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Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher

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Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher Erinnerungen zwischen Wirklichkeit und Fiktion

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Belletristik

Die Gewalt des Erinnerns kann die Vergangenheit in die Gegenwart holen und damit schon längst vergessene oder verdrängte Probleme wiederbeleben. Wie gehen wir damit um?

Abbas Khider am Erlanger Poetenfest 2022.
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Abbas Khider am Erlanger Poetenfest 2022. Foto: Kritzolina (CC-BY 4.0 cropped)

Datum 3. April 2023
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Said Al-Wahid, der Protagonist in Abbas Khiders „Der Erinnerungsfälscher“, möchte Schriftsteller werden. Er hat jedoch ein Problem, denn er kann sich an Vergangenes kaum erinnern. Strassen, Namen, Gesichter sind verblasst. Wie sollte er so über seine Vergangenheit schreiben?

„Eines Tages beschloss er, zum Arzt zu gehen. Der, bei dem er den frühesten Termin erhalten hatte, empfahl ihm nach einem zwanzigminütigen Gespräch, sich an ein ‚Behandlungszentrum für Folteropfer' zu wenden. Psychotherapie sei dringend empfohlen. Dort könne man mit solchen Traumata gut umgehen. Typisch, dachte Said. Wenn ein Migrant mit etwas kommt, das man in Deutschland nicht begreift, nennt man es ‚Trauma'.“ (S. 47)

Die Bezeichnung Trauma sagt Said nicht zu, da diese einschränkt und ihn passiv macht. Er müsse sich an Vergessenes erinnern können. Darin steckt eine Pathosformel der Gegenwart. „Ein anständiger Mensch erinnert sich, und er erinnert sich gerne, verdrängt nichts, sondern ist ständig bestrebt, die Vergangenheit aufzuarbeiten.“ (Nagy/Wintersteiner 2015, S. 15) Dieser Verpflichtung zur Erinnerung steht ein Vergessen gegenüber, das nicht ausschliesslich negativ besetzt ist. Aleida Assmann unterscheidet in ihrem Buch über das Vergessen sieben verschiedene Formen, wobei die Funktionen dieser Formen sehr unterschiedliche sind. Grundsätzlich beschreibt sie den Vorgang des Erinnerns in einem engen Zusammenhang mit dem Vergessen. Zu erinnern entspreche mehr dem Akt einer Wiederholung oder Wiedererkennung, wobei die erinnerte Situation nicht vollständig erfasst werden könne. Zu erinnern bedeutet also immer auch gleichzeitig, etwas zu vergessen.

„Erinnern ist ja gerade nicht […] mit einem direkten Zugriff auf Wissen gleichzusetzen, sondern entspricht eher der Figur einer ‚Wiederholung' oder ‚Wiedererkennung' über zeitliche Intervalle hinweg.“ (Assmann 2016, S. 16)

Die im Zitat benannte Wiedererkennung zieht sich als roter Faden durch Khiders Erzählung. Said erlebt laufend Erlebnisse an bestimmten Orten zum wiederholten Mal. Die Erinnerungen weichen aber vom Erlebten ab und werden damit verfälscht. In zwölf Abschnitten lesen wir von diesen unterschiedlichen Orten zwischen Deutschland und Irak sowie den Beziehungen dieser Orte mit dem mittlerweile in Berlin lebenden Said. Die verschiedenen Ausschnitte seiner Reise sind fast immer durch einen neuen Ort gekennzeichnet, an dem er unvermeidbar mit der Vergangenheit konfrontiert wird. Auslöser für die verschiedenen Rückblenden ist ein Anruf seines Bruders Hakim, der ihn bittet, nach Bagdad zu kommen, da die Mutter im Sterben liege.

