Sie können dieses Kontingent zwar überschreiten, allerdings nur unter Schmerzen: Ab dem 101. Wort, das über ihre Lippen kommt, schickt das hübsche Armband heftige Stromschläge durch den widerständigen Frauenkörper. Bücher und Zeitungen lesen, Briefe schreiben und Verhandlungen führen bleibt den Männern überlassen. Selbst eine kleine Notiz an die Kinder oder den Ehemann verbietet die Regierung, Frauen dürfen keine Stifte und kein Papier mehr kaufen. In Supermärkten, Schulen und Restaurants – überall hängen Kameras, die Ausschau halten, ob Frauen heimlich Gesten machen, die als Zeichensprachen gedeutet werden können.
Angepasst an die neuen Lebensumstände
In dieser Welt lebt Ich-Erzählerin Jean McClellan, die ehemals eine führende Expertin für Sprachstörungen war. Ihre Familie hat sich an die neuen Lebensumstände weitgehend angepasst. Jeans Mann Patrick und die Söhne stellen ihr und ihrer Tochter nur noch Fragen, die die beiden mit möglichst wenigen Wörtern oder einem Kopfnicken oder -schütteln beantworten können. Jean versucht, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie ihren Mann und ihre Söhne nicht hasst: „Mir immer wieder einzureden, dass sie nicht diejenigen sind, die mir dies angetan haben, ist eine Qual.“ (S. 46f.)Wenn Jean ihre sechsjährige Tochter Sonia zu Bett bringt, summt sie die Melodien der Kinderlieder – für den Text fehlen ihr die Worte. Anschliessend steht sie auf der Veranda und betrachtet die Veränderungen in ihrer Nachbarschaft, sieht Frauen, die auf den Boden schauen, um jegliche Interaktion zu vermeiden, und Männer, die sich verhalten, als wäre die Welt völlig in Ordnung. Und sie denkt an ihren Arbeitskollegen Morgan, der für Jean eine Art Prototyp des neuen Mannes verkörpert.
„Morgans Worte kommen mir wieder in den Sinn, sein nüchternes Gerede darüber, dass früher alles besser war, vor langer Zeit, als Männer arbeiteten und Frauen in ihrer Privatsphäre blieben, die aus Kochen, Waschen und Kinderkriegen bestand. Ich habe wohl wirklich nicht geglaubt, dass es passieren würde. Keine von uns. Nach der Wahl gingen uns allmählich die Augen auf. Einige unter uns meldeten sich zum ersten Mal lautstark zu Wort. Vor allem Frauen führten die Anti-Myers-Kampagne an – Frauen wie ich, die noch nie Marschstiefel anprobiert hatten, drängten sich in Busse und U-Bahnen-Wagons und froren im Washingtoner Winter. Männer waren auch darunter, fällt mir ein. Barry und Keith, die drei Jahrzehnte Kampf um Schwulenrechte hinter sich hatten.“ (S. 235f.)
Die US-amerikanische Autorin Christina Dalcher beschreibt die konsequente Unterdrückung von LGTBIQ in ihrem Debütroman „VOX“ radikal und teilweise geradezu plakativ. Dank dieser brachialen Darstellung wird der Schrecken der ausgemalten Welt noch besser spürbar. So kommt sofort die Frage auf: Wird Jeans sechsjährige Tochter Sonia jemals richtig sprechen lernen, wenn sie schon jetzt sprachlich derart eingeschränkt wird? Sie habe eigentlich anfangs nur auf die Bedeutung der Sprache für die Menschheit aufmerksam machen wollen, sagt Christina Dalcher im Interview mit kritisch-lesen.de: „Der sprachliche Aspekt macht mir viel mehr Angst als der politische. Mir eine Welt vorzustellen, in der die Menschen ihrer Sprache beraubt sind, finde ich sehr gruselig. Ich denke, damit würden wir uns selbst zerstören.“ Denn der Sprachverlust sei ein Schrecken, den fast alle Menschen nachvollziehen könnten. Die politische Dimension sei erst später im Schreibprozess hinzugekommen, sagt Dalcher, die selbst einen Doktortitel in Linguistik hat.
