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Patricia Highsmith: Die Geschichte des talentierten Mr. Ripley

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Patricia Highsmith: Die Geschichte des talentierten Mr. Ripley Freundschaft und Mimesis

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Belletristik

„Kannst du an deinen Freund dicht herantreten, ohne zu ihm überzutreten?“ Diese Frage, die Nietzsche Zarathustra in den Mund legt, ist für jede Freundschaft entscheidend.

Patricia Highsmith, 1962.
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Patricia Highsmith, 1962. Foto: Anonymous / Harper & Brothers (PD)

Datum 29. Oktober 2024
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KorrekturKorrektur
Ihr Gelingen nämlich zeichnet sich durch das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz zueinander aus. Indem man Mass hält, hält man die Extreme von sich fern.

Extreme Ausformungen der Freundschaft herrschen vor allem in der Jugend vor, nicht allein, weil sie das rechte Mass noch nicht kennt, sondern die Grenzen zwischen Ich und Du noch nicht so klar abgesteckt sind. Bei der Suche nach sich selbst kann man im Anderen leicht verloren gehen. Identitätskonfusion ist die Folge. In der unheimlichen Verschränkung des Eigenen mit dem Anderen kann der Freund dann zum Feind werden, mit dem man sich kämpfend auseinandersetzen muss, um das eigene Mass, die eigene Grenze, die eigene Gestalt zu gewinnen. [1]

Wenn uns ein Mensch innerlich so nahesteht, dass er sich mit unserer eigenen Existenz schon vermischt hat, ist ein harter Schnitt oft das einzige Mittel, um sich aus dieser komplizenhaften Verbundenheit zu befreien. An diesem Punkt entfaltet die Dialektik von Freund- und Feindschaft ihr gefährliches Potential – Beziehungen, die mit Bewunderung beginnen und im Hass enden.

Am Anfang jeder Bewunderung steht die Erfahrung des Anderen in seiner Andersheit. Diese Erfahrung kann traumatisch sein, da man den Anderen als Widerstand, Rätsel und Infragestellung der eigenen Werte und Muster erfährt. Wie tief solch eine Begegnung in das eigene Selbstverständnis eingreifen kann, zeigt sich an Alkibiades, der nach Sokratesʼ Reden glaubt, es lohne nicht zu leben, wenn er bliebe, wie er ist: „Ich wenigstens wollte es euch mit Schwüren bekräftigen, was mir selbst dieses Mannes Reden angetan haben und noch antun … Wenn ich ihn nämlich höre, pocht mir das Herz weit heftiger als den von Korybantentaumel Ergriffenen, und seine Reden entlocken mir Tränen … von diesem Marsyas bin ich oft erschüttert worden, dass ich glaubte, es lohne nicht zu leben, wenn ich bliebe, wie ich bin.“ [2]

Nach dieser Transzendenzerfahrung ist Alkibiades nicht mehr derselbe; aus der Begegnung mit Sokrates geht er als ein Anderer hervor. An seinem Beispiel sieht man, dass jede Bewunderung rückbezüglich ist: Wenn wir jemanden bewundern, finden wir in ihm das ideale Bild unserer selbst verwirklicht, erfahren uns dabei aber selber als unzulänglich: „Es ist eine alltägliche Erfahrung, medial tausendfach vermittelt, dass wir an unseren Vorbildern scheitern. So wird uns der andere in seinem Anderssein zur Quelle eines ständigen Leidens an uns selbst. Dieses Leiden hat durchaus kreative Potentiale. Es begründet die Wahrnehmung der eigenen Begrenztheit und Mangelhaftigkeit. Es macht die Erfahrung der Transzendenz zu einer schmerzhaften, traurig stimmenden Wirklichkeit.“ [3]

Insofern die Bewunderung von einer tiefen Kluft durchzogen ist, bietet sich Freundschaft als möglicher Ausweg an, um diese Distanz zu überbrücken und der Fremdheit des Anderen ihren Stachel zu nehmen. Nun beginnen jene Verwechslungsspiele, die eigentlich jedem und jeder aus der Jugend bekannt sein dürften: Während keiner anderen Lebensphase ist man so sehr Kopie des bewunderten Freundes, der bewunderten Freundin, das Äusserliche sowie alle Geschmacksfragen und Lebenseinstellungen betreffend.

In den meisten Fällen ist diese Verwechslung vorübergehend; dann war die Bewunderung nur oberflächlich und seicht. Gefährlich wird es, wenn die mimetische Begierde [4] tiefer in das Selbst eingelassen ist: Da kann sie jederzeit in ärgste Rivalität umschlagen, weil es hintergründig um das greifbare oder ideelle Objekt des Anderen geht. Freundschaft, die der Logik der Mimesis folgt und im Anderen die Verheissung der Lebensfülle sucht, wird dann zur offenen oder verdeckten Gegnerschaft und im schlimmsten Fall zu Hass. Die Geschichte des talentierten Mr. Ripley ist dafür ein anschauliches Beispiel.

