Bangkok, 22.00 Uhr, nahe Patpongroad
Ausgerüstet mit zwei Gitarren, einem Kassettenrekorder als Verstärker und einer Blechkiste, um das ganze rhythmisch zu stützen.Etwa zwanzig Meter vor uns erblickte ich einen Typen, der aussah, als wäre er ziemlich am Ende. Sich an seinem Didgeridoo (diesem beliebten Instrument der Aborigines) stützend, machte er einen unmotivierten und leeren Eindruck. Ach ja! Jetzt erkannte ich ihn.
Ich hatte ihn bereits einige Male in meinem Guesthouse getroffen. Er hiess Jim, war Australier und wusste eigentlich nicht so recht was tun.
Zurück wollte er aber auch nicht. Jedenfalls stand er nun vor uns in seiner ganzen Pracht: Eingehüllt in einem überlangen Hemd der Bundeswehr, welches bedeckt war mit Haaren, die aussahen, als würden sie regelmässig mit Kuhmist behandelt.
"Hey Jim, Du siehst ziemlich abgefuckt aus!", meinte Richard. "Jeah, habe auch schon ein paar Bier in mir." Natürlich wurden wir noch über den genauen Grund seiner Verstimmtheit aufgeklärt. Jim hatte für diesen Abend noch keine weibliche Partnerin gefunden, was ihm in Anbetracht seines alkoholisierten Zustandes ziemlich zusetzte. "Wieso gehst du nicht rüber in eines der Bordelle und fragst ein Mädchen, ob sie dir einen runter holt?". Das wollte er aber doch nicht, das sei nicht seine Art, die Prostitution zu fördern und so. Was er wollte, war nämlich ein "good-girl" rumkriegen - eines von den Thai-Mädchen, die ihre Unschuld bis zur Heirat bewahren und dieses unverkennbare, einladende, zugleich aber auch schüchtern distanzierte Lächeln besitzen.
Schlussendlich beschloss er jedoch, sich uns anzuschliessen, und so trotteten wir im berühmt-berüchtigten Amüsierviertel Bangkoks weiter unserem Ziel entgegen. Irgendwann tauchte einer dieser 24-Stunden Supermärkte auf, und ich dachte daran, mich mit Bier einzudecken. Jim kam mit mir. Ich bewegte mich in Richtung Kühlfächer, während sich Jim plötzlich sehr zielstrebig in entgegengesetzter Richtung davonmachte.
Bald entdeckte ich die Ursache seiner plötzlichen Hast: Zwei zierliche Thaigirls, die sich offensichtlich nicht für eine der vielen Eissorten entscheiden konnten. Als sie jedoch diesen Typen (Jim) erblickten, der sich nicht eben diskret von hinten an sie heranmachte und mit einem leeren Blick angaffte, verliessen sie sichtlich verärgert den Supermarkt und liessen einen verdutzten Jim hinter sich. Tja, dachte ich, ein bisschen Wissen in Basic-Thai hätte im vielleicht geholfen.
23.00 Uhr, McDonald's, Patpongroad
Wir setzten uns auf die unteren Treppenstufen. Es war sehr lärmig, vor uns rauschte der allabendliche Verkehr wie eine riesige Blechlawine vorbei. Bereits ein wenig angetrunken betrachtete ich die Umgebung: Hinter der Strasse das Ende der Patpongroad mit den grellen Lichtern, direkt vor unsunzählige, vorbeiziehende Menschen, viele Thais, sehr gut gekleidet, meist in Gruppen.
Freundlich lächelnd oder eher misstrauisch beobachtend schlenderten sie vorbei. Ich beobachtete ein junges Mädchen in aus dem Norden Thalilands stammenden, traditionellen Meo-Kleidung, das mit einer Blechbüchse in der Hand Touristen um Almosen bat - leider mit wenig Erfolg.
"Mami, mami look at your son, you might have loved me but now I've got a gun. You better get out of my way 'cause I think I had a bad day..." Es fing an mir langsam Spass zu machen.