Parallelen zur Realität
Die Autorin bezeichnet ihr Buch als reine Fiktion. Gleichzeitig sind die Parallelen zu unserer heutigen Gesellschaft und die Anspielungen auf den aktuellen Rechtsdrift geradezu erschreckend. Und genau das macht „VOX“ so brisant und lesenswert. So kämpfen viele Frauen weltweit gerade für das Recht auf Abtreibung oder fürchten, dass dieses bald eingeschränkt werden könnte.Im Buch stehen Abtreibungen und Verhütung unter Strafe. Bevor sich Donald Trump vor einigen Monaten dafür aussprach, mexikanische Einwanderer*innen von ihren Kindern zu trennen, hatte Christina Dalcher dieses Mittel in „VOX“ bereits zur gängigen Praxis gemacht, um homosexuelle Eltern zur Heterosexualität zu „bekehren“. Feministinnen werden im Buch als „hysterisch“ oder „Feminazis“ beschimpft. Und während sich Rechte wieder die Rollenverteilung der 1950er-Jahre herbeisehnen, sind diese alten Werte in „VOX“ wieder Wirklichkeit. Frauen, die sich dagegen wehren, werden von den Anhängern der fundamentalistischen Regierung zurechtgewiesen – wie Jean von einem Vorgesetzten:
„Vorgesetzter: „Sehen Sie, genau deswegen hat es früher nicht funktioniert. Irgendwas ist immer. Dauernd ein krankes Kind oder eine Aufführung in der Schule oder Menstruationsbeschwerden oder Mutterschutz. Ständig ein Problem.“ (S. 225)
Die Beschreibungen der Sprach- und Aussichtslosigkeit machen besonders die erste Hälfte von „VOX“ zu einem Horror-Schocker – gerade weil das Beschriebene so real und so möglich erscheint. Protagonistin Jean plagen Schuldgefühle. Als sie noch sprechen durfte, hat sie sich um ihre Karriere gekümmert und nicht um die Proteste gegen die aufkommende Bewegung der „Reinen“.
Als bekannt wird, der Bruder des Präsidenten habe ein Hirntrauma erlitten und könne nicht mehr sprechen, soll sie, die frühere Expertin für Sprachstörungen, helfen. Sie willigt ein und wird von Jean wieder zu Dr. McClellan, ihr Wortzähler und der ihrer Tochter werden entfernt, und „VOX“ wird fortan zu einem weitaus weniger spannenden Labor-Liebes-Polit-Krimi.
Während der Plot an Spannung verliert, holt Autorin Christina Dalcher dann doch noch zum politischen Rundumschlag aus – dem geplanten linguistischen Schwerpunkt zum Trotz. Jean lernt ein Paar kennen, das eine Widerstandsbewegung aufbaut, und ihr wird klar, dass sie sich bisher nur um sich selbst gesorgt hat. Dass andere Menschen in viel grösserer Gefahr sind, hat sie ausgeblendet. Die schwarze Sharon öffnet ihr die Augen:
„‚Wie lange dauert es denn Ihrer Meinung nach, bis Reverend Carl und seine heilige Schafherde der Reinen es sich in den Kopf setzen, dass nicht nur Frauen und Männer vor Gott unterschiedlich sind, sondern auch Schwarze und Weisse? Glauben Sie, gemischte Ehen wie meine gehören zum Plan? Wenn, dann sind Sie nicht ganz so intelligent, wie ich dachte.' Ich spüre, wie ich rot werde. ‚Der Gedanke ist mir nie gekommen.' ‚Klar, wie auch? Hören Sie, ich will nicht unhöflich sein, aber ihr weissen Mädels macht euch nur Sorgen um, naja, eben um euch weisse Mädels.'“ (S. 213 f.)
Intersektionaler Feminismus
Christina Dalcher macht sich im Interview mit kritisch-lesen.de für einen „real feminism“ stark und meint damit einen intersektionalen Feminismus. „Sich nur um die eigene kleine Welt kümmern, das meinen Leute normalerweise mit ‚weissem Feminismus'. Das heisst, man hat einen Tunnelblick. Öffne Deine Augen, Baby, es gibt Leute, die haben noch ganz andere Probleme als Du!“In Teilen ist „VOX“ der feministische Thriller, als der er gefeiert wurde. Mit den Beschreibungen der Geschehnisse, die so undenkbar erscheinen und den aktuellen Ereignissen in Teilen doch so ähneln, gelingt es dem Roman, den Leser*innen eine Heidenangst einzujagen, sie aufzurütteln und wütend zu machen. Genau das wünscht sich Christina Dalcher. Die Leser*innen sollen Jean sehen und sich fragen, warum sie nicht früher etwas unternommen hat – und dann selbst in ihrer Realität etwas verändern: „Ich hoffe, dass sie auf sich selbst schauen und wählen gehen und sich mit der Politik auseinandersetzen. Auch kleine Graswurzelbewegungen können Veränderungen bewirken. Also wenn das Buch sie wütend macht und sie zum Handeln bewegt, dann würde mich das als Autorin sehr glücklich machen.“