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Eberstädter Donnerkeil - Teil II

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Subkultur und Verfall (TEIL II) Eberstädter Donnerkeil

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Im ersten Teil dieses Schriebs versuchte ich, einen Überblick über den Verfall der Dinge als Manifestation von Sub- bzw. Gegenkultur zu geben. Im Verfall der Dinge, meine ich, richtet sich der Widerstand gegen das gesellschaftliche Establishment ein. Das Establishment hingegen lässt die Menschen verfallen.

Eberstädter Donnerkeil - Teil II.
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Eberstädter Donnerkeil - Teil II. Foto: Steve Jurvetson (CC BY 2.0 cropped)

Datum 8. Juni 1999
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KorrekturKorrektur
So die These meiner Dissertation (Uni Bremen 1995). Inzwischen ist diese Dissertation als Ding längst verfallen. Sie geistert umher und hat vermutlich in der rohen Schreibmaschinen-Kopier-Kunst mehr Leser erreicht als ein "ordentliches" Buch. Das Ding "Dissertation" verfiel in den letzten Jahren in Auszüge und Zettelchen, "Papers of Poetry" und allerlei Zitate und Ausrisse.

Eine grosse Chance bot Max H. mit seinem Zetterl Vertrieb "Eberstädter Donnerkeil". Und so gab es den Teil I von "Subkultur und Verfall". Verfallene Dissertation, schmutzig, ruinös und renitent.

Dass es so lange gedauert hat, bis dieser zweite Teil aus der mechanischen Schreibmaschine quoll, meint einen Zeitverfall, einen Verfall der Gesetzmässigkeit, dass auf Teil I notwendigerweise SOFORT ein Teil II folgen müsse.

Das wäre totes Schreiben. Und ich bevorzuge das sprudelnde Herausplappern, das den Verfall der Schrift als lebendiges Plaudern ermöglicht. Worte aufs Papier und weg damit. Mein Wort in Henry Millers Ohren. In Kapitel 3.2.1. der Dissertation zeigte ich ein Verfallsprodukt, das Schutz vor dem Establishment bietet, der Geheimgang, das Erdloch, unterirdische Korridore, direkt wie auch in übertragenem Sinn: Gänge, Erdlöcher, Tunnels allgemein.

Das Phänomen des Verstecks (S.73 ff.). Ich werde auf eine Traumreise durch die Zitate gehen. Der schwarze Wein der Verfallsschreibe möge berauschen.

"Es gibt in Europa Menschenfabriken und unterirdische Operationssäle, wo Leute aus der Bevölkerung körperlich und geistig umfunktioniert werden..." meinte Adelheid Streidel, die Attentäterin Lafontaines. Ob nun derartige Dinge existieren oder nicht, sei dahingestellt.

Interessant ist hier lediglich, dass das Empfinden einer Entfremdung und Steuerung des Einzelnen in der heutigen Gesellschaft durch Mechanismen genau auf das bezogen wird, was - rhizomatisch (Deleuze / Guattari) - andere Realität als die offizielle bekundet: das Erdloch.

Subkultur im Erdloch. Lustig ist das Zigeunerleben, anders als das offizielle Federbett: "Wenn wir auch kein Federbett haben, faria, faria, ho, tun wir uns ein Loch ausgraben, faria, faria ho, legen Moos und Reisig rein, das soll unser Federbett sein, faria, faria, faria, faria, faria, faria, ho."

Über Herbert Achternbuschs Film "Das letzte Loch" berichtet die Dissertation: "Der Hauptdarsteller Nil, Aussenseiter der Gesellschaft, lebt in einem Loch auf einem Wiesenhügel. Dort versuchen zwei Polizisten, die die Namen "Grünes Arschloch" und "Blöde Wolke" tragen, ihn in seinem Loch zu verbrennen, indem sie den Hügel anzünden.

Im entstehenden Dunst verwechselt die "blöde Wolke" das "grüne Arschloch" mit dem aus seinem Erdloch fliehenden Nil und erschiesst ihn." Der Traum schreitet fort: "Man steigt in einen Kanalschacht in der La Salle Street und lässt sich von den Abwässern treiben.

