkeit und damit verbunden das Ziel, herauszufinden, was denn wirklich die drängendsten Fragen einer Gesellschaft sind, das ist für mich der zentrale Punkt. Ich glaube aber nicht, dass man das ausschliesslich von der kurdischen Bewegung lernen könnte.
Zum Abschluss: Seit eurer Reise nach Kurdistan ist ein Jahr vergangen. Ein Jahr, indem viel passiert ist (Befreiung Rakkas, Invasion in Afrin, Abzug der PKK aus Sindschar, etc.). Was bedeuten diese Veränderungen für die von euch besuchten Gebiete, Gruppen und Menschen?
Die Einnahme Afrins ist natürlich die bedeutendste Veränderung und hat noch einmal deutlich gezeigt, dass sowohl das Bündnis mit der russischen Seite als auch das Bündnis mit den Vereinigten Staaten ein sehr begrenztes ist. Es ist auch sehr begrenzt tragfähig, weil es die Türkei geschafft hat, sich zwischen beide Akteure zu stellen und von beiden Seiten Zugeständnisse zu fordern. Den Russen droht die Türkei, sich weiter der Nato anzunähern.
Den USA droht Erdogan wiederum, sich mit Russland zu arrangieren. Sowohl Russland als auch die USA sind auf dieses Spiel eingegangen, weil die Türkei geostrategisch und regional ein wichtiger Staat ist. Damit haben sie die Invasion in Afrin ermöglicht. Die Invasion in Afrin hat aber gezeigt, dass die ansässige Bevölkerung die Region als ihr Zuhause betrachtet - im Unterschied zum Beispiel zur Endphase der Sowjetunion oder der DDR, als die Leute ihre - formal gesehen - eigenen Betriebe nicht verteidigt haben. Das hat damals aufgezeigt, dass etwas nicht stimmte. In Afrin war das nicht der Fall. Es war eindrucksvoll, dass inmitten der Bedrohung durch Luftschläge Massendemonstrationen mit Zehntausenden von Menschen stattgefunden haben.
Mich hat ebenfalls beeindruckt, dass aus allen Kantonen Leute hingefahren sind. Normalerweise ist es eher umgekehrt und die Leute fliehen aus den Kriegsgebieten. Der Widerstand hat auch militärisch einen Eindruck hinterlassen, da dem Gegner trotz den widrigen Umständen stark zugesetzt wurde. Es ist klar, dass ein Gebiet wie Afrin - anders als in Kandil zum Beispiel - gegen Luftschläge und Panzerarmeen (die übrigens aus Deutschland stammen) nicht lange gehalten werden kann. Es ist ein kleines Gebiet und du hast eine unendliche Möglichkeit mit Distanzbombardements zu agieren. Trotzdem ist der Widerstand nicht vorbei, sondern findet in der Form von Guerillataktiken in einer Phase der Nadelstiche immer noch statt. Viele haben das Gefühl, der Kampf um Afrin sei verloren.
Sicher ist die Stadt vollständig türkisch besetzt, aber es gibt immer noch genügend Kräfte, die dort als Guerilla Widerstand leisten. Das zeigt einerseits, wie tief verankert das Projekt in Afrin bereits ist und zum anderen, wie wenig Verlass auf solche internationalen vermeintlichen Partner in Wirklichkeit ist. Gleichzeitig ist es wichtig zu betonen, dass es auch noch einmal ein Moment war, der die Wichtigkeit der internationalistischen Kämpfer*innen bewiesen hat. Er hat gezeigt, welcher Politisierungseffekt die Leistung von internationalistischen Kämpfer*innen auf die Gesellschaft in ihren Heimatländern haben. Wenn ich zum Beispiel an Anna Campbell denke, die eine ganze Community in Grossbritannien politisiert und eine grosse Bewegung ausgelöst hat. Das ist sehr wichtig aus einer internationalistischen Perspektive. Als Rückkehrer aus der Kommune sind wir sehr stolz auf die Genoss*innen, die vor Ort ihren Beitrag zur Verteidigung Afrins geleistet haben.
Danke für das Gespräch.