Diverse Blicke richteten sich bereits auf uns, und einige Leute begannen einen Halbkreis zu bilden. Martin fing an, sich zu verlieren. Er begann richtig zu schreien, während er seine Gitarre wie ein Waschbrett schrubbte.
Die ganze Szenerie wirkte etwas irreal auf mich, Allein schon die Tatsache, dass sie in Bangkok stattfand. Ich war mir nämlich durchaus bewusst, dass sich unser benehmen nichtso leicht in die Verhaltensmuster der Thais einordnen liess. Ich meine damit, es ist nicht so ihr Ding, in der Öffentlichkeit auszurasten. Man benimmt sich seinem sozialen Status entsprechend, was besonders für uns als "reiche Farangs" (westliche Ausländer) gelten müsste.
Um so mehr machte es Spass, zu provozieren. Wir schienen trotz des miesen Sounds - die Gitarren, durch den Radio verstärkt, klangen wie Motorsägen, und der Gesang wurde beinahe durch den Strassenlärm übertönt - viele Leute recht gut zu amüsieren. Immer wieder wurden Münzen oder gar Noten von vergnügt lächelnden Menschen in das bereitstehende Gitarrencase geworfen. Hinter uns bildete sich gar eine richtige Fangemeinde: Teenager, Jungs und Mädchen, meist mit McDonald's Milchshake ausgerüstet.
Einer von ihnen überreichte mir etwas verlegen einen Zettel, auf dem "Nirvana, smells like teen spirit" stand.
Natürlich waren wir gerne bereit, seinem Wunsch zu entsprechen. Was folgte war zwar mehr Parodie als eine gelungene Coverversion dieses "Kultsongs", aber die Leute schienen es trotzdem zu mögen. Alles in allem war es ein geglücktes Konzert, wenn ich da nicht diese Gestalt gesehen hätte. Es handelte sich um einen auf Krücken gestützten Mann mit nur einem Bein.
Das besondere an ihm war, dass er uns mit seinem Blick eingehend fixierte. Es war mir plötzlich nicht mehr möglich, mit gleicher Intensität meine Blechkiste zu bearbeiten. Mir war klar, dass er sich seinen Lebensunterhalt durch betteln auf der Strasse erkämpfen musste. Und nun sah er uns, weisse Touristen, die sich amüsierend, locker das zehnfache seiner Tageseinnahmen in ein paar Stunden verdienten.
Ich versuchte in seine Augen zu schauen, konnte aber darin nicht die geringste Spur von Neid oder Hass entdecken. Es war mehr Faszination, glaube ich...
Eine halbe Stunde später mochten wir nicht mehr spielen. Wir zählten das Geld: 600 Bath (ca. 30 Schweizerfranken). Ich gab dem Mann mit den Krücken 20 Bath und kaufte mit dem Rest Bier.
01.00 Uhr, Supermarkt, Patpong
Nur noch Richard und ich waren übriggeblieben. Ziemlich betrunken sassen wir vor einem Supermarkt und betrachteten die Strasse. Wir waren eben mit einem Spiel beschäftigt, bei dem es darum geht, die vorbeigehenden Passanten nach ihrem Geschlecht zu bestimmen.Gar nicht so einfach, wenn man bedenkt, dass wir uns in einem Quartier befanden, das mit Sicherheit die grösste Dichte an sogenannten "Lady-boys" in ganz Thailand aufweist. Bei "Lady-boys" handelt es sich um Männer, die sich als Frauen fühlen und dieses Geschlecht mit Hormonpillen und entsprechender Kleidung approximieren wollen.
Das grösste Ziel eines jeden Transvestiten ist es, genügend Geld für eine Geschlechtsumwandlung zu sparen. Dies erreichen sie meist durch Engagements in Tanzshows zur Unterhaltung von Touristen, vor allem in Pattaya und Bangkok.
