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Ilija Trojanow: Tausend und ein Morgen

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Ilija Trojanow: Tausend und ein Morgen Nur das Unerreichbare ergibt Sinn

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Belletristik

Ilija Trojanow setzt in seinem neuen Buch „Tausend und ein Morgen“ eine geglückte revolutionäre Umwälzung um. Es gibt in seiner aktuellen Gesellschaft keine Kriege mehr, keinen Hunger, keine Herrschaft, keine Unterdrückung, kein Geld, keine Gier.

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Datum 4. Dezember 2024
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KorrekturKorrektur
»Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche, sie ist Kühnheit und Erfindung. Denn sich etwas vorstellen heisst eine Welt bauen, eine Welt erschaffen.« (Eugene Ionesco)

Seit sich der Kapitalismus ohne Verkleidung zeigt, der Kaiser also nackt und in seiner ganzen Hässlichkeit vor uns steht und seine unvermittelte, brutale Herrschaft demonstrativ ausübt, wird es umso dringlicher, unsere eigenen Vorstellungen zu befreien, die denen des Kaisers entgegenstehen, ihnen zu vertrauen, sie unsererseits praktisch werden zu lassen.

Dabei heisst es, gegen die Schwerkraft des Bestehenden anzugehen, denn das, „was existiert, behauptet kraft seiner Existenz, notwendig zu sein“. Und, wie wir eingetrichtert bekommen, nicht nur notwendig, sondern alternativlos! „Was es noch nicht gibt, unterliegt einem Generalverdacht, der verhindert, dass Vernünftiges und Nützliches und Schönes sich durchsetzen ... Es ist so viel einfacher, das Vorhandene zu erhalten.“

Eine grosse Bedeutung hat dabei die Imagination, die geistige Loslösung von all den vielschichtigen Mechanismen der Verwertungsmaschine, in der dieses Leben, dieses Überleben steckt. Das Desertieren, das Nicht-Mitmachen, die Umkehr der Pespektiven als Voraussetzung für die Diversifizierung von möglichen Ausgängen und geöffneten Räumen.

Ilija Trojanow setzt das in seinem neuen Buch „Tausend und ein Morgen“ um: Ausgangspunkt des phantastischen und fabulierfreudigen Romans voller Anspielungen und formeller Volten ist eine geglückte revolutionäre Umwälzung. Es gibt in seiner aktuellen Gesellschaft keine Kriege mehr, keinen Hunger, keine Herrschaft, keine Unterdrückung, kein Geld, keine Gier ...

Die am Umbruch beteiligten Menschen haben sich zu Gemeinschaften zusammengeschlossen, deren Aktivitäten sie selbst bestimmen, mit eigenen, selbst ausgehandelten Regeln. Alles begann damit, dass sie ihre Träume ernst nahmen und das Denken in seiner Vielfalt befreiten. Sie hatten etwas tun müssen „gegen die Lähmung all des unnützen Daseins, das ihnen die Luft zum Atmen nahm“. Und dann begann ein Spiel von „Wendungen und Wandlungen, ein Werden, ein Stolpern, hoffnungsreich, beseelend“! Und sie hatten nicht, wie in vorausgegangenen Umbrüchen üblich, nach einer Zeit des Aufflackerns die Türen und Fenster wieder verriegelt, die Disziplin wieder eingeführt. Sie hatten den Raum offen gelassen und „eine neue Welt“ möglich werden lassen. Ihre Basisweisheit lautet: Herrschaft ist institutionalisiertes Übel. Profit darf nicht Sinn menschlicher Begegnung sein. Vielfalt ist grundsätzlich begrüssenswert.

Von dieser befreiten Zone aus können die Menschen, die aller kapitalistischen Zwänge enthoben sind, Raumzeitreisen in die Vergangenheit unternehmen, in das „Damalsdort“ eintauchen, miterleben, wie genau bestimmte neuralgische Punkte der Geschichte abgelaufen und warum sie so ausgegangen sind. Die „chronautische“ Physik arbeitet daran, die Triebkräfte gegen die Lethargie zu berechnen, und auf ihren Raumzeitreisen setzen die Chronautin zur praktischen Erprobung der Selbstermächtigung an.

In den Gemeinschaften wird diskutiert, ob es Sinn macht, helfend eingreifen zu wollen, wo Chancen verspielt wurden, ob es Sinn macht zu versuchen, die Befreiung gelingen zu lassen, Menschen zum Glück zu verhelfen. Ob man etwas Subversives in die Ereignisse schmuggeln könnte, das einen Seitenweg ins unmarkierte Terrain aufzeigt. Oder soll man die Vergangenheit ruhen lassen, weil man ja weiss, wie es ausging, weil die Lebenserfahrung sich bereits mit Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit vermischt hat?

Cya, Chronautin aus dem Hier und Jetzt des Romans, ist neugierig und macht sich auf den Weg. An ihrer Seite Samsil, ein treuer Freund, und GOG, eine künstliche Intelligenz, die sich kommentierend und eigenmächtig in die Geschichte einschreibt. Sie landen bei den Piraten des 18.Jahrhunderts in der Karibik, in einem Bombay, in dem der religiöse Fanatismus tobt, im Sarajewo von 1984, damals noch Teil Jugoslawiens und massenhaft von Geheimagenten frequentiert, und schliesslich im Russland nach der Oktoberrevolution von 1917 bei dem Dichter Wolodja, dessen Familienname Majakowski sein könnte.

Auf allen Stationen der Zeitreisen gibt es aufrührerisches Potenzial, Oasen der Freiheit, Lebenslust, Hoffnungen. Andere Ausgänge der Geschichte scheinen jederzeit möglich. Überhaupt erscheint Geschichte als eine lose Folge von Ereignissen, bei denen zu keiner Zeit festgestanden hat, wie es ausgehen würde. Hätten sich kräftemässig andere Bündnisse gebildet, hätte alles anders werden können. Das grundiert für die Lesenden von heute sogar die eigene Jetztzeit irgendwie hoffnungsfroh.

Auch „das Paradies“, die Jetztzeit des Romans, ist nicht gänzlich frei von Zweifeln, von Rückschlägen in Eitelkeit und Ängste, auch nicht von Eigenmächtigkeiten der Künstlichen Intelligenz, die ihre autonome Sichtweise entwickelt. Der Grundton des Romans ist aber spielerisch und heiter, er nimmt die wesentlichen Orientierungen der u-topischen oder an-archistischen Perspektiven mit Leichtigkeit auf und fordert uns auf, damit zu experimentieren. Was gibt es, angesichts der ungeschminkten Fratze des Kapitalismus, Besseres, als sich auf eine gänzlich andere Erzählung der Welt einzulassen? Mit dem Vertrauen, dass eine andere Zukunft möglich ist und dass unsere Gegenwart einmal das unvollkommene und hin und wieder verzweifelte Stolpern war, mit dem wir sie erreichten.

Hanna Mittelstädt

Ilija Trojanow: Tausend und ein Morgen. S.Fischer Verlag 2023. 528 Seiten. ca. 40.00 SFr. ISBN 978-3-10-397339-6.