Der Brief mit der Kündigung, den Resi „zur Kenntnis“ erhält, ist Ausgangspunkt und Auslöser für ihr Erzählen. Es entwickelt sich jedoch weder ein Abenteuerroman über die Wohnungssuche in Berlin noch eine Dystopie oder Utopie über Wohnungspolitik. Vielmehr dient die Frage, wie man wohnt, der Erzählerin als Anlass, die Lebenssituation ihrer eigenen Familie und der Familien ihrer Freund*innen genau zu beobachten. Das Wohnen ist dabei ein Kristallisationspunkt von Klassen- und Familienstrukturen, die direkte Verzahnung von Privatem und Politischem.
Gibt es ein Recht auf Wohnen in der Innenstadt?
Der Roman ist nicht chronologisch erzählt, sondern springt immer wieder in Situationen, die Resi gegenwärtig relevant erscheinen. Eine frühe Episode spielt in der schwäbischen Provinz und ihrer Jugend, in der Wohnung ihrer Eltern und den Häusern der aus wohlhabenderen Familien stammenden Freund*innen. Zusammen mit diesen Freund*innen zieht Resi nach Berlin, in ein Haus, das unter ihr unklaren Umständen in den Besitz des Vaters eines dieser Freunde geraten war. Doch die Pläne vom gemeinsamen Leben, Wohnen und Arbeiten werden verworfen. Am Ende, erinnert sich Resi,„wurden wir der Reihe nach schwanger, zogen paarweise zusammen, sträubten uns vielleicht noch ein bisschen, blieben noch ein paar Monate in der WG oder allein, bis die Logistik dann doch zu kompliziert wurde, das Widerstreben albern, die alten Pläne eingerollt – was gar nicht ging, dazu waren sie längst nicht konkret genug gewesen“ (S. 132).
Aus dem Freundeskreis wird daraufhin eine Baugruppe, die ihren Traum realisiert und gemeinsam ein Haus baut. Resi und ihre Familie steigen nicht mit ein, die nötigen Eigenanteile können sie nicht aufbringen. Sie übernehmen den Mietvertrag eines Freundes aus der Baugruppe und bleiben damit in unmittelbarer Nähe wohnen. Die Klassenunterschiede im Freundeskreis schlagen sich damit direkt in der Wohnsituation nieder. Und obwohl sie es nie wollte und sich kein Geld geliehen hat, ist Resi somit abhängig von dem Freund, dessen Untermieterin sie geworden ist. Als dieser ihr nun kündigt, werden die finanziellen Differenzen zu einer nicht länger zu leugnenden Realität und Resi sieht sich schon mit ihrer Familie nach Marzahn ziehen. Denn: „Es gibt kein Recht auf Wohnen im Innenstadtbezirk“ (S. 24), zitiert Resi ein Mitglied des Berliner Bausenats aus dem Gedächtnis und entsprechende Äusserungen kann man verschiedenenorts nachlesen.
