„Ganz im Sinne der Solidarität haben wir versucht, auf hierarchische Strukturen zu verzichten“, sagt Karina Arias Muñoz, technische Sekretärin des internationalen Komitees und Co-Organisatorin des Forums. „Das hat viel Kraft gekostet, gerade hier in Mexiko, einem super hierarchischen Land.“ Bei den über 120 selbstverwalteten Aktivitäten, Workshops und Diskussionsrunden rund um das Thema Migration mutete die Internetseite und das Programm des Forums zwar bis zuletzt etwas chaotisch an. Doch schienen sich alle Teilnehmenden in der Sache einig: Menschenrechte müssen gegenüber nach nationaler Sicherheit strebender Staaten verteidigt werden, für Migration und Bewegungsfreiheit als Menschenrecht, für Solidarität in Diversität.
Unter den Achsen Menschenrechte, Grenzen, Lobbyarbeit, Kapitalismus, Geschlecht, Klimawandel und transnationale Dynamiken wurden Aktivitäten mit jeweils spezifischen Themen angeboten. „Es sind eher komplementäre Visionen als Widersprüche, die hier aufeinandertreffen. Trennen wir Migration vom Thema Sicherheit, betrachten wir Migration mehr als das soziale Phänomen, das es ist“, meint Arias Muñoz.
Kulturzentrum Tlatelolco
Ort der Veranstaltung ist das Kulturzentrum Tlatelolco – ein Ort, der Geschichten der Rebellion und Repression erzählt: Auf dem Gelände steht die erste Kirche des Ortsteils, errichtet zur Zeiten der spanischen Eroberung im 16. Jahrhundert. Unter ihr begraben: eine Pyramide der Mexicas, der ursprünglichen Population der Region, die dem spanischen Konquistadoren Hernán Cortés und seinen Truppen ganze 80 Tage Widerstand leistete und schliesslich niedergeschlagen wurde.Aber auch die jüngere Geschichte des Veranstaltungsortes ist eine der Unterdrückung: Es war hier, wo sich kurz vor den Olympischen Sommerspielen im Jahr 1968 Studierende zu einem friedlichen Protest gegen die Regierung versammelten. Die Demonstration endete in einem blutigen Massaker, bei dem das mexikanische Militär zusammen mit der Polizei hunderte der Protestierenden tötete und mehr als 1300 Menschen gefangen nahm.
Und noch mehr Geschichtsträchtigkeit schwebt über Tlatelolco, dem Forum und schliesslich über Mexiko: Am 2. November (und praktisch das ganze Wochenende) feierte das Land den Día de los Muertos, den Tag der Toten. In Gedenken an die verstorbenen der eigenen Familie wurden Strassen mit knallorangen Blumen der Sorte Cempasúchil geschmückt, Flatterbänder in unterschiedlichen Farben über Strassen und Wege gespannt, Altäre geschmückt und Gesichter wie Totenköpfe bemalt. Laut der VeranstalterInnen hat man diesen Tag bewusst für das Forum ausgewählt – zum einen, um der Welt die aus der indigenen Kultur stammende mexikanische Tradition des Totenfestes näherzubringen; zum anderen, um den vielen MigrantInnen zu gedenken, die auf ihrem Weg ihr Leben verloren und verlieren.
Kleine und grosse Kämpfe für globale Solidarität
Auf dem sogenannten Platz der drei Kulturen, inmitten der Gebäude aus präspanischer und spanischer Zeit sowie aus jüngster Moderne, herrscht dennoch heitere Stimmung: Unter den Flatterbändern im Hauptzelt verkauft ein Mann Tacos aus einem Korb, daneben gibt es guatemaltekisches Handwerkskunst zu bestaunen. Es wird gegessen und gesungen, getanzt und geklatscht. „Ist es nicht absurd, dass wir über Mauern sprechen?“, fragt Natalia Serna, Sängerin der auftretenden Band Corazon Norte. Ihrer Ukulele entlockt sie Melodien, die wehmütig machen. „Ich habe mir lange Zeit über die öffentliche Politik den Kopf zerbrochen. Es ist frustrierend. Seit dem ist meine Welt sehr klein geworden. Ich kümmere mich um das, was ich ändern kann – in meiner Stadt, mit meinen Freunden“, sagt sie.Die kleinen Kämpfe mit den grossen verbinden, das Lokale mit dem Globalen – das ist Ziel des Forums. Es geht um die Anerkennung der Tatsache, dass die Staaten dieser Welt miteinander in Verbindung stehen, findet auch Elisabeth Ibarra aus Guatemala, Vertreterin der Associación Coordinadora Comunitaria de Servicios para la Salud (ACCSS): „Die sogenannten entwickelten Länder sind von den Rohstoffen unserer kleinen Länder abhängig. Dabei sind diese kleinen Länder des Südens nicht unterentwickelt, sie sind nicht arm. Sie sind verarmte Länder. Sie sind keine verwundbaren Länder, sie werden verwundet. Das ist in der Strategie eines Systems begründet, des kapitalistischen Systems, das sich gerade in einer schrecklichen Phase befindet.“ Hierin liege die Ursache der globalen Migrationsbewegungen und auch der aktuellen zentralamerikanischen MigrantInnenkarawanen begründet, meint Ibarra.
