„1977“ ist auserzählt. Selbst die blinden Flecken. „1992“ ist dagegen unerzählt. Selbst die grossen Linien. Die Zäsur mit den toten Gefangenen von Stuttgart-Stammheim am 18. Oktober 1977 war tief, aber die RAF reorganisierte sich in den Folgejahren. Die Zäsur, auf tödliche Attentate zu verzichten, endete in den Folgejahren mit der Auflösung. Resignation statt Reorganisation.
Weg & Sackgasse
Das vor 25 Jahren durch die RAF lancierte Papier ging als „Deeskalationserklärung“ in die Annalen ein. Der Inhalt der Postwurfsendung der RAF beginnt weitschweifend: „An alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie menschenwürdiges Leben hier und weltweit an ganz konkreten Fragen organisiert und durchgesetzt werden kann.“ In dem Text erklären die Untergrundaktivist*innen, Attentate auf Führungskräfte aus Politik und Ökonomie einzustellen. Mit sofortiger Wirkung. Ohne Gegenleistung, ohne Zugeständnisse, ohne Verhandlungsergebnis. Begründung: „Gezielt tödliche Aktionen von uns gegen Spitzen aus Staat und Wirtschaft können den jetzt notwendigen Prozess im Moment nicht voranbringen, weil sie die gesamte Situation für alles, was in Anfängen da ist, und für alle, die auf der Suche sind, eskalieren,“ so die RAF-Autor*innen. „Die Qualität solcher Angriffe“, schreiben sie weiter, „setzt eine Klarheit darüber voraus, was sie an Veränderungen konkret in Gang setzen können.“ Und diese Klarheit fehle, weil sich die globalen Koordinaten nach der Erosion der Staaten des Warschauer Pakts verschoben hätten. Nichts sei mehr wie es war.Mit diesem verschrifteten Schritt wollten die Stadtguerilleros aus der politisch-militärischen Sackgasse herausfinden, in der sie sich wähnten. Im Kern bestand dieser in nichts anderem als in einer Teilaufgabe von bewaffneter Politik. Den militärischen Aspekt klammerte die RAF fortan aus. Durch das heruntergeschraubte Aktionslevel wollte die RAF einen neuen „politischen Raum von Diskussion und Aufbau“ öffnen. Einen Raum, in dem der bewaffnete Kampf der RAF „nicht im Mittelpunkt“ stehen könne. Den konzeptionellen Umbau der RAF unterstützten die Gefangenen von RAF und antiimperialistischem Widerstand unisono. Der RAF-Gefangenen Irmgard Möller war es vorbehalten, ein Kurz-Statement abzugeben: „Die Entscheidung unserer Genossen draussen ist richtig, sie entspricht dem, worauf auch wir Gefangene für den politischen Prozess aus sind.“
Anschluss & Distanz
Die RAF zeigte sich orientierungslos. Sie hielt Ausschau. In den Blick geriet die breite Mobilmachung gegen den G7-Gipfel in der bayerischen Landeshauptstadt München im Juni 1992 im Kontext von 500 Jahre Conquista. Die RAF verbreitete eine Grussbotschaft an die Teilnehmer*innen der Gegen-Demonstration. Die Stellungnahme war als Diskussionsbeitrag konzipiert. Die Motive für die Zäsur wurden nochmals aufgegriffen, ausgeführt. „Natürlich gab es viele Menschen, die sich über unsere Aktionen gefreut haben – aber unsere Angriffe haben kaum Diskussionen und Organisationsprozesse ausgelöst, und allein aus sich heraus können sie den Verbrechen der Herrschenden keine wirksamen Grenzen setzen.“ Das Ende der Fahnenstange sei erreicht, Programmwechsel. Grussbotschaften von einzelnen Gefangenen aus der RAF und des Widerstands gingen dem RAF-Brief voraus oder folgten ihm. Ein nachdrücklicher Versuch, sich schriftlich in die Protestvorbereitungen einzuklinken. Dieses Randrängeln an die soziale Bewegung rund um die Gegen-Mobilisierung zum Gipfeltreffen wirkte aufgesetzt. Wie von Zu-Spät-Gekommenen.Die neue RAF-Linie blieb nicht unwidersprochen. Dissonanzen kamen von einem kleinen Kreis von Aktivist*innen aus dem antiimperialistischen Spektrum auf. Einer dieser Zusammenhänge firmierte nach wechselnden Gruppenbezeichnungen bei Textproduktion und Aktionsdurchführung unter dem Signet „antiimperialistische zelle“. Die Zelle der Antiimperialist*innen trat an, um einen Gegentrend zu setzen. „Der Kampf geht weiter!“ prangte in grossen Lettern über ihrer ersten nicht unterzeichneten Erklärung. Die Parteigänger*innen der Antiimp-Zelle steckten ihren Bezugsrahmen klar ab: von der Baader-Befreiung im Mai 1970 bis zur „Deeskalationserklärung im April 1992 reiche die RAF-Geschichte. Und keinen Schritt weiter. Danach würden die Grundlagen der RAF weggekippt. Andere aktivistisch eingestellte Sympathisant*innen befürchteten, die RAF degradiere sich zum „bewaffneten Arm sozialer Bewegungen“, zum Bewegungsanhängsel. Diese Grundsatzkritiken am grundsätzlichen Neukurs der RAF blieben indes noch minoritärer als der neue Kurs selbst.
