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Raul Zelik: Friss und stirb trotzdem

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Raul Zelik: Friss und stirb trotzdem Wer hat Angst vor der Polizei?

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Belletristik

Ein Debutroman erzählt von den 1990er Jahren in Berlin-Kreuzberg, von antifaschistischer Gegenwehr gegen Neo-Nazis und von repressiver Polizeigewalt.

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Datum 14. August 2024
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Der Debut-Roman des Schriftstellers Raul Zelik beginnt mit dem Angriff einer Gruppe von Antifaschist*innen auf eine Gruppe rechter Funktionäre der Deutschen Liga für Volk und Heimat. Es sind die berüchtigten 1990er Jahre. Zufällig erfährt eine Person in Berlin-Kreuzberg von einem Journalisten, dass sich Nazis in ein griechisches Restaurant in der Nähe gesetzt haben. Die Nachricht wird mit Ungläubigkeit aufgenommen und spontan eine kleine Eingreiftruppe formiert, die den Rechten klar machen soll, dass sie in Kreuzberg nicht willkommen sind. Die Gruppe, darunter auch ein Freundeskreis migrantischer Antifaschist*innen, stürmt das Restaurant und beendet das Essen. Die angegriffenen „Verteidiger des Abendlandes“ sind gar nicht so heldenhaft, wie sie nach aussen vermitteln. Sie verstecken sich unter den Tischen und schreien nach Hilfe. Der Angriff dauert nur eine Minute.

Am nächsten Tag erfahren die Jugendlichen aus der Zeitung, dass einer der Nazis erstochen wurde. Damit fängt die eigentliche Geschichte an. Das Warten auf den polizeilichen Zugriff, das Untertauchen und das Umkippen von Freund*innen in den Vernehmungen wird aus der Perspektive des Protagonisten während seines Abtauchens und in seinen unterschiedlichen Verstecken erzählt. Der Roman arbeitet mit vielen Rückblicken, die jedoch kaum auf biographische Episoden zurückgreifen. Über das Leben der Jugendlichen wird im Hier und Jetzt gesprochen – und nicht mit der Einwanderungserfahrung der Eltern verknüpft.

Denk ich an Deutschland in der Nacht

Was Raul Zelik jedoch zu stark voraussetzt, ist die politische Atmosphäre der Wendejahre, die den Hintergrund seines Romans bilden. Mit der Wiedervereinigung erlebte Deutschland ein nationalistisch-völkisches Wiedererstarken, dem Pogrome, Brandanschläge, Morde an Antifaschist*innen und an der migrantischen Bevölkerung folgten. Dies zwang die zweite Generation von in Deutschland geborenen oder aufgewachsenen Migrant*innen zur Selbstverteidigung. In West-Berlin verdichteten sich die Konkurrenzen um wirtschaftliche und soziale Ressourcen, da die ehemaligen DDR-Bürger*innen aus Ost-Berlin am einfachsten dorthin reisen konnten. Verdrängungsprozesse aus dem Niedriglohnsektor und ein Kampf um Wohnräume waren die Folge.

In manchen Vierteln hatten sich migrantische Jugendgruppen – mit Namen wie „36 Boys“ in Kreuzberg, „Fighters“, „Panthers“ in Wedding, „Sioux“ oder „Die Barbaren“ in Schöneberg – gebildet. Im Jahr 1989 entstand Antifaşist Gençlik (Antifaschistische Jugend), die in der Berliner autonomen Szene vernetzt war. Türkeistämmige Linksaktivist*innen versuchten, diese Jugendgruppen als Verbündete für einen gemeinsamen politischen Kampf innerhalb der Antifa zu gewinnen. Diese Jugendlichen, beschrieb ein Gründungsmitglied der Antifa Gençlik, waren in den Kiezen aufgewachsen, in denen bis Ende der 1980er Jahre Sondergesetze und Zuzugssperren galten.

In diese Zeit fällt auch der Einzug der Republikaner in den Berliner Senat im Jahr 1989, die rassistischen Überfälle parallel zum 100. Geburtstag Adolf Hitlers, der Mord an dem Familienvater Ufuk Şahin, das geltende repressive Ausländerrecht und der Mauerfall. Die Migrant*innen nahmen die Gefahr ernst und gingen dazu über, die Skinheads und Nazis aus ihren Vierteln und den öffentlichen Plätzen zu vertreiben sowie patrouillierten in grossen Gruppen auf Strassen und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Diese Aktionen wurden von den Medien mit Moralpaniken, Kriminalisierungen und Ghetto-Vergleichen beantwortet.

