In ihrem Debütroman erzählt die in Syrien geborene, aber in Deutschland aufgewachsene Luna Ali die Geschichte des jungen Aras, eines Jurastudenten mit ganz ähnlicher Lebensgeschichte. Aras verfolgt den in Deutschland als „Syrischer Frühling“ bekannt gewordenen Aufstand aus der Ferne und droht im Laufe der Geschichte selbst an dessen Scheitern zugrunde zu gehen.
Jedes Jahr am 15. März – dem Jahrestag der ersten Proteste gegen das Assad-Regime – wirft die Autorin ein Schlaglicht in das bewegte (Innen-)Leben ihres Protagonisten: Zwischen Staatsexamen, Einzelfallhilfe, politischem Aktivismus und Auslandspraktikum vermischen sich im Roman allmählich Realitäten; philosophieren Stimmen im Kopf über Staatenlosigkeit; hallen Schüsse und Schreie durch deutsche Jugendherbergen und Talkshows. „Drei Busse senkrecht aufgestellt, zweimal. Einmal dienten sie dem Schutz vor Scharfschützen in Aleppo, das andere Mal als Mahnmal in Dresden.“ (S. 214)
Politik als Masseinheit des Denkens
Luna Ali gelingen in ihrem Buch mehrere Kunststücke: Das erste davon, ein Einstiegskapitel über den wirklich durchschnittlichen Tag eines Jurastudenten so zu schreiben, dass man ihm folgt, als wäre es ein Thriller. Das zweite, politische Analyse und Kritik so spielerisch mit Aras Alltagsgedanken und Beobachtungen zu verweben, als sei nichts einfacher zu vermitteln als das Private ist politisch. Dabei verweigert sich Ali gekonnt jedes moralisierenden Zeigefingers. Vielmehr schreibt sie aus der Warte einer an Arendt und Brecht geschulten, antitotalitären Kommunistin.Für ihre Erzählerin und ihren Protagonisten ist Politik weder demonstrativer Aktivismus noch eingefahrene Identität, sondern die stets in Bewegung befindliche Grundlage und Masseinheit allen Denkens. Es ist dieses verinnerlichte Politikverständnis, das Luna Ali's stilistisch wilden Textformenmix und ihre skulpturalen Sätze so kohärent, besonders und authentisch machen.
„Die Geflüchteten, Verfluchten, die über die Grenzen hinweg nach Europa gelangt waren, langten nach den Augen der Welt, in den Augen der Europäer*innen, denn in ihren Augen waren sie die Welt, sie trugen eine Frage im Gepäck: Wer nur noch sein Leben zu retten hat, der hat nichts mehr zu verlieren, auch das Leben nicht, Widerstand zwecklos, wer trägt dann noch die Hoffnung?“ (S. 162)
Mitdenken statt konsumieren
Das dritte Kunststück besteht darin, komplex zu schreiben, ohne dabei akademisch zu werden. Luna Ali fordert ihre Leser:innen heraus. „Da waren Tage“ verlangt, mitzudenken, statt nur zu konsumieren. Gelegentlich mag das auch überfordern, der Dichte der Gedanken auf diesen 300 Seiten zu folgen; dem Tempo der stetig fliessenden Übergänge von Realität und Beobachtung zu Traum zu Gedankenspiel – selbst dann, wenn Luna Ali die Leser:in stundenlang im Vorraum einer Ausländerbehörde warten lässt.Konsequent sprengt die Autorin zum Ende dann noch komplett den Rahmen, dreht und wendet das Buch und verpasst der Handlung einen überraschenden Schubs über alle Grenzen von Zeit und Raum. Aber in der Entgrenzung besteht ja eben der Charme dieses Romans.
„‚Ez ne melekim xwediyê tacê.' Auch diese Worte gesellten sich in den Halbkreis und kannten den Tanz und tanzten mit. Und wie Aras die Worte beim Tanzen beobachtete, da merkte er, dass seine Verluste keine Leerstellen waren, sondern der Beweis ihrer Existenz.“ (S. 213)