Die Reise zurück

Es sind mittlerweile einige Jahre vergangen, in denen Said nicht mehr im Irak war. Seit er deutscher Staatsbürger ist, war er noch nicht wieder dort. Nun muss er sich sogar mit Visumsfragen auseinandersetzen. Die Versuche, seine Mutter nach Deutschland einzuladen, waren gescheitert, obwohl er gemeinsam mit seinem Bruder Hakim die bürokratischen Auflagen zu erfüllen versuchte. Die Anträge wurden abgelehnt, die Mutter schliesslich unfähig zu reisen. So hat die Mutter Saids Sohn, den Enkel in Deutschland, nie persönlich kennen lernen können. Und mittlerweile scheinen auch Saids Erinnerungen an seine Mutter, insbesondere die aus seiner Kindheit, zu verschwinden.

„Said versucht, sich daran zu erinnern, welche Spiele seine Mutter mit ihm als Kind gespielt hat. Es ist merkwürdig. Er kann sich an nichts erinnern. Hat Saids Mutter nur gearbeitet und nie Zeit gehabt, mit ihren Kindern zu spielen? Oder hat er die Antwort im Labyrinth seines Gedächtnisses verloren?“ (S. 34f.)

Das so bezeichnete Labyrinth seines Gedächtnisses lässt Said aktiv sein, da er immer wieder auf Abwegen nach verschiedenen Stellen der Erinnerung suchen kann, um die Szenen mit seiner Mutter in die Gegenwart zurückholen. Im Gegensatz dazu ist die Erinnerung an seinen Vater ganz blass. Dieser taucht nicht einmal im Irrgarten der Vergangenheit auf: „Said Al-Wahid war acht Jahre alt, als sein Vater hingerichtet wurde. An ihn erinnert er sich kaum.“ (S. 38) Es ist auch nicht bekannt, wo sein Vater beerdigt wurde.

Erinnerungen bestehen bei Said aus Fetzen, die nicht zu einem Ganzen vervollständigt werden können. „Jedes Mal wenn er etwas aus der Vergangenheit hervorholte, fühlte er sich im Nachhinein erschöpft und litt an Kopfschmerzen.“ (S. 46) Erinnern, so zeigt Khider anhand des Protagonisten, kann einschränken und schlimme Erfahrungen wiedererwecken. Wenn traumatische Erlebnisse imaginär wiederholt werden, befindet man sich in einer Situation, die bereits zuvor ausweglos erschien. In Berlin ist Said mit seiner Familie, Monica und Illias, beschäftigt. Während sie zur Arbeit geht, bringt er den Sohn in die Kita. Danach kann er sich seinen Schreibarbeiten widmen. Dies geht allerdings nur in Deutschland, wo das Vergessen oder auch Verdrängen ermöglicht, den Alltag zu organisieren. Als Said nach Bagdad reist, befallen ihn Fetzen der Erinnerung und reissen ihn aus dem gegenwärtigen Sein heraus. Mit Assmann gedacht, geht mit dem Vergessen eine Kraft einher, die vieles ermöglicht, was das Erinnern verunmöglicht.

„Woher, wenn nicht aus dem Vergessen, könnte sonst der Mensch, der von Enttäuschungen, Rückschlägen und Leiden gebeugt ist, die Kraft und den Mut nehmen, sich immer wieder von Neuem den widrigen Umständen zu stellen?“ (Assmann 2016, S. 58)

Die Möglichkeit, aus dem eigenen Unvermögen wieder herauszukommen, wird Said in Deutschland gelingen.

Erinnerungen erfinden

Für Said sind die Erinnerungsfetzen eine grosse Qual, sodass er bereits am Beginn des Schreibprozesses ins Stocken gerät: „Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reissen. Ein Leben kann schön und erträglich sein – wenn man diese Orte meidet.“ (S. 47f.) Als er im Internet recherchiert, findet er den Begriff der Erinnerungsfälschung. Er kommt zur Erkenntnis, dass die Erinnerungslücken ihm nicht verbieten, über die Wirklichkeit zu schreiben, sondern es ermöglichen, sich durch die Fiktion mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Er kann „Erinnerungen erfinden“ (S. 48). So entstehen neue Wirklichkeiten, die ihn ermächtigen, seine Vergangenheit in einer anderen Ordnung zu denken. Dadurch ist er in der Lage zu schreiben.

