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Bowling for Columbine

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Bowling for Columbine Annie, get your gun

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Kultur

Zwei Bemerkungen möchte ich zu Michael Moores satirischer Dokumentations-Collage vorausschicken.

Michael Moore am Toronto Film Festival, 2009.
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Michael Moore am Toronto Film Festival, 2009. Foto: Josh Jensen (CC BY-SA 2.0 cropped)

Datum 27. November 2018
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„Bowling for Columbine“ [1] sollte man keinesfalls zum Anlass nehmen, anti-amerikanische Vorurteile und Klischees zu fördern. Der Film handelt sicherlich in gewissem Sinn von spezifischen US-amerikanischen Problemen, allein die Vereinigten Staaten sind keine ausserirdische Insel, auf der alles ganz anders ist als bei uns.

Das Bild vom hochgerüsteten amerikanischen Weltpolizisten, der blutrünstig über den Erdball zieht, hat wie jedes Bild zwei Seiten: eine, die in der Realität verwurzelt ist, und eine des Trügerischen, des Feindbildes, beispielsweise einer dem Wahn vermeintlicher Gewaltlosigkeit verfallenen Intelligenz, die sich bei uns längst zum selbst erklärten moralischen Apostel erhoben hat und in gleichem Atemzug doch so äusserst ungern über die Ursachen und Zusammenhänge von Gewalt (übrigens vor allem: struktureller Gewalt) kommuniziert – wie der Teufel, der das Weihwasser fürchtet.

Ausdruck dieser Geisteshaltung ist die, insbesondere von Politikern und „Medienexperten“ interessiert vorgebrachte Meinung, Gewalttätigkeit entstehe nicht in sozialen Netzwerken, sondern werde von „gewalttätigen Filmen“ oder / und Video-/Internet-Spielen à la Counterstrike in Bewegung gesetzt – ein bewusstes Ablenkungsmanöver.

Moore selbst führt in seinem Film ein schlagendes Beispiel für den Irrsinn und die Gefährlichkeit dieser Behauptungen an: In Kanada konsumieren die Jugendlichen genauso viel Horrorfilme oder spielen genauso oft Counterstrike & Co. wie in den USA. Die Zahl der Gewaltverbrechen jedoch ist auf eine untrügerische Weise wesentlich niedriger als im Nachbarland. Es bleibt dabei: Gewalt entsteht durch Frustration, Frustration durch Wünsche, wie David Lynch einmal gesagt hat. Wie sich dies konkret abspielt, davon müsste gehandelt werden. Als es noch keine Filme gab, wurden Werke der Literatur für Gewalttaten in die Verantwortung gezogen. Von Goethes Werther wurde z.B. behauptet, er sei für Selbstmorde verantwortlich zu machen. Der erste „Kinomörder“ wurde 1907 „entdeckt“, und es ist erstaunlich, wie heute vor allem das visuelle Medium par excellence, das Fernsehen, an dieser Schraube des behaupteten Zusammenhangs von Kino und Gewalt dreht [2].

Moore – meine zweite Vorbemerkung – ist Satiriker, plakativer Collage-Künstler und realistischer Dokumentarfilmer in einem. Zuweilen schlägt ihm das ins Kreuz, etwa wenn er Armut im wesentlichen auf Arbeitslosigkeit verkürzt und nicht als strukturelles und komplexes Phänomen darstellt, in dem aus struktureller Gewalt physische Gewalt werden kann. Zum Glück für den Betrachter sind die plakativen Statements visueller und verbaler Art in „Bowling for Columbine“ jedoch sparsam gesät, so dass der Film insgesamt darunter nicht leidet.

Ausgangspunkt für den hartnäckigen, im positiven Sinn skrupellosen Michael Moore ist die Frage, wie es zu der mit Abstand weltweit höchsten Todesrate von mehr als 10.000 „gun deaths“ pro Jahr in den USA kommt (wobei die Zahl der Gewaltverbrechen insgesamt in den Vereinigten Staaten seit einigen Jahren rückläufig ist!). Moore hat vordergründig kein Konzept.

Er rennt einfach los, nach Littleton, an die Columbine High School, an der dieses schreckliche Massaker stattfand, an die kanadische Grenze, nach Toronto, zu Charlton Heston, prominentes Mitglied und Vorsitzender der National Rifle Association, die das Recht jedes Amerikaners auf Besitz, Tragen, Laden und Einsatz von Waffen aller Art propagiert und sich nicht scheute, kurz nach dem Columbine-Massaker in der Nähe eine waffenklirrende und Feindbild-orientierte Versammlung abzuhalten, in seine Heimat, nach Flint, in der ein sechsjähriger Junge ein gleichaltriges Mädchen erschossen hatte, zum Bruder des Oklahoma-City-Attentäters Terry Nichols, James Nichols.