Schätzungsweise machen sich jährlich etwa eine halbe Million Menschen auf den Weg durch Mexiko in Richtung der Vereinigten Staaten, wobei die meisten aus den Ländern des nördlichen Länderdreiecks Mittelamerikas (Honduras, Guatemala und El Salvador) stammen. Gewalt, organisierte Kriminalität und Armut sind der Motor ihrer Suche nach besseren Lebensbedingungen. Was am 13. Oktober dieses Jahres als Karawane von nur 160 Personen in Honduras begann, hat sich mittlerweile zu einer zentralamerikanischen Bewegung entwickelt, innerhalb derer sich immer mehr Menschen für ihre Reise zusammenschliessen, um sich gegenseitigen Schutz zu bieten.
Am vergangenen Sonntag trafen rund 2.200 Reisende der Karawane aus dem südöstlichen Vera Cruz, Mexiko, in der mexikanischen Hauptstadt ein und wurden in der Ciudad Deportiva Magdalena Mixhuca, einem ehemaligen Olympiastadion, untergebracht. Schätzungen der Menschenrechtskommission von Mexiko-Stadt zufolge werden bis Donnerstag weitere 3.300 Menschen erwartet. „Dieses Jahr hat die Karawanenbewegung eine Grössenordnung angenommen, dass sie eine viel stärkere Wirkung entfalten kann – auch im politischen Kontext“, so Karina Arias Muñoz aus dem internationalen Komitee des Forums.
Perspektivenwechsel durch VR-Brillen
Eine der grössten auf dem Forum vertretenen Organisationen ist Ärzte ohne Grenzen Mexiko (MSF). In einem eigenen Besucherzelt bereit können InteressentInnen per VR-Brille in die Lebensrealitäten des Südsudans, des Jemens, Syriens, aber auch Mexikos eintauchen. Seit 2012 arbeitet MSF an verschiedenen Punkten der Migrationsrouten in Mexiko. „Mit der restriktiven Migrationspolitik der USA im Jahr 2018 ist das Bedürfnis medizinischer Hilfe in diesem Bereich exponentiell gestiegen“, sagt Maria Hernández, Koordinatorin des transmigrantischen Länderprojekts von MSF. Gerade vor zwei Wochen habe die Organisation daher eine weitere Anlaufstelle in Nuevo Laredo, Tamaulipas, eröffnet. „Dabei sind die Karawanen, von denen derzeit überall die Rede ist, eigentlich bloss ein Tropfen – ein Tropfen in dem Regen von Menschen, die sich permanent, aber unsichtbar, Richtung Norden bewegen und Unterstützung benötigen.“ Darauf will die Organisation aufmerksam machen.Visibilisierung – in beinah jeder Diskussion ein Schlagwort. Klar, dass die Aufmerksamkeit dabei nicht gleich überall sein kann. Zum Beispiel nicht bei Saúl Verde Castillo und Fiore Stella Bran Aragón aus Nicaragua. Die beiden Studierenden mussten ihr Land verlassen, weil sie politische Repression und Verfolgung durch das Regime unter Daniel Ortega fürchten. Die Gelegenheit des Forums nutzen sie, um die Welt an der Situation in Nicaragua aus ihrer und der Perspektive der Universitätsgemeinschaft für Demokratie und Gerechtigkeit der Universität Universidad Nacional Autónomoa de Nicaragua, Managua (UNAN), der sie angehören, teilhaben zu lassen. „Wir scheinen hier fast die einzigen aus Nicaragua zu sein“, sagt Bran Aragón. „Dabei ist es wichtig, darüber zu sprechen, was in Nicaragua geschieht.“
Die Studierenden erzählen von Reformen der Sozialversicherung und des Steuersystems durch das Regime, Kontrolle und Zensur der Medien, von brutal niedergeschlagenen Protesten, davon, wie 24.000 junge Menschen im Exil staatlicherVerfolgung entgehen und von Morden an Studierenden, die sich dem Regime Daniel Ortegas widersetzen. Ihre Worte hallen zwischen den Zeltwänden auf dem Platz der drei Kulturen wider, in dessen Mitte ein steinernes Monument an die einst hier getöteten Demonstrierenden erinnert.
