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Carmen Maria Machado: Das Archiv der Träume

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Carmen Maria Machado: Das Archiv der Träume Im Haus der Herrscherin

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Belletristik

Ein autobiografischer Text erzählt von Gewalt und Missbrauch in einer queeren Beziehung und das Überwinden der eigenen Sprachlosigkeit.

Die US-amerikanische Essayistin und Kritikerin Carmen Maria Machado, November 2017.
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Die US-amerikanische Essayistin und Kritikerin Carmen Maria Machado, November 2017. Foto: Carmen Maria Machado (CC-BY-SA 4.0 cropped)

Datum 10. März 2023
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Es steht ein Haus in Indiana, das birgt die Geschichte einer ersten lesbischen Beziehung. Beide Frauen sind Schriftstellerinnen und lernen sich in Iowa City kennen. Ihre Begegnungen sind intensiv. Und schnell entwickelt sich zwischen ihnen eine enge Bindung. Mit dem Umzug der einen – sie bleibt über den ganzen Text hinweg namenlos – in ein Einfamilienhaus in Indiana taucht die leitmotivische Beziehungskulisse auf: das Traumhaus.

Chronologisch breitet Carmen Maria Machado in ihrer zweiten Veröffentlichung „Das Archiv der Träume“ – ins Deutsche übersetzt von Anna Nina Kroll – Szenen eines Verhältnisses aus, das anfangs von der Euphorie einer neu erlebten, queeren Zweisamkeit und von rastlosem Begehren geprägt ist, in welchem sich die Ich-Erzählerin, die den Namen der Autorin trägt, aber zunehmend in Situationen mit ihrer gewaltsamen Partnerin konfrontiert sieht. Sind es zu Beginn scheinbar kleine Grenzüberschreitungen der Anderen, wird „Das Archiv der Träume“ nach und nach zu einer Chronik psychischer Gewalt.

Ein Traumhaus wird zum Albtraum

Machados Partnerin, eine charismatische, zierliche Harvard-Absolventin, kontrolliert, kommandiert und manipuliert. Sie lässt die Erzählerin ohne Geld mitten in New York zurück oder jagt sie durch das Traumhaus. Sie straft sie mit eisigem Schweigen und überrollt sie im nächsten Moment mit einer Lawine von Anrufen und Beschimpfungen. Sie isoliert Machado von ihren Freund*innen und zerstört nach und nach ihren Sinn für Realität, bis die Erzählerin tief verunsichert ihrer eigenen Wahrnehmung misstraut. Und: sie verbietet ihr, die Beziehung jemals zum Gegenstand ihres Schreibens zu machen.

Doch Machado schreibt – und hinterfragt gleichzeitig, ob das Geschehene schreibend überhaupt erfasst werden kann. Wie kann von Gewalt in queeren Beziehungen erzählt werden, wenn selbst innerhalb der Community kaum offen darüber gesprochen wird und nur wenige Berichte und Zeugnisse dokumentiert sind? Oft erreichen nur die gewaltvollsten Fälle die Öffentlichkeit und zeigen, wie schlecht die Opfer von der US-Justiz geschützt sind. Für Machado liegt das zum einen an Geschlechterstereotypen, die Frauen selten als Täterinnen denken und hinter Opfern häuslicher Gewalt stets weisse, dünne hetero Frauen vermuten. Gerade in lesbischen Beziehungen werden so Machthierarchien und Gewalt verschleiert und Frauen wie Machado erst gar nicht als Opfer gedacht. Zum anderen fürchtet die Autorin, dass der öffentliche Tabubruch um Missbrauch und Gewalt in queeren Beziehungen schlechte PR für eine Community bringe, die sich sowieso schon an den Rand der Gesellschaft gedrängt sieht: „Queere Menschen brauchen gute PR; für den Kampf um die Rechte, die uns fehlen, und um die zu behalten, die wir haben.“ (S. 303)