Moore interviewt Leute aus Littleton, u.a. einen Mann, der sich über diese schreckliche, alles überwältigende, erschreckende Normalität der Leute beklagt, die Kinder von Beginn an in ein bestimmtes Fahrwasser des Lebens führen; er spricht mit Goth-Rocker Marilyn Manson, der bei stockkonservativen Amerikanern für das Blutbad in Columbine mit verantwortlich gemacht wurde, usw.

Moore ist auf Spurensuche. Er klopft Argumente ab. Ist es allein die erschreckende Zahl der Waffen, die Jugendliche von früh auf die Möglichkeit eröffnen, selbst einmal damit ihrer Wut Ausdruck zu verleihen? 250 Millionen Waffen lagern in amerikanischen Privathaushalten. Munition ist in Supermärkten so gut wie frei verkäuflich, bei K-Mart zum Beispiel.

Ist es die amerikanische Geschichte, die eine Blutspur hinter sich her zieht – von der Ausrottung der Indianer, der Versklavung der Schwarzen, über die Kriege der vergangenen Jahrzehnte bis hin zur Bush-Politik der Weltpolizei-Macht? Moore zeigt einen rasant gedrehten Comic, in dem dies satirisch dargestellt wird. Sind es die katastrophengeilen Medien, die Tag für Tag über Mord, Totschlag, Gewaltverbrechen anderer Art Angst und Schrecken verbreiten, der mit der Realität wenig zu tun hat?

„Ich hätte diesen Film auch
schon vor zehn Jahren machen können,
denn es geht nur vordergründig um
Columbine oder etwa um Waffen.
Amerika war vor zehn Jahren genau
so wie heute. Der Film handelt von
unserer Kultur der Angst und wie
unsere Angst uns zu Gewaltakten
auf häuslicher und internationalerEbene führt“
(Michael Moore).

Bei der Spurensuche Moores kann man nie sicher sein, ob das, was er zeigt, nun wahr oder gestellt ist. Wenn er in Kanada von einem Haus zum anderen geht und alle Türen sind offen – wurde das vorher abgesprochen? Oder haben die Kanadier deutlich weniger Angst vor Verbrechen als ihre amerikanischen Nachbarn? Moore eröffnet bei einer Bank ein Konto. Die Bank verspricht jedem, der das tut, die kostenlose Übergabe einer Waffe. Gestellt oder echt?

Es ist dieses Spiel zwischen Sicherheit und Angst, Realität und Phantasie, brutalen Fakten und satirischer Überspitzung, das die Spurensuche Moores erschreckend und belustigend zugleich werden lässt. Moore findet keine unumstösslichen Antworten auf seine zentrale Frage, aber einen Ausgangspunkt für eine Antwort: die unglaubliche und von den Medien unglaublich geförderte Angst und das damit korrespondierende übertriebene Sicherheitsbedürfnis vieler Amerikaner, Opfer von Gewalttaten zu werden. Für beides gibt es Spuren der Erklärung in der amerikanischen Geschichte wie in der politischen und sozialen Gegenwart.

Gerade nach dem Terroranschlag des 11. September 2001 ist Moore eine mutige Collage gelungen, in der er genau diesen Zusammenhang von (panischer) Angst und (extremem) Sicherheitsbedürfnis im wesentlichen exzellent verfolgt. Dabei ist Moore nicht etwa ein Revolutionär, ein anti-amerikanischer Amerikaner, sondern vielleicht der bissigste Sozialkritiker und Patriot in einer Person – immerhin auch Mitglied der waffenstarrenden NRA. Gerade weil er amerikanische Geschichte nicht in einem verwissenschaftlichtem Trockenkurs, sondern in einem vielleicht zwei, drei Minuten dauernden Comic auf satirische Art nahe bringt, ist seine Aussage überzeugend – überzeugend nicht als letztgültige Antwort, sondern als Katalysator, um über die Momente dieser Geschichte nachzudenken, die Angst, Paranoia und Sicherheitswahn beflügeln. Die Geschichte der amerikanischen Siedler ist eben auch eine des Gefühls der permanenten Gefahrenlage. Die Ausrottung der Indianer verkehrt sich so in einem Akt der Herstellung öffentlichen Bewusstseins zur chronischen Angstpsychose von einer stets allgegenwärtigen Bedrohungssituation. [3]

