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Fernando Pessoa: Ein anarchistischer Bankier

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Fernando Pessoa: Ein anarchistischer Bankier Keine richtige Bank im falschen Kapitalverhältnis

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Belletristik

Auch einhundert Jahre nach der Verfassung der Erzählung liesst sich «Ein anarchistischer Bankier» von Fernando Pessoa kurzweilig und interessant.

Fernando Pessoa im Juni 1935 in Lissabon.
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Fernando Pessoa im Juni 1935 in Lissabon. Foto: Unknown author (PD)

Datum 21. Juni 2023
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An einem verregneten Samstagvormittag las ich auf die Empfehlung einer Person hin die knappe Schrift Ein anarchistischer Bankier von Fernando Pessoa. Der zu seinen Lebzeiten fast unbekannte Schriftsteller, welcher heute als einer der bedeutendsten portugiesischen Schriftsteller mit einem eigenen Stil gilt, hatte die Erzählung 1922 verfasst.

Das Setting ist simpel: Ein völlig bedeutender Gast fragt im Hause seines Gastgebers nach dessen vermeintlicher Vorgeschichte. Er hatte gehört, der erfolgreiche Banker wäre früher Anarchist gewesen. Daraufhin erwidert jener, dass er es immer noch sei; dass er seinen anarchistischen Vorstellungen weit eher gerecht werden würde, als Gewerkschafter oder jene, die individuelle Gewalttaten ausüben. Dieser denkbar weite Widerspruch dient nun zum Anlass einer monologisierenden philosophischen Abhandlung.

Der Gastgeber sieht durchaus die gesellschaftlichen Übel, welche die Anarchist*innen anprangern. Seit seinem jungen Erwachsenenalter habe er ihre Flugblätter gelesen und ihre Diskussionen verfolgt. Daher prangert er die Klassengesellschaft, ebenso wie die Kirche und die institutionalisierte Ehe an. Als Anarchist sieht er diese als widernatürlich und irrational an. Im Sinne einer Stirner'schen Egoismus meint der Gastgeber allerdings, dass diese herrschaftlichen Institutionen und Beziehungen vor allem aus kollektiven Fiktionen ergeben. Daher bringe es nichts, eine Anzahl von Kapitalisten oder Politikern umzubringen oder militante Arbeitskämpfe zu führen. Aufgrund des fiktionalen Charakters gesellschaftlicher Herrschaft, würde diese weiterbestehen und nicht grundlegend überwunden werden.

Die Anarchist*innen, welche dagegen von der Schaffung sozialer Gerechtigkeit motiviert sind und der Vision einer „freien Gesellschaft“ anhängen, welche sie mit verschiedenen Mitteln erkämpfen wollen, propagierten damit unbewusst neue Fiktionen, die es zu problematisieren gilt. Und dies umso mehr, als dass ihre Ideologie sie zu einem dumpfen und bornierten Kollektiv zusammenschweisst, was sich selbst genügt und auf dem Level von mehr oder weniger geteilten Meinungen verharrt. Darüber hinaus verhindere ihre ideologische Verblendung, dass sie sich ernsthaft Gedanken über den Übergang zu einer anderen Gesellschaftsform machen würden.

Der Bankier sinnierte in der Vergangenheit darüber, inwiefern er selbst für die Verwirklichung höherer Idealen wie der sozialen Gerechtigkeit leben sollte, kam aber zum Schluss, dass dies verschwendete Zeit und Energie wäre. Erstens ersetzte er damit bloss eine christliche Haltung, die auf abstrakten Verpflichtungen, Schuld und ausserweltlicher Anerkennung beruht. Zweitens muss es in der anarchistischen Herangehensweise darum gehen, dass sich die Individuen konkret selbst befreien, statt auf eine Erlösung irgendwann oder die Revolution in der Zukunft zu setzen. Drittens stelle der bereits erwähnte Kollektivgeist in der anarchistischen Szene im Grunde genommen ein neue und schwer zu greifende Form von Herrschaft dar. Einzelne ordnen sich dem angenommenen Gemeinschaftssinn unter (der voller Vorurteile, Mutmassungen. Verkürzungen usw. ist), um Anteil an der sozialen Gemeinschaft zu haben.