Ein Transvestit schlenderte an uns vorbei, der nun beim besten Willen nicht für eine Frau gehalten werden konnte. Richard war es nicht möglich, sich ein Lachen zu verkneifen. - Ich dachte an die letzten zwei Monate, die ich in verschiedenen Bergdörfern im Norden Thailands verbracht hatte. Was für Gegensätze! Und dennoch sind auch diese Leute alle Buddhisten. Sie kennen die Lehren Buddhas und sind bemüht, wann immer möglich, ihr Schicksal durch Darbringung von Opfergaben zu ihren Gunsten zu beeinflussen.
Man schien sich hier zweifellos zu amüsieren. Auch die Thai-Mädchen machten nicht gerade den Eindruck, als würden sie von irgendwelchen Schicksalsschlägen zum Verkauf ihres Körpers gezwungen. Das Lokal und die Stimmung darin machten auf mich einen abstossenden, gleichzeitig aber auch anziehenden Eindruck.
In der Mitte der Tanzfläche versuchten zwei Jungs, wahrscheinlich Deutsche, mittels neuester Tanzbewegungen den umherstehenden Mädchen zu imponieren. Ihre alkoholbeeinflussten, affenartigen Posen und Bewegungen hatten aber eher etwas tragisches an sich. Gleich neben mir sass ein fetter Mann mit Glubschaugen, wahrscheinlich auch ein Deutscher, der unentwegt seinen Blick zwischen Taille und Brüste der Mädchen hin und herwandern liess.
Im ganzen Raum herrschte eine Atmosphäre der Begierde, der Lust. Ganz klar: dies war der Tempel des schnellen Sex, der flüchtigen Kontakte, aber vor allem der einsamen Seelen. Plötzlich setzte sich ein Mädchen neben mich. Eine warme Welle durchflutete meinen ganzen Körper. Sie lächelte mich an - ein verzauberndes Lächeln. Sie war unheimlich schön; die Worte blieben mir im Munde stecken.
"You want drink?"
"Äh, yes", entgegnete ich zögernd.
Kurz darauf kam der Kellner mit zwei Mekong-Cola zurück.
"What's your name?"
"Peter".
"Your eye very beautifull!"
Ich lächelte verlegen, während ich ihre Hand auf meinem Oberschenkel spürte. Eine erneute Welle der Erregung durchfuhr meinen Körper. Gleichzeitig fühlte ich jedoch auch ein unangenehmer Druck in der
Magengegend."Where you from?"
"Switzerland".
"Ohh, you richmoney!!"
Wieder meldete sich mein Magen, kein Wunder nach all den Bieren, dachte ich. "You like Thailand?"
Ich konnte ihr die Frage nicht mehr beantworten. Ich stand auf und entschuldigte mich bei ihr für einen Moment. Mein einziger Wunsch war jetzt, mich zu übergeben. Eiligst bahnte ich mir einen Weg durch die Menge. Kurz vor dem WC stoppte mich jedoch ein Mann, wahrscheinlich ein Toilettenaufseher.
"Hey Mister, can not go, people fucking inside!!", meinte er, während er mit der Faust auf die hohle Hand schlagend, die Bewegung des Geschlechtsaktes nachahmte. "Fuck!" fluchte ich und beugte mich über eines der Pissoires. Da lag es nun, das 25 Bath fried-rice vermischt mit Pisse.
Ich hatte genug, fühlte mich hundeelend. Das Mädchen von vorhin war nicht mehr zu sehen. Ist auch besser so, dachte ich. Schnellstens packte ich meine Sachen und eilte nach draussen. Ein frischer Wind empfing mich gleich an der Tür. Es hatte geregnet. Die Strassen voll Müll und ein paar armselig gekleidete Männer und Frauen damit beschäftigt, diesen wegzuwischen.
Ich trottete von dannen, während ich über die letzte Frage meiner Verehrerin nachdachte:
"Do you like Thailand?"