„Für mich ist wahrscheinlicher, beim Spazierengehen an Brandenburger Seen von drei Nazis krankenhausreif geprügelt zu werden, als mitten in New York oder Berlin, irgendwo in der U-Bahn oder einem gemächlichen kreisenden Restaurant, Opfer eines islamistischen Anschlags zu werden.“ (S. 85)
Wenn auch ein wesentliches, ist Rassismus jedoch nicht das einzige Thema des Romandebüts von Olivia Wenzel, sondern verwoben in eine vielschichtige Lebensgeschichte.
Struggle of life
Die Protagonistin – Mitte 30 – wirft einen Blick auf ihre Vergangenheit und ihren Stand im Leben. Sie unternimmt zugleich den Versuch, die vielen Wunden zu verarbeiten, die ihr widerfahren sind. Als Tochter einer jungen Punkerin in der DDR und eines schwarzen Vaters, der unmittelbar nach der Geburt nach Angola zurückkehrt, wächst sie vorrangig bei ihrer Grossmutter auf, einer SED-treuen, stolzen Frau.Die Reflexion gestaltet sich als ein Spiel mit der Textform, den Zeitebenen, der Sprache und der Orte, eine collagenhafte Anordnung eines Lebens; ein ständiger Wechsel aus Dialogen, Szenenbeschreibungen und einer vorherrschenden Interviewstruktur, in der die Protagonistin von einer imaginären Person interviewt wird. Manchmal wirkt die fragende Instanz wie ein Verhör, manchmal wie Therapie, mitunter wie ein lässiges Gespräch, vielleicht auch ein Selbstgespräch. Die Themen drehen sich neben den Rassismuserfahrungen um die Angststörung der Protagonistin, den Verlust ihres Zwillingsbruders, der sich als junger Erwachsener suizidierte, Beziehungsfragen, das Verhältnis zu ihrer Mutter, die selten da gewesen ist und zu der sie kaum Zugang findet.
Die Protagonistin struggelt durch ihr Leben. Sie versucht zunächst zu vermeiden, in die nächste marginalisierte Randgruppe zu rutschen, indem sie sich selbst gegenüber leugnet, sich auch sexuell zu Frauen hingezogen zu fühlen. Sie kämpft um Verlässlichkeiten, möchte nichts Besonderes, sondern einfach nur durchschnittlich sein. „Ich weiss nur, dass es Verletzungen gab, zu allen Zeiten. Der Würde, des Stolzes und der Körper“ (S. 184). Doch die Protagonistin bleibt nicht bei sich stehen, immerzu analysiert sie Machtasymmetrien und Unterdrückung.
Schwarz sein an verschiedenen Orten
Schwarzes Leben unterscheidet sich an Orten, an denen es stattfindet. „In den USA bin ich schwärzer als in Deutschland“ (S. 19). Dort erlebt die Protagonistin eine Schwarze Community, der sie sich kurzzeitig angehörig fühlt. Sie fühlt sich anfangs angenommen und nicht so marginalisiert, wie sie es in Deutschland tut. Später verliert sie die Illusion und realisiert, dass sie der Community niemals angehören kann, weil sie den historisch gewachsenen Erfahrungsraum nicht teilt: die Notwendigkeit, den Jahrhunderten der Sklaverei und deren Fortbestehen mit Überleben trotzen zu müssen.Beim Radurlaub in Polen wird sie bei einem Zusammenstoss mit Nazis für eine Geflüchtete gehalten. In Marokko nennt sie ihren angolanischen Vater stets zuerst, der afrikanische Vater ist dort mehr wert, wie die Autorin schreibt. Angedeutete Kopfschüsse von Nazis in der DDR. Rassismus erlebt sie während ihres ganzen Lebens an allen Orten. Sie lebt in Deutschland – und ihr deutscher Pass ist ein Privileg, das ihr Möglichkeiten eröffnet. Und doch: „Ist dein Herkunftsland sicher? – Nach welchen Kriterien?“ (S. 17)
„Ich habe mehr Privilegien, als je eine Person in meiner Familie hatte. Und trotzdem bin ich am Arsch. Ich werde von mehr Leuten gehasst, als meine Grossmutter es sich vorstellen kann. Am Tag der Bundestagswahl versuche ich ihr mit dieser Behauptung 20 Minuten lang auszureden, eine rechte Partei zu wählen“ (S. 47).
(Potentielle) Gewalt ist immer Thema und das setzt sich fest: „Du hast vermutlich ein besseres Gefühl dafür, wann sich Gewalt anbahnt als andere Menschen“ (S. 287).
Literaturbetrieb in Deutschland: weiss und männlich
Laut Olivia Wenzel richtet sich ihr Buch mit seinem Anliegen nicht zuerst an People of Color; sie sieht es als Bestandsaufnahme. Der weissen Mehrheitsgesellschaft zeigt sie somit Dinge auf, die diese bislang kaum wahrnehmen wollte. Damit stösst sie in einen Literaturbetrieb, der in Deutschland weiss, männlich und akademisch bestimmt ist. Während in der Theaterszene, in der Wenzel eigentlich zuhause ist, in den grossen Städten langsam auch strukturelle Veränderungen angegangen werden, gibt es im Literaturbetrieb Deutschlands kaum schwarze Autor*innen im Mainstream. Jackie Thomae oder Sharon Dodua Otoo gehören zu den wenigen Ausnahmen als erfolgreiche, schwarze Autorinnen.Auch Olivia Wenzel ist es nun gelungen, mit ihrem Debüt weitläufig Anerkennung zu finden. Für junge People of Color – oft aus Strukturen der Armut kommend – stellen prekäre Kulturjobs keine attraktive Option dar. Auch die Frage, wer eigentlich von sich glaubt, Schreiben zu können, diesen Beruf ausüben und das Berufsbild ausfüllen zu können, ist von Bedeutung. Das Renommee als Autor*in ist in den herkömmlichen sozioökonomischen Kreisen oft ohne Bedeutung und nicht erstrebenswert. Natürlich erzeugt auch der Literaturbetrieb selbst durch formelle wie informelle Strukturen ausschliessende Wirkung: Wer setzt welche Themen und verschafft ihnen Aufmerksamkeit, wer hat die Ressourcen?
Kein bedauerlicher Einzelfall
Das Buch von Olivia Wenzel wurde in die Longlist des Deutschen Buchpreises aufgenommen. Es verwebt diverse Themen zu einer gefühlvollen Collage und überzeugt mit vielen starken Passagen. Polizeigewalt kommt in dem Buch nicht vor, der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist unabhängig von den weltweiten Protesten gegen (strukturellen) Rassismus bei der Polizei. Trotzdem ist es gerade jetzt von Bedeutung, weil es zeigt, welchen immanenten Gefahren People of Color ausgesetzt sind und was dies mit ihnen macht. Und dass Rassismus (potenziell) tödlich ist – nicht erst seit der Tötung George Floyds.Bücher wie dieses sind auch deshalb so wichtig, weil Betroffene sich artikulieren und deutlich machen, dass es sich keinesfalls um bedauerliche Einzelfälle oder um schockierende Extremfälle handelt. Und wenn die fragende Instanz am Ende meint, es wiederhole sich, drehe sich im Kreis, lautet die trockene Entgegnung: „Das Problem ist doch nicht, dass die Dinge, die ich erzähle sich wiederholen. – SONDERN? – Dass diese Dinge selbst sich wiederholen, ständig, dass sie nie aufgehört haben“ (S. 270f.).