Eine Kammer für sich allein
Neben dem Wohnen sind Reflexionen über Familie, Mutterschaft und deren gesellschaftliche Bedingungen sowie die Beschreibungen des Schreibprozesses selbst wichtige Themen des Romans. Diese drei Stränge finden im kleinsten Raum der Altbauwohnung im Prenzlauer Berg zusammen: Die Kammer, in der normalerweise die Waschmaschine steht, hat sich Resi als Arbeitsplatz eingerichtet. Damit hat sie sich geschaffen, was ihre Mutter nicht hatte – ein eigenes Zimmer. Als junges Mädchen hat Resi versucht, der Mutter ein Stück von ihrem Kinderzimmer abzugeben, und ist damit gescheitert. „Wenn das hier ein Roman wäre, wäre das wohl die Schlüsselszene“ (S. 157), bemerkt die erwachsene Resi über diese Episode. Und tatsächlich erscheint die Bedeutung, die Resi ihrer Kammer beimisst, als unmittelbare Konsequenz aus der eigenen Jugend. Gleiches gilt noch stärker für den unbedingten Willen, ihrer Tochter alles über die eigenen Einschränkungen und über die harte gesellschaftliche Realität mitzuteilen. Deshalb wird die vierzehnjährige Bea über weite Strecken direkt adressiert – ein gelungenes Stilmittel, das die Intimität, die Direktheit und die Dringlichkeit der Sprache plausibilisiert.In der Kammer hat Resi auch den Roman geschrieben, dessentwegen sich die Baugruppe von ihr abgewendet hat, dessentwegen Freundschaften – und in der Folge auch Wohnungen – gekündigt wurden. Die Querverbindung zu Anke Stellings Roman „Bodentiefe Fenster“ von 2015 zu ziehen, liegt auf der Hand. Hier wurde fast noch expliziter der (Alb-)Traum vom Leben in einem gemeinsamen Haus aus der Perspektive Sandras beschrieben, die selbst Mitglied der Baugruppe ist. Dieses preisgekrönte Buch – auch diese Prämierung wird in „Schäfchen im Trockenen“ aufgegriffen – muss man nicht gelesen haben, um den Nachfolger zu verstehen. Die Lektüre lohnt aber nicht nur, um tiefer in die Referenzen einzusteigen, sondern auch, um sich noch intensiver mit (Un-)Möglichkeiten gemeinschaftlichen Wohnens in der aktuellen Gesellschaft zu beschäftigen.
Wahrheit ist ein Kampfbegriff
Sandra aus „Bodentiefe Fenster“ ist nicht Resi, auch wenn beiden mit Kassandra (Hellseherin in der griech. Mythologie) und Parrhesia (altgriech.: Redefreiheit) antike Figuren als Namenspatinnen gegeben werden, die den Weg zum hellsichtigen Aussprechen unliebsamer Wahrheiten ebnen. Und weder Sandra noch Resi sind Anke. Trotzdem wird die Trennung von Autorin und Erzählerinnen nicht nur für die Figuren im Roman unscharf. Immer wieder verweist der Text auf seine Gemachtheit – das Schreiben wird thematisiert und die Fiktionalität der Erzählung in Frage gestellt. Mehr noch, Resi bezeichnet sie als „wahr“, und das ist, wie sie ihrer Tochter gegenüber erklärt, „ein Kampfbegriff“:„Damit plausibilisiere ich meine Geschichte auf ziemliche plumpe Art und Weise; geschickter wäre es, davon auszugehen, dass sie von alleine wahrscheinlich erscheint. […] In Wahrheit sind das natürlich alles nur Worte. Wahre Worte, sicher, wieso sollte ich Unsinn verbreiten“ (S. 24).
Immer wieder ertappt man sich entsprechend als Leser*in dabei, über die Faktizität der Geschehnisse, über Parallelen von Erzählerin und Autorin nachzudenken oder beiden Schwarzseherei oder einen bösen bis boshaften Blick vorzuwerfen. Dies nimmt der Roman scharfsinnig vorweg, indem derlei Unterstellungen in den Reaktionen der Freund*innen Resis gespiegelt werden.
Gleichzeitig ringen Resi und ihre Autorin wirklich um Wahrheit, ungeschönte Wahrheit, Wahrheit nicht über konkrete Bauprojekte in Berlin, sondern über Freundschaft und Familie und finanzielle Abhängigkeiten, über Kinder und Küchenfussböden im Kapitalismus. Gekämpft wird nicht zuletzt auch um oder für ein Klassenbewusstsein, das Resi ihrer eigenen Meinung nach viel zu spät entwickelt hat. Fast nebenbei verhandelt Stellings Roman ausserdem noch Fragen über Kunstfreiheit und die Möglichkeiten, gesellschaftlich relevante Literatur zu schreiben – und ist dabei unverspielt selbstreflexiv, sprachlich treffend und stilistisch beeindruckend. Für die Parrhesia sollten wir „Schäfchen im Trockenen“ dankbar sein, auch wenn sie schwer auszuhalten ist.