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Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder

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Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder Fuck hope, do dope

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Belletristik

Erwachsenwerden im sich deindustrialisierenden Nordosten Frankreichs der 90er Jahre: Anstatt eine Welt zu gewinnen, heisst es Zeit totschlagen.

Der französische Schriftsteller Nicolas Mathieu im März 2019.
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Der französische Schriftsteller Nicolas Mathieu im März 2019. Foto: G.Garitan (CC-BY-SA 4.0 cropped)

Datum 6. September 2023
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Es verspricht ein heisser Sommer zu werden in der fiktiven französischen Kleinstadt Heillange. Die Laune der Jugendlichen steht und fällt mit der Versorgungslage von Gras aus dem Nachbarort. Nirvana und Grunge wird erst langsam abgelöst vom Hiphop. Die Zeit wird totgeschlagen mit Abhängen am See und Poolparties, wenn die Eltern der wohlhabenderen Freunde mal ausgeflogen sind. Die ersten Erfahrungen mit romantischer Liebe und jugendlicher Brutalität spielen sich ab zwischen Landstrasse, Zeltplatz und Dorffest. Krise, Armut und Sozialabbau sind allgegenwärtig, ohne Thema zu sein. Wir erfahren davon eher am Rande, zum Beispiel in Gestalt des Bürgermeisters, der lieber über die Zukunft als über die Vergangenheit redet. Was die jungen Menschen in Heillange eint: der Traum, sich aus dem Staub zu machen.

In dem 2018 mit dem Prix Goncourt preisgekrönten Roman „Wie später ihre Kinder“ zeichnet Nicolas Mathieu eine Coming-of-Age-Geschichte für Erwachsene, die das Lebensgefühl der 90er Jahre in seiner Widersprüchlichkeit erfahrbar macht.

Von Kiffern, Mopeds und Fussball-WM

Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ dient dem Roman als Soundtrack einer Generation von Krisenverlierern, billiges Bier saufenden Kiffern auf Mopeds.

„In Berlin war eine Mauer gefallen und der einsetzende Frieden hatte etwas von einer Dampfwalze. In jeder Stadt in dieser deindustrialisierten, gleichförmigen Welt, in jedem abgehängten Kaff versuchte die Jugend, die keine Träume mehr hatte […] Melancholie in Wut zu verwandeln, Depression in Dezibel. Das Paradies war endgültig verloren, die Revolution würde nicht kommen. Ihnen blieb nur der Lärm.“ (S. 52)

Anthony und Hacine, zwei Jugendliche aus unterschiedlichen Kreisen und mit unterschiedlichen Geschichten geraten – mehr aus Versehen – aneinander. Über drei Sommer in den 1990ern begegnen sie sich immer wieder, brüderlich verfeindet über das Schicksal eines Motorrads, das bald die Gefühlswelten der beiden und ihrer Väter bestimmen wird. Als 1998 ganz Frankreich ins patriotische Fussball-WM-Fieber taumelt, führt in der Welt der Kleinstädte ohne Fluchtperspektive am Wiedersehen der Beiden kein Weg vorbei.

Mathieu beschreibt ein Erwachsenwerden in zweierlei Hinsicht: das materielle und das emotionale Erwachsenwerden. Das eine passiert, weil es passieren muss. Geld verdienen und finanzielle Unabhängigkeit sind Notwendigkeiten in den unteren Klassen. Schon allein aus familiärer Verpflichtung heraus. Das andere Erwachsenwerden wird sich hart erarbeitet. Emotionale Reife erlangt man nur durch den immer wiederkehrenden Ablauf von Versuch und Scheitern und Wiederversuchen. Die Reflexionsphasen dazwischen werden länger. Verstand und Geist wachsen, werden Erwachsen.

Das Privileg, ein Leben ohne Privilegien zu kennen

Das materielle Erwachsenwerden wird durch das Bewusstsein erlangt, es eventuell nicht besser zu haben als die eigenen Eltern, auch nur ein Rädchen der Zeit zu sei, ein Stein im babylonischen Turm der Generationen.

„Die Männer redeten wenig und starben früh. Die Frauen färbten sich die Haare und verloren nach und nach ihren Optimismus. […] Sie wurden entlassen, geschieden, betrogen und bekamen Krebs. Sie waren ganz schön normal, und alles andere kam sowieso nicht in Frage. So wuchsen die Familien wie Pflanzen auf einem Boden aus Wut.“ (S. 15)

Anthony wächst auf zwischen Industrieruinen und Schloten, die nur noch in den Köpfen weiterrauchen. Doch die Arbeiternostalgie der Stahlmänner und ihrer guten alten Zeit hängt ihm schon lange zum Halse raus: „Alle, die damals noch nicht gelebt hatten, bekamen das Gefühl etwas verpasst zu haben.“ (S. 175) Doch auf die Industrie folgte wenig. Der vielfach beschworene Dienstleistungssektor bescherte Arbeitsplätze und Perspektive in anderen Teilen des Landes. Heillange blieb nichts als die Vergangenheit. Nun bestimmte ein anderer Sektor: „Der Drogenhandel ähnelt der Schwerindustrie von früher […] die kleinen Dealer waren an die Stelle der Fabrikarbeiter getreten.“ Doch „[d]ieses neue Proletariat berief sich mehr auf die Betriebswirtschaft als auf das letzte Gefecht“ (S. 226).

