Als erstes wird der 60-jährige Hüseyin in Istanbul zu Staub. Plötzlich stirbt er an einem Herzinfarkt in seiner gerade erst gekauften Wohnung. Er wollte seine Familie aus Deutschland zu sich holen in die Stadt, die er Anfang der 1970er Jahre als Umsteigeort kennenlernte, auf dem Weg von einem kurdischen Dorf nach Süddeutschland. Dort war er Fabrikarbeiter, seine Frau Emine kümmerte sich um die Kinder. Erfolgreich verdrängt sie ihre Traumata, bis ihre Tochter Sevda sie damit konfrontiert und verlangt, dass Emine emotionale Verantwortung übernimmt. Sie soll ihrer Tochter erklären, warum sie für diese scheinbar keine Liebe empfindet. Für Emine scheint es nach wie vor normal zu sein, sich den Entscheidungen der Älteren unterzuordnen, selbst wenn das bedeutet, das eigene Kind zu verlieren. Doch die Generation nach ihr findet unterschiedliche Wege, um aus dem Traditionalismus auszubrechen – heimlich oder konfrontativ.
Generationenkonflikte und Erwachsen werden
„Dschinns“ von Fatma Aydemir ist kein Familienroman im klassischen Sinn. Er ist vor allem ein Roman, der das Konzept Familie kritisiert und die Enge aufzeigt, in die einen Menschen drängen können, mit denen man notgedrungen aufwächst oder zusammen leben muss. Jedes einzelne Kapitel stellt die Sichtweise und Emotionen eines Familienmitgliedes in den Vordergrund. Diese leben zwar in manchen zeitlichen Abschnitten zusammen, sind aber eigentlich stark voneinander isoliert.Jede Figur hat ihre ganz eigene Sprache – hierin zeigt sich, wie detailliert Aydemir ihre Charaktere gestaltet. Da ist zum Beispiel Ümit, der jüngste Sohn, der nicht nur schlecht Türkisch spricht, sondern generell wenig von sich preisgibt. Dass er sich zu seinem Freund Jonas hingezogen fühlt, traut er sich nicht auszusprechen, sondern schreibt ihm lieber einen Brief. In seiner Stille ist er dennoch verbunden mit seinem Vater Hüseyin, den Deutschland schon lange depressiv gemacht hat. Hakan hingegen, der grosse Bruder, wirkt auf den ersten Blick erstmal wie das Klischee eines Türken, doch Aydemir schafft es schnell zu zeigen, dass unter der Oberfläche vor allem unausgesprochene, unerreichte Wünsche stecken.
Gegen das Urteil, das eine der Figuren über ihre Verwandten fällt, können diese sich im darauffolgenden Kapitel verteidigen – in ihrer eigenen Wahrnehmung und mit ihren eigenen Emotionen. Dabei bleibt Aydemir nicht neutral. Sie schreibt Gespräche auf, die viele junge Menschen mit ihren Eltern in ihrer Fantasie schon oft geführt haben und konfrontiert die ältere Generation mit den eigenen Entscheidungen. So können die Leser:innen gleichzeitig verstehen, warum eine Mutter aus einem kurdischen Dorf ihre Tochter in Deutschland nicht nur nicht zur Schule schickt, sondern sie am liebsten gar nicht aus dem Haus lassen würde; aber sie verstehen auch, dass die jüngere Generation sich nicht mehr abspeisen lässt mit der Erklärung der Älteren: „Das war damals so, Kızım.“
Wichtige Denkanstösse
Neben den persönlichen Geschichten verhandelt Aydemir auch politische Themen. Nicht auf plumpe, propagandistische Weise, sondern als Teil persönlicher Begegnungen. So kann Tochter Peri zwar ihre Mutter nicht vom Feminismus überzeugen, den sie im Universitätsseminar aufgeschnappt hat, doch Peri erkundet ihre kurdische Identität, die zu Hause nie ein Thema war. Ebenso zeichnet Aydemirs Geschichte nach, dass Opfer rassistischer Gewalt nicht automatisch zu revolutionären Kämpfer*innen werden, sondern der Kampf sich auch auf das Überleben in individueller Form beschränken kann. Und zuletzt steigert die Autorin die Dramatik ihrer Geschichte durch die ganz bewusste Wahl des historischen Zeitpunktes: Der August 1999 in Istanbul, in der die heisse Sommerluft und die lauten Geräusche der Stadt wie Vorboten eines Unglücks erscheinen.Wenn Aydemirs Buch dafür kritisiert wird, zu viele Themen gleichzeitig zu verhandeln – Migration, Rassismus, Gendergerechtigkeit, Kurdische Identität, Familienkonflikt und Konservatismus – liegt dies wohl eher an der Beschränktheit der Rezensent:innen, die sich die migrantische Gesellschaft und ihre unterschiedlichen Generationen lieber etwas eindimensionaler wünschen. Dabei ist Dschinns nicht überfrachtet an Themen, sondern stösst viele Gedanken gerade erst an. Dass sich Aydemir nicht immer die Mühe macht, für jedes türkische Wort eine Übersetzung zu liefern, sondern die Leser:innen zwingt, sich mit türkischer Grammatik und Vokabeln zu beschäftigen, ist auch in diesem Licht zu sehen. Der Roman zieht Lesende schnell in seinen Bann und ist eigentlich viel zu schnell vorbei.
Weder müssen deutsche Leser:innen jemals Istanbul gesehen haben, um die Konflikte der Charaktere zu verstehen, noch müsste eine türkische Leser:innenschaft Süddeutschland kennen, um zu verstehen, wie isolierend die Erfahrung der Migration sein kann. Die grosse Stärke von Dschinns ist es, Empathie für jeden der so unterschiedlichen Charaktere hervorzurufen. Die Konflikte zwischen den Familienmitgliedern sind realistisch beschrieben und für die Dramatik der Handlung zentral. Dennoch: Man wünscht man sich hin und wieder, Aydemir hätte ihnen auch noch einige leichte, freudige Momente gegönnt.
Über jede Einzelfigur liesse sich wohl ein eigenes Buch schreiben. Umso passender ist es, dass Dschinns nun in zahlreichen Theatern auf die Bühne kommt, etwa im Gorki Theater Berlin und im Schauspielhaus Düsseldorf, und dort durch die künstlerische Inszenierung auf ganz unterschiedliche Arten interpretiert wird.