Rechte Polizisten helfen rechten Tätern

Der Tod des Nazis ist ebenfalls keine Fiktion: Im Jahre 1992 wurde G. Kaindl, der Parteifunktionär der Deutschen Liga für Volk und Heimat (DLVH), bei einem Angriff getötet. Der Mord wurde Jugendlichen aus dem Kreis der Antifa Gençlik zugeschrieben und macht den realen Hintergrund des Buches aus. Drei Aktivist*innen erhielten dreijährige Haftstrafen, zwei weitere Aktivist*innen Jugendstrafen auf Bewährung. Der Verfassungsschutzbericht von 1991 erwähnte Antifa Gençlik und ihre Kontakte zu den Jugendgruppen als eine der gefährlichsten Entwicklungen des Jahres. Dem Zusammenschluss wurde von staatlicher Seite Unberechenbarkeit und latente Gewaltbereitschaft zugeschrieben. Dies erklärt wahrscheinlich den polizeilichen Fokus auf Antifa-Gençlik-Strukturen und Migrant*innen, obwohl der Angriff von einer gemischten Gruppe durchgeführt wurde: Gefährlich war für die Polizei, dass migrantische Personen antifaschistisch organisiert waren und sich mit anderen radikalen Linken zusammengetan hatten.

Der Fahndungsdruck der Polizei übertraf bei weitem jene Massnahmen, die angewendet wurden, wenn Personen durch rechte Mörder zu Tode kamen. Seit 1991 bis zum Kaindl-Prozess wurden 64 Menschen durch Rechte umgebracht und selten lautete die spätere Anklage auf Mord. Mitarbeitende des Staatsschutzes sollen überdies den DLVH-Funktionären die Adressen und Namen von Antifa-Gençlik-Mitgliedern zugespielt haben, die dann Drohbriefe von rechten Gruppen erhielten. Teile des Sicherheitsapparates sympathisierten mit den Rechten, was von heute aus betrachtet mit dem Wissen über geheime Chatgruppen und den NSU 2.0 nicht überraschend erscheint.

Doch zurück zum Roman: Kurz vor der gnadenlosen Fahndungswelle der Polizei, die Kreuzberg heimsuchte, erleben die jugendlichen Protagonisten zunächst die Ruhe vor dem Sturm. In den Vormonaten hat die Polizei noch keinen Fahndungserfolg, die mediale Berichterstattung ist kaum mehr vorhanden. Die Antifaschist*innen beteiligen sich an Aktionen gegen die Räumung einer Unterkunft für Geflüchtete und Vertragsarbeiter.

Als die Polizei mit den Durchsuchungen und Festnahmen beginnt, macht sich im Buch Panik breit. Begriffe wie „lebenslänglich“ fallen und harte Strassenjungs kippen im Verhör um. Wir erfahren, dass alles damit anfing, dass ein Heranwachsender sich der Polizei gestellt hatte und die Polizei schon über ein Jahr den anderen Jugendlichen auf den Fersen war. Der Kronzeuge, „war halb irre“, das schwächste Glied in der Kette, er kennt keine Adressen, nur Spitznamen, schreibt der Autor. Der Protagonist des Romans hat Glück und wird von linken Aktivist*innen in Obhut genommen; sein Abtauchen geschieht ohne Vorbereitung von einer Minute auf die nächste und erfolgt in einem Moment, als der Protagonist gerade eine schöne Zeit durchlebt und „von hier nicht mehr weg will“ (S. 40).

Geballte Fäuste und keine Hände

Es ist erstaunlich an diesem Roman, der 1997 geschrieben wurde und von dem der Autor sagte, er enthalte Realität, aber auch Fiktion, dass es sich einer geheuchelten Empathie zugunsten des rechten Funktionärs verwehrt. Der Fokus liegt auf dem von der Polizei gejagten jungen Menschen, dem nun im stickigen Halbdunkel unterschiedlicher Räume oft nichts anderes als Warten bleibt. Die reflexiven Einblicke des Protagonisten und die Frage, ob er es tatsächlich rausschafft aus Deutschland, wird bis zum Ende spannend erzählt. Womit der Autor aber zu selten arbeitet, sind Beispiele wie die migrantische Gegenwehr der 1990er Jahre gegen den Rechtsruck denn tatsächlich aussah.

Nur an einer Stelle des Romans erinnert sich der Protagonist rückblickend an eine Aktion nach dem Pogrom in Hoyerswerda, wo er mit Ahmet, „dessen Bücherregal eine Festung des Marxismus war“ (S. 123), und einer grösseren Gruppe hingefahren war. Sie liefen durch den Wohnblock, bis tatsächlich eine Junggruppe Nazis sich ihnen in den Weg stellte und sie als Kanacken beleidigte:

„…und sie sahen uns lachend in die Gesichter, aber dann wunderten sie sich, weil wir nicht eingeschüchtert aussahen, wie sie es gewohnt waren, also fingen sie an zu reden, versuchten etwas zu sagen…Irgendjemand von uns nahm den ersten am Kragen, egal ob er grösser war als man selbst, das spielte kein Rolle: erst in den Magen, dann ins Gesicht und dann wieder in den Magen….Wir sind dann weitergezogen, brachen den Autos mit Deutschlandfahnen auf dem Heck die Spiegel ab oder zertrümmerten die Scheiben, griffen die Kurzhaarigen mit den Reichskriegsabzeichen aus den Gruppen heraus…“ (124 f.)