Der Roman von Patricia Highsmith scheint für die mimetische Begierde paradigmatisch, da er sich nicht scheut, aus ihr die äusserste Konsequenz zu ziehen. Alles beginnt damit, dass Tom Ripley, ein mittelloser Mann Mitte Zwanzig, von Herbert Greenleaf das Angebot erhält, auf dessen Kosten nach Italien zu reisen, um dort seinen Sohn zur Rückkehr nach New York zu bewegen. Dickie jedoch, der sich in Mongibello, einem kleinen Küstenort südlich von Neapel, die Zeit mit Malen und Segeln vertreibt, will von seinen familiären Verpflichtungen nichts wissen; und auch Tom findet Gefallen an seinem Lebensstil. Er beneidet ihn „mit einer herzzerbrechenden Mischung aus Habgier und Selbstmitleid.“ [5]

Die beiden verbringen eine intensive Zeit miteinander, reisen nach Rom und schlagen sich dort die Nacht um die Ohren. Nur Dickies Freundin Marge Sherwood stört ihr brüderliches Glück – zumindest in Toms Augen, denn irgendwann fallen auch Dickie seine mimetischen Annäherungsversuche auf die Nerven. Und da dieser befürchtet, in New York wieder sein zweitklassiges Leben aufnehmen zu müssen, tötet er Dickie während ihrer gemeinsamen Reise in San Remo, um in den Besitz seines Reichtums zu gelangen.

Dieses fatale Ende entspricht der zweifachen Bedeutung des Doppelgängers: unheimlicher Vorbote des eigenen Todes und zugleich Versicherung gegen den Untergang des Ichs zu sein. [6] Denn das bewunderte Vorbild lebt in der Gestalt von Tom Ripley weiter; er vollendet seine Rolle, vervollkommnet sie, er beherrscht Dickies Art bis in die kleinsten, scheinbar unbedeutendsten Gesten hinein. Indem er seine Nachfolge antritt, kann er nun so sein, wie er es sich immer erträumt hat: als kultivierter und allseits beliebter junger Mann ausgedehnte Reisen unternehmen, in luxuriösen Hotels übernachten, massgeschneiderte Anzüge tragen und ein Leben in Freiheit und Musse führen. Das verleiht ihm wieder Selbstachtung. [7]

Nach der Definition von Carl Schmitt ist der Feind derjenige, der meine Existenzweise in Frage stellt: „Wen kann ich überhaupt als meinen Feind anerkennen? Offenbar nur den, der mich in Frage stellen kann. Indem ich ihn als Feind anerkenne, erkenne ich an, dass er mich in Frage stellen kann. Und wer kann mich in Frage stellen? Nur ich mich selbst. Oder mein Bruder. Das ist es. Der Andere ist mein Bruder. Der Andere erweist sich als mein Bruder, und der Bruder erweist sich als mein Feind.“ [8]

Ganz ähnlich wie in René Girards Theorie des mimetischen Begehrens hat auch Carl Schmitt festgestellt, „dass sich die Feindschaft nicht so sehr gegenüber dem Anderen, verstanden als ,Fremdenʻ, als verschieden und weit entfernt, entwickelt, sondern vielmehr gegenüber dem Nachbarn, dem Nächsten, gegenüber Meinesgleichen, meinem anderen Selbst, demjenigen, der als Bruder meine Erbschaft ernsthaft gefährden kann.“ [9]

Und dieser Fall tritt auf indirekte Weise auch bei Tom Ripley ein: In Dickies Namen setzt er ein gefälschtes Testament auf, das ihn als Erben seines Privatvermögens bestimmt; und da alle glauben, dass dieser Selbstmord begangen hat, respektiert der reiche Vater Greenleaf den Wunsch seines verschollenen Sohnes. In der Verfilmung von Anthony Minghella sagt Tom zu Dickie einmal ganz unmissverständlich: „Du bist der Bruder, den ich nie hatte. Ich bin der Bruder, den du nie hattest.“ [10]

Das feindliche Brüderpaar ist schon im Alten Testament und in den griechischen Mythen ein feststehender Topos.

Freundschaft kann also zu Rivalität führen und Nachahmung eine Quelle der Gewalt sein. Normalerweise enden solche mimetischen Bewunderungsfreundschaften aber nicht in Mord und Totschlag, sondern im Bruch. Dieser Bruch folgt einer inneren Notwendigkeit und verhält sich spiegelverkehrt zur einstigen Verschmelzung. Als würde die Normabweichung selber zur Korrektur eines gefährlichen Zustands führen, hat das Fehlen identitätsstiftender Grenzen ab einem gewissen Zeitpunkt den Abbruch jeglicher Kommunikation zur Folge: den Beziehungstod. Seit Heraklit ist dieser Vorgang als Enantiodromie bekannt, das Umschlagen der Dinge in ihr Gegenteil: Im ersten Beziehungsstadium werden alle Differenzen übersprungen und im letzten gar nicht mehr zugelassen.