Appell & Zugzwang
Mit der „Rücknahme der Eskalation“ wollten die RAF-Aktiven Bewegung in die Gefangenenfrage bringen. „Dieser Prozess von Diskussionen und Aufbau einer Gegenmacht von unten schliesst für uns als einen ganz wesentlichen Bestandteil den Kampf für die Freiheit der politischen Gefangenen mit ein. Aus 20 Jahren Ausnahmezustand gegen die Gefangenen, Folter und Vernichtung, geht es jetzt darum, ihr Recht auf Leben durchzusetzen – ihre Freiheit erkämpfen!“Im Hintergrund des Geschehens flimmerte die Initiative der Koordinierungsgruppe Terrorismusbekämpfung (KGT) des Bundeskriminalamts (BKA). Der damalige Bundesjustizminister Klaus Kinkel (FDP) brachte eine Freilassung unter engen Voraussetzungen von ausgewählten Gefangenen und zeitlich befristete Strafaussetzungen in die Debatte. Der Staat in persona von Kinkel preschte mit einem eigenen Plan vor. RAF und Gefangene sahen sich im Zugzwang. Einige machten gar eilig „zwei widerstrebende Fraktionen im Apparat“ aus. An diesen „Widersprüchen“ müsse seitens der RAF und Gefangenen angesetzt werden.
Die RAF-„Deeskalationserklärung“ liest sich wie ein verklausuliertes Kontaktinserat. Die Initiator*innen aus dem Staatsapparat erhalten eine öffentliche Replik der RAF. Nach dem abgebrochenen zehnten kollektiven Hungerstreik politischer Inhaftierter 1989 musste über eine öffentliche Kontroverse Druck, medialer und sozialer, aufgebaut werden. Die Entlassung haftunfähiger Gefangener und die Zusammenlegung der politischen Gefangenen in ein bis zwei grosse Gruppen bis zu ihrer endgültigen Freilassung schien – ohne an der Staatsräson zu rütteln – verhandelbar. Dafür wollten die Illegalen, so Kritiker der neuen RAF-Linie, den Gegenwert der Einstellung ihrer Attentate in Erfahrung bringen. Ein Preisabgleich, dessen Ergebnis zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststand.
Die RAF ging davon aus, in Vorleistung gegangen zu sein. Gratis. Und daraus schlussfolgerte sie, dass „[j]etzt die staatliche Seite gefragt [ist], wie sie sich verhält; und weil das heute noch niemand weiss, wollen wir den Prozess von Diskussionen und Aufbau schützen.“ Dieser Satz aus der RAF-Feder löste im Sympathisant*innenumfeld Irritationen aus. Mit dieser Aussage wird nicht nur eine Erwartungshaltung gegenüber den Staatslenker*innen genährt; nein, „die staatliche Seite“ wird gleich als Hauptadressat*in ausgemacht. Ein Appell an den Staat. Und ein solcher Appell ist spätestens dann als ein Aspekt der Niederlage zu werten, wenn das Kriterium für Aktion oder Nicht-Aktion nicht mehr primär im eigenen Handlungsvermögen verortet wird.
Streitobjekt & Drohkulisse
Die Metropolenguerilla in der Bundesrepublik geriet nach der RAFschen April-Erklärung nicht nur zum öffentlichen Streitobjekt, sondern faktisch zur Verhandlungsmasse. Die RAF wollte aber auch nicht ganz ohne Rückfahrschein bleiben: „Wenn sie [die Staatsseite, Anm.] diejenigen, die diesen Prozess [der Deeskalation, Anm.] für sich in die Hand nehmen, mit ihrer Walze aus Repression und Vernichtung plattmachen, also weiter auf Krieg gegen unten setzen, dann ist für uns die Phase des Zurücknehmens der Eskalation vorbei – wir werden uns das nicht tatenlos anschauen.“ Keck formuliert. Es hätte aber klar sein müssen, wenn man sich argumentativ entwaffnet hat, ist es doppelt schwierig, sich wieder zu munitionieren. Hiervon unbeeindruckt, schob der Schreibstab der RAF mit Kriegsmetaphorik nach: „Wenn sie uns, also alle, die für eine menschliche Gesellschaft kämpfen, nicht leben lassen, dann müssen sie wissen, dass ihre Eliten auch nicht leben können. Auch wenn es nicht unser Interesse ist: Krieg kann nur mit Krieg beantwortet werden.“ Nach der Lektüre des RAF-Papiers konnte ein derart rustikaler Ausruf am Textende für Beobachter*innen nur als Drohkulisse wahrgenommen werden.Die enge Kopplung der eigenen Existenz an die Gefangenenfrage machte die RAF verletzlich. Sie musste nun bei jeder nur erdenklichen Initiative aus dem Justiz- oder Innenministerium reagieren. Sie verharrte wie schon zu Zeiten im Herbst 1977 im vorherrschenden Modus einer „Befreit-die-Guerilla-Guerilla“. Als Staatsfeind*in den Staat als Instanz des Gewaltmonopols anzurufen, offenbart ein Dilemma. Gerade dann, wenn die eigene Staatsfeindschaft – das Attentat als Fanal – über lange Wegstrecken plastisch dokumentiert wurde. Ein Antagonismus, der über zwei Dekaden eingeübt wurde, weicht auf. Dialog-, Kommunikations- und Konsensbereitschaft werden zu Kriterien der Interaktion. Die Guerilla als Diskursguerilla.