Zu Beginn des Romans heisst es: „Wer in den Irak geht, ist verloren, wer rausgeht, wird neu geboren.“ (S. 19) Diese Neugeburt ist zunächst mit einem rigorosen Vergessen zu bezahlen, das erst einem Erinnern weichen kann, als er in Deutschland einen dauerhaften Aufenthaltsstatus bekommt und später sogar die Staatsbürgerschaft annehmen kann. So löst er sich vom irakischen Staat und kann diesem bei seiner Rückreise neu begegnen. Die Schichten der Vergangenheit lösen sich mit der Reise nach Bagdad eine nach der anderen langsam auf. Sie vermengen die Erinnerungsfetzen zu grösseren Bildern, die er selbst zusammenstellen kann. Auch wenn diese nie vollständig werden, ist Said produktiv mit seiner Vergangenheit konfrontiert, sodass die Fetzen zu einzelnen Szenen seiner Biografie werden, die erzählt werden können. Auch wenn er sich weiterhin unsicher ist, ob ein Ereignis sich wirklich so zugetragen hat oder beim ersten Irakbesuch geschah, beim zweiten Irakbesuch stattfand oder überhaupt ein Produkt seiner Fantasie war, kann er sich nun seinen Wunden stellen und erfährt das Potenzial einer Heilung. Bei der Familie seines Bruders blickt er schlussendlich auf die Bilder an der Wand. „Er hasst Fotos, hat noch nie welche gesammelt. Fotos aufzubewahren, ist, wie Wunden zu sammeln. Daran glaubt er. Doch jetzt steht er dem Familienfoto gegenüber.“ (S. 125)

In der Fiktion Möglichkeiten nachspüren

Abbas Khiders Roman zeigt, wie eine gewaltvolle Vergangenheit die Gegenwart stark beeinflussen kann. Said nimmt es gar nicht mehr so schwer, dass er nicht alles detailliert erinnern kann. In seinen Rückblenden setzt er sich aktiv mit seiner Vergangenheit auseinander, sodass daraus Geschichten resultieren, die in ihm das Gefühl von Frieden hervorbringen. Erinnerungen zu fälschen bedeutet letztendlich auch, die Kraft der Literatur hervorzuheben: Sie vermag es mit Hilfe von Fiktion, Erinnerungen oder Geschichten zu betreten, die sonst verborgen geblieben wären.

Erinnerungsfälschungen erlauben einen Zugriff auf die Vergangenheit, ohne dass diese die Gegenwart überschreibt. Said möchte weiterhin Heimweh und Sehnsüchte haben sowie die Fähigkeit, die Welt neu zu gestalten. An einer Stelle im Buch wird dies mit dem Träumen gleichgesetzt. „Said träumt viel zu viel. Bedauerlicherweise erinnert er sich, wenn er aufwacht, nur an Bruchstücke der Träume. Im Schlaf erlebt Said sein in ihm versunkenes Leben erneut.“ (S. 49) Es ist gerade dieses erneute Erleben, das in der Gegenwart seine Vergangenheit verändert. Er lässt sich nicht mehr von ihr bestimmen, sondern bestimmt über sie. Die Minenfelder werden begehbar und manche Minen entschärft.

Das hier vorgeführte literarische Erinnern durch Said zeigt, dass es nicht auf höchst präzise Wirklichkeitsdarstellungen ankommt, sondern es geht darum, einen Zugang zu Erfahrungen herzustellen, die sowohl subjektive Wahrnehmungen als auch Emotionen offenlegen und damit ein „Erinnern von unten“ ermöglichen. Abbas Khider führt hier auch ein Erinnern vor, das sich gegen eine nationale Geschichtsschreibung stellt. Literatur ermöglicht fiktionales Erinnern, das die individuellen Erfahrungen ins Zentrum rückt, nicht nur als Mittel der Bewältigung, sondern auch als Konfrontation mit kollektiven Erinnerungen.

Andreas Hudelist
kritisch-lesen.de

Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher. Hanser Literatur, Berlin 2022. 128 Seiten. 24.00 SFr. ISBN: 978 3446272743.

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