Es sind vorwiegend Männer, die gelegentlich (mit einem gewissen Stolz) behaupten, dass sich das Ende einer Freundschaft nicht so dramatisch wie im Falle einer gescheiterten Liebesbeziehung gestaltet: fast unmerklich wird sie einfach ausgeschlichen. Auf die mimetische Form der Freundschaft trifft das aber nicht zu, weil in ihren Tiefen der Wunsch nach Ich-Auslöschung rumort. Für diese Zwillinge gilt vielmehr die traurige Wahrheit der Liebenden: dass auch die zartesten, ihrer eigenen Schwerkraft überlassenen Dinge die Tendenz haben, „in unausdenkbarer Rohheit sich zu vollenden.“ [11]

MAS

Fussnoten:

[1] Die Formulierung bezieht sich auf eine Stelle aus Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkungen zum Begriff des Politischen, Berlin 1963. Schmitt schreibt dort: „Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt. […] Der Feind steht auf meiner eigenen Ebene. Aus diesem Grund muss ich mich mit ihm kämpfend auseinandersetzen, um das eigene Mass, die eigene Grenze, die eigene Gestalt zu gewinnen.“ (S. 87f.)

[2] So die Rede des Alkibiades in Platons Gastmahl, XXXII, 215d-e.

[3] Ralf Miggelbrink, „Mimesis und Nachfolge: Mimesis als wesentlicher Vollzug des Menschseins“, in: Pastoralblatt für die Diozösen Aachen, Berlin u.a. 56 (2004), S 53-59, hier: 54.

[4] Der Begriff désir mimétique geht auf René Girard zurück.

[5] Patricia Highsmith, Der talentierte Mr. Ripley, Zürich 2002, S. 78.

[6] Vgl. Sigmund Freud, „Das Unheimliche“, in: ders., „Der Dichter und das Phantasieren“. Schriften zur Kunst und Kultur, Stuttgart 2010, S. 187-227, hier: 205.

[7] Tom Ripley kann sich selbst nicht annehmen – das unterschiedet ihn beispielsweise von Felix Krull, einem weiteren Nachahmungskünstler aus der Literatur, dessen Liebe zu sich selbst in ein positives Verhältnis zu anderen mündet. Als ihn die Umstände dazu zwingen, seine übernommene Identität aufzugeben, ist er zutiefst deprimiert. „Widerwillig wurde er wieder zu Thomas Ripley, einem Niemand, widerwillig schlüpfte er in seine alte Haut, nahm er wieder die Position dessen ein, auf den andere herabsahen, die sich nicht um ihn scherten, solange er sie nicht wie ein Clown unterhielt, und der sich zu nichts nutze und zu nichts befähigt fühlte als dazu, andere für ein paar Minuten zu amüsieren.“ (Der talentierte Mr. Ripley, S. 266) Wenn, wie Aristoteles sagt, die bekannten Wesensmerkmale der Freundschaft aus dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst stammen, dann zeugt der Mord an Dickie von Toms Selbsthass: Innerhalb des gefährlichen Spiegelspiels der Identitäten löscht er mit seinem Leben auch die eigene Existenz als Thomas Ripley aus. Insofern liesse sich die Tat auch als krasse Bewältigungsmetapher verstehen, mit dem er die Erfahrung, an seinem Vorbild zu scheitern und mit der eigenen Mangelhaftigkeit konfrontiert zu werden, dauerhaft von sich abzuwenden versucht.

[8] Carl Schmitt zit. n. Michele Nicoletti, „Die politische Theologie Carl Schmitts und die mimetische Theorie René Girards“, in: Bernhard Dieckmann (Hrsg.), Das Opfer – Aktuelle Kontroversen: Religionspolitischer Diskurs im Kontext der mimetischen Theorie, Münster 2001, S. 141-156, hier: 152.

[9] Nicoletti a.a.O., S. 153.

[10] Claudia Liebrand hat dazu bemerkt, dass die Brüderrhetorik nur als Deckschirm für das eigentliche Sujet Homosexualität fungiert. „Tom spricht Dickie als seinen Bruder an, weil er sich nicht traut, ihn seinen Geliebten zu nennen. Die Bruderadresse ist eine Deckadresse.“ (Claudia Liebrand, Gender-Topographien. Kulturwissenschaftliche Lektüren von Hollywoodfilmen der Jahrhundertwende, Köln 2003, S. 84) In der Romanverfilmung von Anthony Minghella aus dem Jahr 1999 wird der homoerotische Aspekt in ihrer Beziehung viel mehr herausgearbeitet. So bringt Tom seinen Freund dort nicht aus blossem Kalkül, sondern im Affekt um, da Dickie erklärt, von ihm genug zu haben. Es ist also auch die Geschichte einer unerwiderten Liebe.

[11] Theodor W, Adorno, „Moral und Zeitordnung“, in: ders., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. 8. Aufl. Frankfurt am Main 2012, S. 87-89, hier: 88.