Was kann politische Lyrik? Was will sie? Wer schreibt sie?
Diesen Lyrikband hat Martin Piekar geschrieben, auf wunderbare Weise illustriert von Nina Kaun.Martin Piekar ist etwa 33 Jahre jung und lebt mit einem polnischen Pass in Frankfurt/Main. Er schreibt auf deutsch, mit polnischen Einsprengseln. Seine Lyrik wurde bereits mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet.
Sein neuer Band, gerade erschienen, hat den Titel „livestream & leichen“. Verlegt wurde er, das soll hier auch hervorgehoben werden, in dem seit 2005 publizierenden Lyrikverlag Verlagshaus Berlin, der mit beeindruckender Konsequenz in Programm und Gestaltung seinen scheinbar unerschütterlichen Weg geht. Ohne solche Verlage hätte es die Lyrik noch schwerer.
Im Stil eines „Spaziergangs für all jene, die keinen Weg sehen“, schlägt der Autor vor, wie wir lesend und vorlesend unseren Weg finden. Wie wir lesend und vorlesend einen Raum schaffen. Wie wir weiter denken und uns von den künstlichen Intelligenzen, Bots, Sprechmaschinen nicht von unserem Weg abbringen lassen. Denn: ist google bereit, sich zu überwinden? Oder sind wir es, die uns und unsere Verhältnisse überwinden können? Kann eine Künstliche Intelligenz ihr Gegenüber missverstehen wollen? Und entsteht nicht Neues durch Missverständnisse?
All die Hindernisse des Lebens wie sozialer Kredit und sponsored content, Schufa-Auskunft und kritischer Akkustand, Datenverlust und Datenangst, payback und Sicherheitsbedenken ... Ist das ein Traum, aus dem wir nie aufwachen, ist unsere Sehnsucht nur eine Störung, kann man den Unbewusstseinsstrom aushalten? Und muss man das?
Sind alle nur noch als Dienstleister gefragt? Zu wessen Diensten (frage ich). Angebot standard: menschliche Arbeitskraft, Angebot prime: künstliche Intelligenz (bietet der Bezosbot).
Der schwarze Streifen der Doiczlandfahne, als der sich der Autor sieht, kann er etwas ausrichten in dem, was gar nicht mehr Deutschland ist, sondern ein permanenter Live-stream?
Zumindest singt dieser schwarze Streifen, er singt ein ganzes Buch lang (150 Seiten), er singt sich durch die Metawellen und Metastasen der KI hindurch. Er singt gegen die Furcht, und gegen den Unglauben, es könne nichts Neues geben. Er singt für die Suchenden, auch vor verschlossenen Türen, auch durch Gitter hindurch.
Und wer sind die Leichen? Sie sind das Material der Geschichte, die das Gespräch fordern, die Beachtung. Sie sind auch Opfer rechter Terroranschläge. Einige Namen werden genannt, andere namenlos erinnert. Denn tot sind sie alle erst, wenn man sie vergisst. So endet das Buch.
Martin Piekar hat einen sprachlich komplexen, unendlich fliessenden, intuitiven, berührenden Beitrag zu den dringenden Fragen der Gegenwart geschrieben: wer herrscht hier eigentlich, und: wie wollen wir, dass unsere Zukunft sein wird. „Gehen Sie spazieren und lesen Sie, nehmen Sie Platz auf Bänken und lesen Sie ruhig vor.“