Nach den Taten von Mölln und Solingen, bei denen ausschliesslich Frauen und Kinder durch Brandanschläge von Neonazis getötet wurden und Politiker von „Beileidstourismus“ sprachen, um nicht auf Trauerfeiern zu gehen, Rechte und Konservative von „das Boot ist voll“ schwadronierten, und das Asylrecht abgeschafft wurde, gute deutsche Jungs und Mädels im Siegesrausch den Thüringer Heimatschutz und später den NSU gründeten, spiegelt der Roman die Wut der zweiten Generation von Migrant*innen wider. Sie waren keine Opfer und konnten sehr wohl zurückschlagen.

Eine letzte Warnung

Nach den Morden an zehn Menschen durch den NSU nach 1999 und dem Massenmord von Hanau 2020, ist die Situation der Selbstverteidigung aktueller denn je. Ehemalige Aktivist*innen sprechen sich wieder für die Organisation des Selbstschutzes von und für Migrant*innen aus, da sie jederzeit Ziel von Angriffen werden können. Die Polizei anzurufen, kommt nicht in Frage, höchstwahrscheinlich ist, wie in Hanau, der Notruf auch gar nicht besetzt oder die Polizist*innen sind selbst Teil extrem rechter Netzwerke.

Garip Bali, ein Berliner Aktivist und Antifaschist, analysiert in der Analyse&Kritik wie folgt:

„Auch wenn sich die Politik nach Hanau nicht verändern wird, sollten wir marginalisierte Gruppen, von Rassismus Betroffene und solidarische Linke uns auf weitere Attentate und politische Bedrohungen von rechts einstellen […] Die Idee der unabhängigen, militanten Selbstorganisierung von Migrantinnen ist möglich und machbar.“

Die Antifa Gençlik trat nach dem Kaindl-Fall und der polizeilichen Repression nur noch mit Flugblättern in Erscheinung. Die Jugendgruppen wurden in den 1990ern durch staatlich etablierte Streetwork-Programme erfasst und in die Jugendzentren gezogen, womit ein soziales Problem sozialarbeiterisch befriedet wurde. In sozialräumlichen Kontexten wirken Akteur*innen der Sozialen Arbeit und der Polizei Hand in Hand, während verschiedene Strategien der Hilfe, Kontrolle und Disziplinierung angewandt werden und einen sozialen Panoptismus installieren.

In diesen Räumen existieren die Strategien des/der freundlichen Bezirkspolizist*in und die Darbietung martial-militärisch auftretender polizeilicher Handlungsmacht in Form von „Shisha-Bar-Razzien“ und schikanösen spontanen Kontrollen nebeneinander. Die medial-politische Darstellung migrantischer Räume, im Roman Berlin-Kreuzberg, als „Ghettos“ oder „gefährliche Orte“ erzeugt heute noch Narrative der Bedrohung und erschafft durch permanente Moralpaniken rassizifizierte Topographien. Dies ist kein durch einfache Fahrlässigkeiten im Ton entstandener Teufelskreis, sondern eine staatliche Logik und ein rassifizierender ideologischer Diskurs in einem Kampf um Hegemonie.

Über den Autor des Romans ist aus dem ehemaligen Umfeld auch Kritik zu hören. Er reduziere die Story zu sehr auf eine Liebesgeschichte und habe die Protagonisten nur eindimensional abgebildet. Auch die Kritik der Antifa-Gençlik-Mitglieder an der damaligen Antifa West-Berlin fehle im Buch komplett (vgl. AK Wantok 2014). Die deutsche Linke erscheint im Buch als hilfsbereite Unterstützer*innenstruktur, die die unpolitischen, aber schlagkräftigen Jugendlichen aus den Strassen und Bolzplätzen auflesen muss, um sie vor der Polizei zu beschützen. Ob das stimmt, ist fraglich.

Es ist verständlich, dass die eigenwillige Mischung aus Fakten und Fiktion einigen der damaligen Akteur*innen nicht gefallen hat – doch übertragen auf heute, fast 30 Jahre nach den realen Geschehnissen des Romans, lässt sich, auch aufgrund des Fehlens weiterer Quellen und mit Blick auf die heutige Literatur, dennoch viel Positives abgewinnen. Vielleicht sollten die Protagonist*innen von damals anfangen, ihre Geschichte selbst zu erzählen, damit man literarische Quellen kritisch abgleichen kann.

Meinen eigenen Recherchen zufolge hat tatsächlich einer der Gesuchten von damals es geschafft, Deutschland zu verlassen. Manche sagen, er sei Jahre später in den Bergen als Freiheitskämpfer gestorben. Mit dem Buchende hat das aber nicht viel zu tun.

Çağan Varol
kritisch-lesen.de

Raul Zelik: Friss und stirb trotzdem. disadorno edition, Berlin 2017. 156 Seiten. ca. SFr. 19.00. ISBN: 9783941959088.