Hinzu kommt der Rassismus gegenüber den aus Afrika „importierten“ Sklaven, die Entstehung des Ku Klux Clan und der NRA, fast zur gleichen Zeit, – und damit eine neue Bedrohungssituation. Es ist bezeichnend, wie sich auch hier das Täter-Opfer-Verhältnis ins Gegenteil verkehrt. Bis in die heutige Medienlandschaft hinein hält sich – auch das zeigt Moore – das ideologisch gefärbte und verkehrte Bild von einer schwarzen kriminellen Bevölkerung vor allem in den Grossstädten, die die Weissen zwang in die Vorstädte auszuweichen, um dort – abgeschottet und verschlossen in ihren Einfamilienhäusern und mit der geladenen Waffe unter dem Kopfkissen – der Gefahr harren und trotzen.

Last but not least führt Moore die amerikanische Aussenpolitik der „absoluten“ Stärke und der „absoluten“ Sicherheit vor, eine Politik, die – man kann schon sagen: masslos – den Schmetterlingsschlag in irgendeinem Zipfel der Welt zu einer Bedrohung der eigenen Sicherheit deklariert [4].

Man mag an einzelnen Aussagen Moores zweifeln, seine politische Grundhaltung nicht teilen. Eines jedoch ist sicher: „Bowling for Columbine“ ist eine zweistündige Achterbahnfahrt, die zum Nachdenken genug Anlass gibt und zudem – angesichts solcher Ereignisse wie in Erfurt – weder eine inneramerikanische Angelegenheit ist, noch zu anti-amerikanischen Ressentiments Anlass gibt. Es ist immer einfach und letztlich folgenlos zu sagen: „Die Amis, die spinnen.“ Warum sie „spinnen“ und warum auch bei uns daheim viele „spinnen“ – das sind die Fragen, die einen bewegen sollten. Moores Film ist für alle, die das tun wollen, ein absolutes Muss.

Ulrich Behrens

Fussnoten:

[1] Der Titel bezieht sich auf die Tatsache, dass die beiden Jugendlichen Dylan Klebold und Eric Harris wenige Stunden vor dem von ihnen verübten Massaker an der Columbine High School, bei dem zwölf Schüler und ein Lehrer getötet und viele andere schwer verletzt wurden, ihren Bowling-Kurs besuchten.

[2] Ich empfehle in diesem Zusammenhang einen Artikel von Thorsten Lorenz in der „Frankfurter Rundschau“, „Wenn das Kino töten könnte. Medien-Mörder: Über den Ursprung eines pädagogischen Wahns“ (FR vom 2.11.2002):

[3] In dem Zeichentrickfilm heisst es: „Das Erste, das man als Kind über die amerikanische Geschichte lernt, ist: ,Die Pilger kamen nach Amerika, weil sie Angst vor Verfolgung hatten.' Sie hatten Angst. Und was geschah dann? Die Pilger kamen, voller Angst, begegneten den Indianern und hatten noch mehr Angst vor ihnen, also brachten sie sie um. Dann bekamen sie Angst voreinander, begannen Hexen zu sehen und verbrannten sie; dann gewannen sie die Revolution, aber sie hatten Angst, dass die Briten zurückkämen. Also verfasst jemand das Second Amendment (beinhaltet das per Verfassung verbriefte Recht auf das Tragen von Waffen), das sagt: 'Lasst uns unsere Waffen behalten, weil die Engländer zurückkommen könnten.' Was passiert? Die Briten kommen zurück! Was ist das Schlimmste, was einem Paranoiker zustossen kann? Wenn seine Ängste wahr werden!“ „Mittlerweile sagen alle: 'Verdammt gut, dass wir die Waffen behalten haben!' Whoaaaa, Second Amendment, gute Idee!“

[4] Vgl Moores Buch „Stupid White Men. Eine Abrechnung mit dem Amerika unter George W. Bush“, 329 Seiten (Piper-Verlag, € 12,-, seit dem 1.10.2002 auf in deutscher Übersetzung auf dem Markt), sowie die hier als PDF-Datei erhältliche Pressedokumentation (25 Seiten).

Bowling for Columbine

USA

2002

-

114 min.

Regie: Michael Moore

Drehbuch: Michael Moore

Darsteller: Charlton Heston, Marilyn Manson, Michael Moore

Produktion: Charles Bishop

Musik: Jeff Gibbs

Kamera: Brian Danitz, Michael McDonough

Schnitt: Kurt Engfehr