„Oral histories are an opportunity to explore the subject in history; the peculiar and contradictory nature of individual human experience as it occurs during moments of collective shared action.” (Oral History bietet die Möglichkeit, das Thema innerhalb der Geschichte zu erforschen; die einzigartige und gegensätzliche Natur individueller menschlicher Erfahrung, wie sie in den Momenten gemeinsamer, geteilter Aktion stattfindet. (S. 6f., Übers. PB))
Die persönlichen Lebensgeschichten mischen sich und verdeutlichen, wie eine kollektive Revolution gelingen konnte und in dem System mündete, das die Gegenwart von New York 2072, 20 Jahre nach dem Aufbau der ersten Kommune, ausmacht. Oral History als Methode, eine „gute Geschichte“ (S. 238) zu schreiben und gleichzeitig Raum zu lassen für alle Widersprüchlichkeiten, falsche oder lückenhafte Erinnerungen eröffnet die Möglichkeit, die Geschichte als nicht-linear und nicht abgeschlossen zu erzählen, um ein Schreiben einer zukünftigen Revolution weder pathetisch, noch illusorisch zu gestalten.
Revolution und Katastrophe
Der Band umfasst zwölf fiktive Interviews, gerahmt von einer Einleitung, in der die Geschichte der Jahre der Revolution zusammengefasst und auf einzelne Begrifflichkeiten eingegangen wird. Die Geschichte der Revolution ist kurz zusammengefasst: In den dreissiger Jahren (der 2000er) spitzt sich die Krise des Kapitalismus zu: Hungerwellen, eine weitere Pandemie namens LARS, der stetige Klimawandel und Naturkatastrophen führen zu unlebbaren Zuständen, grossen Migrationsbewegungen und der Abschottung der besitzenden Klasse.Ende der 50er Jahre beginnt die USA, die ihre Weltmacht schwinden sieht, einen Krieg gegen den Iran, der verheerende Ausmasse annimmt und das Militär und die Polizei in den USA so weit schwächt, dass die Möglichkeit für einen revolutionären Umsturz gegeben ist. „Amidst the chaos of economic crisis, geopolitical realignment, climate change and state failure, emerged the conditions to foster rebellion.” (Mitten im Chaos ökonomischer Krisen, geopolitischer Neuentwürfe, Klimawandel und dem Zusammenbrechen ganzer Staaten entstanden die Möglichkeiten für eine Rebellion. (S. 10, Übers. PB))
In zahlreichen Teilen der Welt beginnt die Macht der Nationalstaaten zu schwinden, beginnend im Nahen Osten und in Südamerika, bis sich auch in den USA zwischen 2052 und 2056 das Militär, Polizei und private Sicherheitsdienste zurückziehen müssen und der Aufbau einer politischen Organisation durch grössere Assemblies und kommunale Wohn- und Lebeprojekte ermöglicht wird. Die meisten Interviews fokussieren gleichzeitig auf die einzelne Geschichte der interviewten Person, ihren Anteil an der revolutionären Geschichte. Sie erzählen vom gegenwärtigen Leben, von der Abschaffung der Familie, den „crèches“ als Orten für Kinder und Jugendliche, die nicht mit ihren verschiedenen Elternteilen leben möchten, der Abschaffung der Lohnarbeit, der Distribution von Nahrungs- und Lebensmitteln und der Neuordnung der Geschlechter.
Die Einleitung rahmt die Interviews mit einem Einblick in die Geschichte, aber auch mit einer subtilen Einordnung der gegenwärtig (2023) politischen Themen für die Gestaltung der Zukunft: Abolitionismus, Leben in der Kommune und Versammlungen als Orte und Möglichkeiten gesellschaftlicher Politikfindung werden als Punkte eröffnet, die die Hauptstruktur der zukünftigen Gesellschaft bilden.