Hinzu kommt für sie die Schwierigkeit, die Handlungen ihrer Partnerin überhaupt als eine Form von Gewalt zu erkennen. Hinterher, als die Andere sich längst von ihr getrennt hat, wünscht sie sich, sie hätte „ins Auge stechende blaue Flecken davongetragen“ (S. 299), zweifelsfreie Beweise, die ihre Glaubwürdigkeit garantieren. Denn körperliche Gewalt, so analysiert eine von Machado zitierte Juraprofessorin, wird meist über alle anderen Facetten von Missbrauchserfahrungen gesetzt. Auch wenn Frauen isoliert, emotional und psychisch misshandelt werden, gelten sie juristisch nicht als Opfer, solange keine Körperverletzung vorliegt. „Die meisten Formen häuslicher Gewalt“, so stellt die Erzählerin fest, „sind vollkommen legal.“ (S. 157)

Machados individuelle Erinnerungsarbeit wird zum Kraftakt. Geschichten, die der ihren gleichen, findet sie nur wenige. Von diesen Lücken im kollektiven Gedächtnis sind marginalisierte Personen häufig betroffen. Dass die Archive leer sind, wo ihre Lebensrealitäten hätten repräsentiert sein können, erschwert die persönliche Auseinandersetzung mit Vergangenem. So fällt es viel schwerer, eigene Erfahrungen zu begreifen, zu kontextualisieren und sich darin wiederzuerkennen. Ohne Vorbilder spricht Machado in eine Leere hinein. Denn Archive, so beobachtet die Erzählerin, speichern erst einmal die Geschichten der Menschen, die sozialen Normen entsprechen. Also Menschen, die heterosexuell sind, die weiss sind, die sich klar einem Geschlecht zuordnen lassen. Darauf verweist auch ein von Machado zitierter Theoretiker der Queer Studies: „Wenn man als Historiker*in queeren Erlebens versucht, eine queere Vergangenheit zu dokumentieren, gibt es oft einen Pförtner, nämlich eine heterosexuelle Gegenwart.“ Passend dazu entschlüsselt Machado den Begriff des Archivs bereits im Prolog. Abgeleitet aus dem Altgriechischen lässt sich dieser mit „das Haus des Herrschenden“ übersetzen und verweist damit auf die Macht von Geschichtsschreibung und Kanonisierung. Was nicht zur Sprache kommt, wird nicht erinnert – und existiert damit nicht in der sozialen Welt.

Die neue Architektur eines Memoires

Um sich dem Geschehenen trotz dem Mangel an literarischen Vorbildern anzunähern (zu rekonstruieren), bedient sich Machado gängigen Gattungsgenres, die sie den vielen Kurzkapiteln des Texts als Überschrift vorausstellt. Das Traumhaus als Bildungsroman, als erotische Erzählung oder Textaufgabe, als Mythos, Doppelgänger-Figur oder American Gothic. Genauso wie die in Fussnoten hinterlegten traditionellen Motive aus Märchen und volkstümlichen Geschichten greift sie diese Texttraditionen auf, erweitert sie um eine queere Perspektive oder deutet sie ironisch um. Es ist der Versuch, ihre Geschichte in ein kulturelles Gedächtnis einzubetten und gleichzeitig eine neuartige Form eines Memoirs zu schaffen, in dem sie als queere Frau mit ihrem Begehren und Schmerz im Zentrum steht.

Mit ihren Verweisen auf queere Diskurse und Repräsentation in Filmen und Songtexten, ihren Forschungen zu Missbrauchsfällen in lesbischen Beziehungen und zu juristischen Urteilen fügt Machado ihrem Werk ausserdem eine theoretisch-essayistische Ebene hinzu. So wird „Das Archiv der Träume“ selbst zum Archiv. „Wenn du dieses Buch brauchst, dann ist es für dich“, schreibt Machado in ihrer Widmung und lädt damit alle, die sich in einer ähnlichen Situation wie sie befinden, zur Identifikation ein. Ihr individueller Erinnerungsakt strahlt damit weit über ihre eigene Erfahrung hinaus. Möge dieser Text in ein kollektives Bewusstsein wandern und allen, die ihn brauchen, für die eigene Befreiung zur Verfügung stehen.

Hanna Kopp
kritisch-lesen.de

Carmen Maria Machado: Das Archiv der Träume. Übersetzt von: Anna-Nina Kroll. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 336 Seiten. 27.00 SFr. ISBN: 978-3-608-50450-7.

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