Zusatz-Dilemma: Es gibt keine Gesprächssituation zwischen Staat und Guerilla auf Augenhöhe. Der Staat verlangt mal moderater, mal brutaler immer eine einseitige Entwaffnung. Den Kniefall. Die Waffenfrage ist eine seiner Angelfragen, die er sich nicht von drei Handvoll Guerilleros im Grossstadtdschungel streitig machen lassen kann ohne selbst in einen Legitimationsdruck zu geraten.
Einstieg & Abgrund
Der RAF-Text hätte ein Zwischenbericht sein und für einen Aufschwung in der radikalen Linken sorgen sollen. Er war aber ein Vorwort. Er leitete einen Prozess des Niedergangs ein. Er war der Auftakt zur Auflösung sechs Jahre später. Die RAF, der antiimperialistische Widerstand und das Gefangenenkollektiv begannen zu pulverisieren. Warum das Aktiv der RAF 1992 mutmasste, aus einer Schwächeposition Zusatzstärke herausholen zu können, bleibt nebulös. Im August 1992 legte die RAF mit Prosa nach. Ein zweites Papier, was an das Frühlingsschreiben nahtlos anknüpfte. Auch das bescherte der RAF keinen festen und dauerhaften Eintritt in soziale Bewegungen mit oder ohne fundamentaloppositionellem Rand. Die „Gegenmacht“, die sich „von unten“ aufbauen sollte, blieb ein Rohrkrepierer.Ein grelles Signal gab es dennoch: Der Sprengstoffanschlag auf den fast fertiggestellten Gefängnisneubau im südhessischen Weiterstadt Ende März 1993 war die letzte RAF-Attacke. Die Statik des „High-Tech-Knasts“ geriet ins Wanken. „Weiter so, weiter so, Weiterstadt!“ hallte es bei linksradikalen Demonstrationen durch die Strassenzüge. Sympathiebekundungen. Immerhin. Aber meist tatenlose Worte aus dem Demo-Block.
Kurze Zeit später: Das Desaster von Bad Kleinen. In der Provinz Mecklenburg-Vorpommerns wird das RAF-Mitglied Wolfgang Grams tot auf dem Gleisbett des örtlichen Bahnhofs aufgefunden und Birgit Hogefeld festgenommen. Eingefädelt wurde dieser GSG9-Zugriff durch die Zuträgerei eines Spitzels aus der Polit-Szene des Rhein-Main-Gebiets. Wiederum einige Wochen danach: Der Bruch innerhalb des Gefangenenkollektivs der RAF und der Mehrheit der Gefangenen aus der RAF drinnen mit der RAF draussen. Das Verhältnis war zerrüttet, das Zerwürfnis total. Die Dreckschleuder war im Dauerbetrieb. Selbst „Weiterstadt“ galt den meisten Gefangenen nur noch als Aktionismus ohne politische Bestimmung. Der Grossteil der Gefangenen warf der RAF vor, im Geheimbund mit den Gefangenen aus der JVA Celle einen „Deal“ mit dem Staat eingefädelt zu haben. Das böse Wort vom „Ausverkauf“ machte die Runde. Alle Dementi der RAF blieben wirkungslos. Oft reicht es, wenn sich ein Eindruck festgefressen hat. Das Urteil steht. Keine Chance auf Revision.
Annahmen und Nachreden reichten, um die vermeintliche Unerschütterlichkeit des „RAF-Komplexes“ ad absurdum zu führen. Porös und fragil zeigte sich die bundesdeutsche Stadtguerilla samt ihres klein gewordenem Anhangs. Ein Offenbarungseid. Ein stiller Abgesang setzte ein. Die Aktivist*innen blieben vor den Knasttoren aktionslos, RAF-Gefangene und inhaftierte Widerständler*innen wurden nach und nach freigelassen. Nicht nur der realexistierende Sozialismus in der DDR wurde abgewickelt, auch die RAF. Ihr letzter Akt: im März 1998 knipste sie das Licht aus. Die Stadtguerilla war demobilisiert, das Kapitel geschlossen. An Berliner Häuserwänden in „Szenebezirken“ ist zu lesen: „Keine Stadtguerilla ist auch keine Lösung!“