Hacine fängt an zu dealen, Anthony schlägt sich mit prekären Jobs im Servicebereich durch. Beide werden materiell unabhängig, erwachsen. „Er [Anthony] lag niemandem auf der Tasche, er machte sich nützlich, war unzufrieden, gehörte zur ausgebeuteten Mehrheit, zur Masse, die zu allem fähig war, und glaubte doch, nichts bewegen zu können.“ (S. 402) Schlüsselkinder, die Eltern mit Geldnöten erlebt haben, denen der Materialismus unfreiwillig in die Wiege gelegt wurde, zwangsweise schneller erwachsenwerdend, früher eingetaucht in die Arbeitswelt, dafür frei von elterlichem Leistungszwang und Karrieremantras. Kids dieser prekarisierten Mittelschicht müssen sich nicht erst beweisen durch einen soliden Studienabschluss und Lebenslauf. Sie sind frei vom Zwang, den elterlichen Leistungsansprüchen zu genügen. Sie dürfen einfach sein, sind sofort vollwertiges Mitglied der Gesellschaft mit allen Pflichten und Ansprüchen. Das ist das Privileg, ein Leben ohne Privilegien zu kennen.

In dieser Beschreibung des materiell Erwachsenwerdens beobachtet Mathieu Unterschiede in den Gefühlswelten von materiell Prekären und dem Bürgertum, die in der Literatur auch von Jack London bis Édouard Louis aufgezeigt wird: Als Mitleid mit denen, die Dinge als selbstverständlich achten und sie nicht vollumfänglich geniessen können. Édouard Louis entdeckte sogar Gefühle in bildungsbürgerlichen Haushalten, die er von zuhause gar nicht kannte. Nicht mal die Existenz dieser Gefühle war ihm bewusst: „Melancholie, Exaltation, Lethargie“ seien „bürgerliche Erfindungen“. Dafür hätten Bildungsbürger Probleme, Gefühle auszudrücken wie Wut oder Mitgefühl. „In jedem Gefühl ist immer auch seine mögliche Eskalation angelegt“ (Louis 2022, S. 89): Liebe zu wahnhafter Eifersucht, Sorge zu Angst, Vorurteile zu Hass. Zu lernen, diese Eskalation zu beherrschen, ist die weitaus schwierigere Herausforderung für das Erwachsenwerden. Der Konflikt über Gefühle und Identität in einer Abstiegsgesellschaft zwischen Arbeiteridentität und prekärer abstiegsgefährdeter Mittelklasse zeichnet die Männer unserer westeuropäischen Generation aus, deren Schreiber Mathieu und Louis sind und die mit Christian Baron auch nordöstlich der Rheingrenze einen Vertreter haben. Dieser Identitätskonflikt ist angesichts der durch Sozialisierung antrainierten emotionalen Hilflosigkeit ein speziell männliches Dilemma. Möglicherweise tun sich deswegen viele Männer mit dem Erwachsenwerden schwerer. Sie bilden Männergruppen, geben ihren Cliquen Namen und schaffen Traditionen, um ihre Jugend zu konservieren. Was von aussen chauvinistisch wirkt und auch leicht dahin abdriften kann, ist häufig einfach nur der Versuch der Männerseelen, die eigene Hilflosigkeit abzustreifen.

Doch anders als bei Louis und Baron wird bei Mathieu Männlichkeit und ihre toxische Ausprägung eher implizit als explizit thematisiert. In einer sich über mehrere Jahre hinziehenden Romanze erlebt Anthony alles, von schüchterner Verliebtheit über unbeholfenes Dominanzgebaren bis hin zu unterdrücktem Schamgefühl: „Mehrere Tage versuchte er sich einzureden, dass er sie gefickt hatte. Aber es war umgekehrt.“ (S. 297) Auch Hacine wird zum Mann, ohne emotional erwachsen zu werden: „Typen wie er konnten eine Betonplatte giessen oder 2000 Kilometer Autofahren, ohne zu schlafen, aber es war ihnen unmöglich eine Einladung zum Essen auszusprechen.“ (S. 351)

Aufbegehren gegen den Fatalismus

Bei aller Tristesse und nachdenklicher Melancholie, die sich durch das Werk zieht, die aber auch das Markenzeichen Mathieus ist, schafft er es immer wieder, die Schönheit von Momenten herauszuarbeiten und zu beschreiben. Besonders gelingt ihm, das Gefühl einer Gegenwart einzufangen. In der Retrospektive wird sie von uns häufig romantisch nostalgisch verklärt, doch Mathieu schafft es, diese Momente Momente sein zu lassen. Ohne Zukunft und Perspektive, ohne Vergangenheit. Das Gefühl der absoluten Gegenwart, dem viele Menschen rastlos entgegenflüchten. Mathieu ist brutal in der Beschreibung der Gesellschaft, jedoch versöhnlich mit ihren Hervorkömmlingen.

So muss mensch auch das dem Roman namensgebende Bibel-Zitat aus dem Alten Testament interpretieren, um nicht hoffnungslos an der Sinnlosigkeit der Existenz zu verzweifeln. „An andere aber denkt niemand mehr; es ist als hätten sie nie gelebt. Sie sind gestorben und vergessen, genau wie später ihre Kinder.“ (Jesus Sirach, 44,9) Das Erwachsenwerden als Aufbegehren gegen den Fatalismus. Jedes Leben als Fortschritt gegenüber den Vorherigen. Geschichte als kollektiver, aggregierter Fortschritt. Und doch bedeutet alles nichts. Und das ist ok.

Tilman von Berlepsch
kritisch-lesen.de

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder. Roman. Übersetzt von: André Hansen / Lena Müller. Piper Verlag, München 2021. 448 Seiten. ca. SFr. 14.00. ISBN: ISBN: 978-3-492-31575-3.

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