Westlich ausgebildeter Nationgründer
In seinen Vorstellungen einer freien Gesellschaft war Machno beeinflusst von den Ideen der anarchistischen Theoretiker und Aktivisten Michail Bakunin und Fürst Kropotkin.Machno selbst trat nicht als Ideologe der Anarchie in Erscheinung; er war um die praktische Umsetzung anarchistischer Ideen bemüht, indem er inmitten des Bürgerkriegs im nachrevolutionären Russland wenigstens in Ansätzen einen freien Güter-Austausch zwischen Stadt und Land durchzusetzen versuchte. Damit stand er in Gegensatz zu den Bolschewiki und insbesondere zu Trotzki, der die ukrainischen Bauern und deren Räte unter ein Regime der Zwangsabgaben bringen wollte.
Die Voraussetzungen für die Entstehung einer anarchistischen Volksbewegung waren in Russland im allgemeinen und in der Ukraine im besonderen nicht günstig. Die Despotie, die sich in Russland über Jahrhunderte unter byzantinischem und tatarischem Einfluss gebildet hatte, war im Laufe des 19. Jahrhunderts in einen Polizeistaat übergegangen. Die überwiegende Mehrheit des Volkes hatte bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts aus Leibeigenen bestanden.
Im Milieu eines noch „halb barbarischen Volkes“ (Alfred Hettner) übten die russisch-orthodoxe Kirche und die zaristische Beamtenschaft auf örtlicher Ebene unumschränkte Macht aus. Beide, Kirche und Bürokratie, waren extrem hierarchisch strukturiert. Einer starren Liturgie im Gottesdienst entsprach ein nicht weniger starrer Formalismus im Verwaltungshandeln. Dabei arbeitete die zaristische Staatsmaschine mit „ungeheurer Reibung“ (Hettner). Verordnungen standen oft nur auf dem Papier und wurden nicht ausgeführt.
Bereits 1908 wurde Machno unter der Zarenherrschaft wegen anarchistischer Aktivitäten zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt. In der Gefangenschaft erkrankte er an Tuberkulose; ihm wurde ein Teil der Lunge entfernt. Während der Februarrevolution von 1917 wurde Machno in Russland befreit und kehrte in die Ukraine zurück, wo er im lokalen Umfeld begann, die Bauern und Arbeiter zu organisieren. Die Ukraine hatte im März 1918 mit dem Frieden von Brest-Litowsk vorübergehend (bis 1920) ihre politische Unabhängigkeit von Sowjet-Russland erlangt. Die Machno-Bewegung wuchs schnell. Zur Zeit ihrer grössten Ausdehnung beherrschten die Anhänger Machnos mit bis zu 30.000 freiwilligen Partisanen etwa 100.000 km² der Ukraine mit 7 Millionen Einwohnern. Der monarchistische Ataman Skoropadskyj wurde im November 1918 vertrieben.
Nach Rückkehr Machnos in die Ukraine kam es dort bereits vor der Oktoberrevolution von 1917 und vor dem Erlass des Land-Dekrets durch die Bolschewiki zur Enteignung von Grossgrundbesitzern und Unternehmern und zur Errichtung von anarchistischen „Kommunen“. Das Eingreifen anderer militärischer Verbände mündete in langwierige Kriegshandlungen aus, in denen die Machno-Bewegung, die „Machnowschtschina“, über vier Jahre ihre Positionen erfolgreich gegen die gegenrevolutionäre „Weisse Armee“ verteidigte. Die Armee Machnos war durch Verwendung von mit Pferden oder Maultieren bespannten (und oft mit Maschinengewehren bestückten) Kutschen und Bauernwagen hoch beweglich und hatte auch durch ihre Verwurzelung in der bäuerlichen Bevölkerung logistische Vorteile.
Offiziere Denikins wurden nach deren Gefangennahme durch Machno-Leute meist erschossen. Einfache Soldaten der Denikin-Armee liess man dagegen laufen, nachdem man sie ihrer Oberbekleidung beraubt hatte. (Uniformen beziehungsweise Kleidung überhaupt waren während der Bürgerkriegswirren noch knapper als Waffen und Munition.) Machno lehnte Verhandlungen mit den Weissen ab und schlug sich 1920 nach einer Phase des Partisanenkriegs gegen die sowjetische Regierung wieder auf die Seite der Roten Armee.
Infolge dessen liess er mehrere Abgesandte General Wrangels bei ihrer Ankunft erhängen. Nach dem Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg war es die zunächst mit der Machnowschtschina verbündete Rote Armee, die die Bewegung endgültig gewaltsam niederschlug. Machno selbst, mehrfach verwundet und wegen der Spätfolgen der Tuberkulose kränkelnd, konnte über Rumänien und andere Exilstationen nach Frankreich fliehen, wo er 1934 in einem Armenasyl verstarb.