Jemand hat eine Spur aus Blumen gelegt, die auf das Monument zu führt. In der Mitte ein paar Schuhe, aufgeweicht vom Regen. Die meisten wüssten nicht, dass so viele Menschen aus Nicaragua nach Mexiko fliehen, sagt Bran Aragón. Aber auch sie seien Teil der MigrantInnenkarawanen. „Mich beunruhigt, dass die lateinamerikanische Linke in Europa so romantisiert wird“, sagt Bran Aragón. „Aber unsere Realität ist komplex. Sie handelt nicht von rechts oder links, sondern von Menschen, die für ihre Rechte kämpfen.“
„Der Pakt deckt die Interessen mächtiger Staaten.“
Kämpfe gibt es auch um den Global Compact on Safe, Orderly and Regular Migration der Vereinten Nationen – zumindest verbaler Natur. Der Pakt soll bei der im Dezember stattfindenden Generalversammlung der UN in Marrakesch, Marokko, debattiert und verabschiedet werden und ist damit der erste internationale Vertrag, der einen gemeinsamen Ansatz für internationale Migration in all ihren Dimensionen verfolgt.Während man annehmen könnte, dass auf dem Weltsozialforum für Migration das angestrebte Abkommen der UN mit offenen Armen empfangen wird, steht die gesamte Veranstaltung diesem allerdings kritisch gegenüber. Und das trotz der Tatsache, dass alle im UN-Migrationspakt verankerten Ziele und Leitlinien unter direktem Einfluss der Zivilgesellschaft in den Pakt aufgenommen wurden. Staaten wie die USA, Österreich, Ungarn, Australien und zuletzt auch Tschechien hatten ihren Ausstieg aus dem Abkommen angekündigt, weil der Pakt ein zu positives Bild der Migration zeichne, Massenmigration befördere oder die staatliche Souveränität in Gefahr bringe. Tatsächlich ist der UN-Migrationspakt nicht rechtlich bindend, er verfolgt viel mehr das Ziel, eine Lücke zu schliessen und ein globales Regelwerk zu Migrationsbewegungen bereitstellen.
Das macht den Pakt weniger mächtig als er zunächst erscheinen mag – es kommt auf den Willen der jeweiligen Regierungen an, die entsprechenden Empfehlungen tatsächlich umzusetzen. Die im Pakt enthaltenden Vorschläge schliessen den besseren Schutz von MigrantInnen, ihrer Rechte, Lebens- und Arbeitsbedingungen ein; gleichzeitig soll der Pakt Hilfestellungen geben, die Datenlage bezüglich internationaler Migration zu verbessern, um Fluchtursachen zu bekämpfen und auf einen „ganzheitlichen, sicheren und koordinierten Grenzschutz“ hinzuarbeiten.
„Der Pakt deckt die Interessen mächtiger Staaten“, meint Ibarra aus Guatemala (ACCSS) kopfschüttelnd. „Wir hoffen, dass dieses Forum samt seiner Initiativen sich weiter auf den Pakt auswirkt und von hier aus weitere Forderungen mit aufgenommen werden. Hier auf dem Forum sieht man, was Migration wirklich bedeutet.“
Zwischen Wahl- und Wegwerfmigration
So ähnlich steht es am Ende des Forums auch in der Abschlusserklärung der Veranstaltung, die unter Applaus der Teilnehmenden im Salon Juarez des Kulturzentrums Tlatelolco vorgelesen wird. „Die endgültige Fassung des Paktes ähnelt eher einem Instrument, das den reichen Ländern dient, um Migration entsprechend ihrer Interessen zu kontrollieren.“ Obwohl einige positive Prinzipien des Paktes durchaus bekräftigt werden, bemängeln die unterzeichnenden Organisationen den starken Fokus des UN-Migrationspakts auf nationalstaatliche Sicherheitspolitik.Sie befürchten, dass der Pakt die Kriminalisierung und Ausgrenzung von MigrantInnen rechtfertigen könnte und kritisieren, dass das soziale Phänomen Migration durch das Abkommen in zwei geteilt werde: in „gewählte Migration“, die von Ländern des Nordens gewollt ist und gut ausgebildete MigrantInnen einschliesst – und in „Wegwerfmigration“. Aber was stattdessen? „Ein alternativer Pakt, der sich für die menschliche Sicherheit einsetzt, nicht für nationalstaatliche Interessen“, meint Raúl Delgado Wise, Vertreter des Internationalen Netzwerks für Migration und Entwicklung Mexiko (Red Internacional de Migración y Desarrollo).
Es ist von Sanctuary Cities die Rede, der Schaffung eines Städtenetzwerks, das sich gegen xenophobe Praktiken ihrer nationalen Regierungen wehrt und solidarische Bündnisse koordiniert. Barcelona und San Francisco werden als Musterbeispiele angeführt, es wird über das Wort „sanctuary“ und seine religiösen Konnotationen gestritten, um Aufmerksamkeit und Anerkennung gekämpft – und hinter der eigenen Sache vielleicht manchmal das grosse Ganze aus den Augen verloren – während im Stadion Ciudad Deportiva Magdalena Mixhuca von Mexiko-Stadt der Platz nicht ausreicht, um alle ankommenden Menschen der MigrantInnenkarawane zu beherbergen.