Umgang mit Trauma und ein Leben nach dem Kapitalismus
Durch das Erzählen unserer Gegenwart als Geschichtsschreibung der Zukunft entwerfen die Autorinnen eine Möglichkeit, die Realität, wie sie gerade ist, als abgeschlossenes, düsteres Kapitel der Vergangenheit in all seiner Absurdität zu erzählen – die Vorstellung, dass die Menge an Geld, die auf deinem Bankkonto liegt, darüber bestimmt, ob und wie du wohnen, essen und krank sein konntest, wirkt unverständlich auf die jüngeren Interviewten.Ganz abgeschlossen ist die Vergangenheit aber nicht – sie wirkt in den andauernden klimatischen Katastrophen und in den Traumata der Menschen fort. Dadurch wird eine ungebrochen utopische Vorstellung einer Welt nach der Revolution, eines Endes des Kapitalismus verhindert: Besonders in den Interviews im hinteren Teil des Buches, in denen es um den fortdauernden Kampf gegen den Klimawandel geht, um den kollektiven Umgang mit einem gewalttätigen Elternteil oder Traumata, die so gross sind, dass sie ein Teilhaben an der neuen Welt kaum zulassen.
Es finden sich Elemente der Science-Fiction, ein Interview dreht sich um die Besiedelung des Mars, ein anderer Protagonist organisiert virtuelle Partys mit Augmented Realities durch militärische Geräte, die bereits im USA-Iran-Krieg in die Köpfe der Soldat*innen installiert wurden. Die Gewalt, die die Geräte damals ausgelöst haben und in den Köpfen der Zurückgekehrten immer noch auslösen, wird durch die Möglichkeit der Andersnutzung nicht gelöscht, so wie die Geräte nicht mehr aus den Köpfen entfernt werden können – der Umgang damit und ihre Nutzung aber ändert sich unter den gesellschaftlichen Bedingungen.
Im Umgang der „neuen“ Menschen mit Technik zeigt sich dieses Verständnis am meisten – auch in der Neuaufforstung der Wälder und der künstlichen Herstellung von Biodiversität, der Besiedelung des Mars („Communization of Space“) – oder neuer KI, der ein Eigenleben zugeschrieben wird, die sie sich aber nicht für den Menschen interessiert. Das Alte wird nicht abgelöst, aber es erfährt Möglichkeiten der Umcodierung, die die inhärente Gewalt nicht negieren – sondern produktiv in etwas Neues einbinden.
An manchen Stellen zeigt sich die Bebilderung und Versprachlichung dieses Übergangs überzeugend – an anderen jedoch verliert die utopische Vorstellungskraft an kritischem Potential. Interpersonelle Gewalt zum Beispiel scheint für die Jugendlichen, die zu Ende oder nach der Revolution geboren wurden, zu Anfang der Interviews kein Thema zu sein. Auch sprachlich zeigt sich im ersten Interview mit einer Sexarbeiterin („Skinworker“ im Jahr 2072) eine fast stereotype Darstellung. Auch sonst zeigt sich sprachlich der Versuch, gewisse Mode- und Jugendwörter zu erfinden, die eher willkürlich wirken: „fec“ für „shit“ zum Beispiel, zahlreiche Abkürzungen („org“ für „organization“, „cert“ für „certainly“), die in keinem besonderen Bezug zum Alltag stehen.
Andererseits darf man nicht in die Falle tappen, die Interviews für „wahr“ zu halten, auch nicht innerhalb der erzählten Fiktion. Durch die Erzählform brechen Antworten auch manchmal ab, Interviewpartner*innen erzählen nicht mehr weiter oder bringen die Interviewerin aus dem Konzept. Dass die Erzählungen sich manchmal widersprechen, die einen ohne Probleme leben, die anderen wiederum mit Traumata so gross, dass sie ein normales Leben verhindern: Das liegt den erzählten Geschichten als gleichzeitig persönliche und gemeinsam kollektiven Geschichtserzählungen und der Form des Interviews zugrunde.
Zum Problem wird das fiktive Interview auch, wenn Positionen unwidersprochen bleiben, die heute stark umstritten sind und durch die Form eine zu einfache Lösung bieten, wie das Interview zum Israel-Palästina-Krieg. Hier zeigt sich deutlicher, wo es auch in anderen Kapiteln an Nuancierung fehlt und die Utopie hin und wieder kippt in etwas, das sich wie eine unkritische Wunschvorstellung liest.
Durch die erschaffene Welt wird die Möglichkeit erzählt, wie unter einem anderen wirtschaftlichen System eine Gesellschaft aussehen könnte. Gerade zu den Themen Abolitionismus, Abschaffung der Familie und neuen Geschlechterverhältnissen und -verständnissen bietet der Text viel Raum zur kritischen Imagination. Und auf jeden Fall gute Antworten auf die Frage: „Und wie soll das gehen – eine Welt ohne Kapitalismus?“