Umgekehrt möchte der „philosophische Anarchist“ selbstverständlich anderen weder seine Ansichten aufdrücken, noch sich von diesen in seinen eigenen Aktivitäten hemmen lassen. Wenn die stärkste gesellschaftliche Fiktion aber das Geldverhältnis sei, zieht er den vermeintlich konsequenten Schluss, dass er umso freier wäre, je mehr er über Geld verfüge – und sich damit dessen imaginärer Verfügung über ihn entziehen würde. Dass er dazu bestimmte Fähigkeiten, wie Intelligenz und Initiative mitbringe, stimme, wäre allerdings keine „gesellschaftliche Fiktion“, sondern eine natürliche Veranlagungen, die man schlecht kritisieren könne, selbst wenn sie möglicherweise über Generationen (von ungleichen Voraussetzungen) geprägt und damit naturalisiert wurde.

Auch einhundert Jahre nach der Verfassung dieser Erzählung liesst Ein anarchistischer Bankier kurzweilig und ist interessant. Meiner Ansicht führt Pessoas soziale Unfähigkeit, die mit einer blühenden Phantasie einhergeht, zur wichtigen Kritik am Kollektivgeist, welcher sich auch in anarchistischen Szenen finden lässt. Menschen darin übernehmen teilweise irgendwelche Dogmen, Meinungen, romantischen Phrasen, Stile und Feindbilder um sich sozial zugehörig zu fühlen. Der unreflektierte Bullenhass ist sicherlich – trotz aller Berechtigung einer Kritik der Polizei und der Bestrebung, diese vollständig abzuschaffen – einer der deutlichsten Ausdrücke dafür. Ebenso ist die Kritik an der Erschaffung neuer ideologischer Vorstellungswelten und Moralsysteme wichtig.

Problematisch wird es, wenn Pessoa in seiner selbstbezogenen Eigentümlichkeit und seiner Rolle eines verkannten Genies, Menschen abspricht – trotz ihrer ideologischen Prägung, welche sie neue Ideale aufstellen lässt, sowie ihres Bedürfnisses nach sozialer Zugehörigkeit – sich eigene Gedanken zu machen und reflektieren zu können. Weiterhin ist die Folge seiner egoistischen Denkweise, dass er die gesellschaftlichen Voraussetzungen für seine eigenen Fähigkeiten leugnet, obwohl ihm durchaus bewusst ist, dass er über Privilegien verfügt, die aus einem ungerechten gesellschaftlichen Zustand ergeben. In seinem Abwehrreflex, sich dafür „nicht schuldig“ fühlen zu wollen, kommt gerade seine Verhaftung in religiösen Moralsystemen zum Ausdruck, welche ihn nicht zu einer kollektiv gestalteten Ethik führt. In seiner Rebellion gegen den Kollektivgeist, der sich auch in anarchistischen Szenen findet, verweist die krampfhafte Distanzierung dennoch auf den versagten Wunsch nach Anerkennung.

Mit der Betonung des fiktionalen Charakters von Herrschaft gelangt er zu einer tatsächlichen Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, relativiert jedoch die Tatsache, dass Menschen objektiv davon profitieren, während andere in Armut und Dummheit gehalten werden. Daher ist Rechtfertigung der individuellen Selbstbefreiung – welche dann in die absurde Schlussfolgerung mündet, selbst Banker zu werden – eine Überbetonung der persönlichen Handlungsfreiheit, welche ja gerade mit der kämpferischen Veränderung der Bedingungen für sich emanzipierende Gruppen zu erweitern ist. Schliesslich ist es sehr wichtig, auf die imaginäre Dimension von Herrschaftsverhältnissen hinzuweisen, wie es unter Anarchist*innen sicherlich zu selten geschah und geschieht. Zugleich ist diese jedoch ein Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenlebens selbst, kann also auch aktiv, transparent und kollektiv gestaltet werden.

Wie im anarchistischen Egoismus insgesamt, kreist das bürgerliche Subjekt des „anarchistischen Bankiers“ letztendlich um sich selbst – und gelangt damit zu Einsichten, die eine Hinterfragung von Menschen in Szenen und sozialen Bewegungen ermöglichen, welche gleichfalls von den Bedingungen ihrer Zeit geprägt sind. Was die Lektüre Pessoas interessant macht, ist seine ausgeprägte Beobachtungsgabe, die Selbstreflexion über seine spezifische Sichtweise sowie das Wissen um gesellschaftliche Verhältnisse.

Jonathan Eibisch

Fernando Pessoa: Ein anarchistischer Bankier. Wagenbach, 2023. 96 Seiten. ca. SFr. 25.00. ISBN: 978-3-8031-1236-1.