Man kann es nicht verfehlen, denn es ist mit weisser Kreide in zehn Fuss hohen Buchstaben beschriftet.

Wenn man es gefunden hat, muss man sich lediglich wie eine Kanalratte schütteln und sich abbürsten." (Henry Miller: "Der klimatisierte Alptraum").

In einem Erdloch leben oft aber auch einzelne Aussteiger aus der offiziellen Kultur. So wurde kürzlich die Geschichte von Alfons Treml bekannt, einem Mann, der 30 Jahre lang im Wald bei dem oberpfälzischen Botzersreuth (bei Neustadt an der Waldnaab) lebte.

Erzählungen gingen dahin, dass er es im Dorf nicht ausgehalten habe. Eine Publikation führte dies zusätzlich auf Liebeskummer zurück. Alfons Treml lebte in einer selbstgebauten Höhle.

"Was den Treml Alfons in den Wald trieb, wissen nur wenige in den idyllischen Dörfern der Gemeinde Püchersreuth. Die Wahrheit steht in dem Tagebuch: der Treml Alfons war in jungen Jahren unglücklich verliebt. Das "Winter-Annerl" erwiderte diese Liebe nicht und heiratete in einen Bauernhof in Pillersreuth ein. Selbst ein Antrag mit einer Heiligenfigur im Elternhaus hatte keinen Erfolg.

Verletzt zog sich der junge Alfons in den Wald zurück, wo er Sommer wie Winter in verschiedenen, selbstgebauten Höhlen lebte, von denen nur wenige später gefunden wurden." Büchners Woyzeck schliesslich:

WOYZECK: Still, hörst du's, Andres, hörst du's? Es geht was!
ANDRES: Frassen ab das grüne, grüne Gras. Bis auf den Rasen.
WOYZECK: Es geht hinter mir, unter mir (stampft auf den Boden) Hohl, hörst du? Alles hohl da unten. Die Freimaurer!
ANDRES: Ich fürcht mich.
WOYZECK: S'ist so kurios still. Man möcht den Atem halten. Andres!
ANDRES: Was?
WOYZECK: Red was! (starrt in die Gegend) Andres! Wie hell! Über der Stadt ist alles Glut! Ein Feuer fährt um den Himmel und ein Getös herunter wie Posaunen. Wie's heraufzieht! Fort! Sieh nicht hinter dich! (Reisst ihn ins Gebüsch.)

Woyzeck, "Held" des gleichnamigen Theaterstücks von Georg Büchner, spürt das Andersartige, Fremde, anderen Gesetzen Gehorchende. Er weiss es nicht zu benennen, was sich drunten im Erdloch abspielt - obwohl er es genau wahrnimmt. Schliesslich projiziert er es auf Freimaurer, die er dort drunten vermutet.

Weitere Erdloch-Träume: das Pariser Gangsystem ("Les Catacombes"), die Erdlöcher des Dagobert (der Karstadt-Erpresser, der die Geldübergabe in einer Kiste anordnete, die über einem Kanalisationsschacht steht. Unbemerkt taucht er von unten in die Kiste), Grufties in Bunkern, etc. Keine Forschung im Sinne "offizieller" Universitätsdoktrin. Nein, es ist mehr.

Warum sollte auch das getan werden, was offizielle Institutionen fordern?

Wo kämen wir da hin? Wie käme ich als Einzelner dazu, etwas zu tun, was ein anderer festlegt!? Ein Spruch geht mir dabei im Kopf herum. Als William S. Burroughs Ende der 70er-Jahre auf der "Nova Convention" erklärte, er sei kein Politiker, sondern ein freier Mensch zog er daraus das, erfrischende Fazit: "I don't have to respect anybody's stupid opinions."

In diesem Sinne: vive la bohème / vive l'anarchie / vive la poesie... Decay poetry. Verfalls-Literatur. Und so weiter, und so weiter ...

Thomas Stemmer