Schwer zu verdauen
Man folgt dem Autor und Arbeiter Ponthus bei seinen Handgriffen an den Fabrikbändern, die mit Meerestieren übersät sind, und man fühlt den Schmerz in seinen Knochen beim Herum- und Fortschieben unzähliger Tonnen Schlachtvieh. Die grausame und zermürbende Realität der spätkapitalistischen Lebensmittelindustrie löscht hier den letzten Funken von Fabrikromantik. Trotzdem entfaltet der Roman, niedergeschrieben in Versform, Sogwirkung. Für kurze Zeit erscheint die Poesie in „Am laufenden Band“ so flüssig und nahtlos – bis man spürt, dass man all die toten Tiere, Innereien und Schlachtabfälle inmitten der kalten Fabrikszenerie nur schwer sacken lassen kann.Dazu gesellen sich die vielen untoten Fabrikarbeiter*innen – einer von ihnen Joseph Ponthus – und die Schlachtfabrikbesitzer, die nur selten Wohlwollen und Wärme zeigen. Die grausam schönen Beschreibungen der Fabrikarbeit bringen –, angetrieben von einem teils stakkatoartigen Rhythmus der Verse – bei der Lektüre schliesslich doch ins Stolpern. Man möchte das Buch angesichts all der Gewalt und Eintönigkeit fast weglegen, wenn es Ponthus nicht genauso gelungen wäre, dem harten Fabrikalltag auch Zuversicht und Solidarität abzuringen. So schreibt Ponthus: „Singen ist der schönste Zeitvertreib/ Und hilft durchzuhalten/ An was anderes zu denken/ An vergessene Strophen/ Einen Lichtblick zu haben“ (S. 170).
Oft steht Ponthus am Fliessband neben der Musik auch die Literatur zur Seite. Viele seiner Berichte enthalten literarische Reminiszenzen an das frühere Leben als Literaturstudent und weisen ihn als gebildeten Sozialisten aus. Er denkt an Apollinaire, an Marx und an Spinoza und rettet sich mit ihrer Hilfe auch aus der Tristesse der Arbeit. Französische Volkslieder und Radiohits werden in den Fabrikhallen der Fleisch- und Fischverarbeitung zu neuen Liedern des französischen Proletariats.
Sie bekämpfen die Langeweile, die Einsamkeit und das Leid bei der Arbeit. Dass sich ganz bald und fundamental etwas an den Arbeitsverhältnissen in diesem Industriezweig ändern wird, kann man beim Lesen der Berichte von Ponthus aber nicht glauben – zumindest nicht für die Zeitarbeiter*innen. Bei Streiks stehen sie aufgrund ihrer allzu unsicheren Anstellung aussen vor und mindern für die Kapitalist*innen sogar noch den Verlust. Dennoch lassen sich im Roman, wenn die Arbeiter*innen aller Angestelltenverhältnisse für einen Augenblick zusammenstehen, auch ein Gemeinschaftssinn oder sogar eine Geschlossenheit der Arbeiter*innen spüren. Es sind nicht nur die Gleichgültigkeit und Sachverhältnisse, die die Beziehungen der Arbeiter*innen untereinander prägen.
Der Klub der toten Arbeiterdichter
Für gewöhnlich schrieb Ponthus nach Feierabend – mitunter bis tief in die Nacht – seine Erinnerungen, Eindrücke und Gedanken nieder; genauer gesagt diejenigen, die ihm nach einem langen Arbeitstag noch geblieben sind: »Ich hab so viel in meinem Kopf geschrieben und vergessen/ Perfekte Sätze die meine Arbeit beschrieben haben und gewesen sind« (S. 229). Ponthus nahm, wie viele seiner Kolleg*innen, die Arbeit und die Fabrik mit in den Feierabend, wenn auch auf andere Weise. Denn ihm gelang es, seine Erfahrungen ästhetisch zu verarbeiten. Ein unglaublicher Kraftakt, für den ihn auch noch der Wecker am nächsten Morgen abstraft; wenn es eigentlich selbst noch Nacht ist.„Am laufenden Band“ changiert zwischen ausserordentlicher Schönheit in der Form und den zähen, desillusionierten Berichten eines Fabrikarbeiters. Mit Wortgewalt und mit einer Wahrheit, die es so nur in Versform gibt, konzentriert sich im Roman von Ponthus das Durchlebte der Arbeitswelt. Die Sätze passen sich dem Arbeitstakt an; sie sind meist gleichmässig, aber legen auch mal eine Pause ein. In den Schilderungen ist der Protagonist Ponthus entweder ganz bei sich oder er geht völlig in der Arbeit auf. Er fokussiert sich auf einen Handgriff oder mäandert in seinen Gedanken, um die Arbeit etwas erträglicher zu machen. Was zählt, ist allein die verbleibende Zeit bis zum Feierabend. All das rekonstruiert Ponthus aufs Genaueste und dennoch mit literarischer Verve. Er hat eine Poesie geschaffen, die sich dem Leben in der Fabrik widmet und dabei das Fliessband zu imitieren sucht. Trotz all der Schwere und Bitterkeit erfährt man einen Lesegenuss, der nicht zuletzt auch den Übersetzerinnen Claudia Hamm und Mira Lina Simon zuzuschreiben ist.
Die literarische Verarbeitung von Lohnarbeit führt weiter ein Schattendasein. Und ein arbeitender Dichter oder vielmehr ein dichtender Arbeiter wie Joseph Ponthus bleibt leider eine noch grössere Seltenheit. Soweit die ernüchternde Realität. Doch Ponthus hat mit seinem proletarischen Versroman der Arbeiter*innen- und besonders der Fabrikliteratur wieder neues Leben eingehaucht. Interessanterweise zu einer Zeit, in der sich viele Blicke längst von der Fabrik als primären Ort der Produktion und damit auch der Ausbeutung abgewandt haben. Dass der Alltag der Arbeiter*innen hinlänglich bekannt und also nicht mehr von Interesse ist, bleibt anzuzweifeln.
Der Roman „Am laufenden Band“ wird ein singuläres Ereignis in der Arbeiter*innenliteratur wie im Werk von Joseph Ponthus bleiben. Mit bereits 42 Jahren verstarb Ponthus an Leukämie. Mit dem Bericht eines Zeitarbeiters hinterliess er nach eigenen Angaben eine „Liebeserklärung an die Arbeiterklasse und die Literatur“. Er bezeugt somit die Möglichkeit einer nur scheinbar unwahrscheinlichen, aber kraftvollen Verbindung. Sie ermöglicht uns einen anderen Blick auf diejenigen, durch deren Kraft der gesellschaftliche Reichtum und die ungeheure Warensammlung erst geschaffen werden – und denen dennoch am Ende des Monats oft nur Verzweiflung und Not bleiben.