Sharon Dodua Otoos Erzählungen aus dem Leben der vier Protagonistinnen sind keineswegs chronologisch aufgebaut, sondern werden in sogenannten „Schleifen“ erzählt. Die jeweiligen Ausschnitte aus Adas Leben wechseln sich in unregelmässigen Abständen ab und nehmen mal mehr, mal weniger Raum ein. Das ist manchmal unübersichtlich und kann dafür sorgen, dass man in einigen Momenten nicht immer gleich weiss, um welche Ada es gerade geht. Als Erzählweise ist die Schleifenform aber konsequent, denn Adas Leben sind miteinander verbunden: Zum einen symbolisch über ein Armband, das im Leben jeder Ada eine Rolle spielt und von einer Generation in der nächsten landet. Vor allem aber durch Erfahrungen, die sie miteinander teilen und die sich bisweilen überschneiden.
Achtsam Geschichten von Leid erzählen
Es fiel mir anfangs schwer, mich in Gänze auf die qualvollen Erzählungen einzulassen, die den ersten Teil des Romans ausmachen und die sehr hastig durch schmerzhafte Lebensetappen der Protagonistinnen führen. Ich hatte zunächst das Gefühl, zu wenig Berührungspunkte zu finden, um mich mit den Figuren identifizieren zu können. Und das Bedürfnis, Distanz zu wahren. Dabei schreibt Otoo diese Geschichten des Elends sehr achtsam auf: Sie nimmt sich die Zeit und erzählt sie auch mal in Umwegen und Andeutungen, um dort nicht explizit zu werden, wo es nicht nötig ist. Damit zollt sie den Protagonistinnen Respekt und zwingt die Leser*innen nicht dazu, sich in potenziell retraumatisierende Situationen zu begeben. Einblicke in das Leben der Ada, die zur Prostitution gezwungen wird, erfahren wir zum Beispiel, indem Otoo beschreibt, wie diese sich in ihr Innenleben zurückzieht und von ihrem Körper abspaltet, um das Erlebte zu ertragen:„Eine Ruhe kehrte jedenfalls in Ada zurück. Das passierte immer, wenn sie sich spaltete. Ihre menschenähnliche Hülle blieb dann stets im Zimmer, bereit für die, die kommen würden, während sie selbst nach draussen driftete und sich vor das Fenster legte.“ (S. 91)
Ein intersektionales Erzählpotenzial
„Das war ja mein Ziel, dass ich einen Roman schreibe für Schwarze Menschen, die in Deutschland leben, arbeiten, lieben, Kinder erziehen (…) ich freue mich aber auf jeden Fall, dass der Roman auch Relevanz hat für weitere Personen“ – so beschreibt Sharon Dodua Otoo im Podcast von Tupoka Ogette die Intention, die sie zum Schreiben von „Adas Raum“ bewegt hat. Im Buch erzählt sie das Leben einer explizit Schwarzen Ada, für alle anderen Adas werden lediglich ab und zu Andeutungen gemacht, die zumindest für mich als Rezensentin keine Schlüsse auf individuelle Positionierungen oder Identitätsmerkmale zulassen – bis auf eines: Alle Vier teilen ihre Erfahrungen als Frauen, die in eine patriarchale Welt hineingeboren werden und denen ein Gros an Leid durch Männer zugefügt wird.Das grosse Unrecht, das den vier Protagonistinnen widerfährt, ist aber nicht nur auf eine, sondern auf das Zusammenspiel vieler verschiedener Formen von Diskriminierung zurückzuführen. Otoo spannt mit ihrem Roman einen Bogen von Kolonialismus über den Holocaust bis hin zu Alltagsrassismus. Die Erfahrungen von jeder einzelnen Ada prägen Adas Leben. Sie sind ineinander angelegt, bedingen einander, potenzieren oder wiederholen sich manchmal – als Erinnerungen, als vererbte Traumata, aber auch als Hoffnungsträger. Denn schlussendlich sind die Erfahrungen, welche alle Adas miteinander teilen, nicht nur von Gewalt geprägt. Sie zeichnen sich auch durch Mut und Lebenswillen aus, häufig auch von Mutterschaft angetrieben. Und durch Frauen, die solidarisch füreinander einstehen und als Freundinnen oft der einzige Lichtblick in der Finsternis sind. Auf diese Weise lotet Otoo mit „Adas Raum“ neue Wege für ein intersektionales Erzählen aus, das die Verwebungen von Diskriminierungserfahrungen und den mit ihnen verbundenen Erinnerungen sichtbar zu machen vermag.
Erinnern und Vergeben
Die Erzählung aus Adas Leben in Berlin setzt im Buch etwas später ein und bietet schliesslich mehr Raum für Hoffnung als die anderen Lebensläufe. Erstmals bleibt Ada hier etwas Zeit, um zur Ruhe zu kommen. An dem tragischen Schicksal, das Ada 1459 in Totope widerfährt, knüpft Ada 2019 in Berlin erneut an: Ungerechtigkeit und Diskriminierung sind in diesem Leben genauso präsent, sie verlaufen aber nicht unmittelbar tödlich. Gleichzeitig sind sie komplexer geworden. Dasselbe gilt für Täter*innenschaft und Schuld – zum Beispiel, wenn wir hier eine Person kennenlernen, die Ada Gewalt angetan hat und die von Ada geliebt wird. Erstmalig drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, ob Vergebung möglich ist.Dass Otoo mit „Adas Raum“ die Perspektive auf Ungerechtigkeit ausdehnt, ist auch auf die auktoriale Erzählweise zurückzuführen, die im Roman einigen ausgewählten Gegenständen zufällt: So ermöglicht uns der Blickwinkel eines Türklopfers im Jahre 1848 nicht nur einen Einblick in das Leben von Ada Lovelace, sondern richtet die Aufmerksamkeit auch auf die Situation von Adas Zofe Lizzie, die als irische Geflüchtete in London von gesellschaftlicher Ausgrenzung und bitterer Armut betroffen ist. Als Türklopfer ist die Erzählerin enttäuscht davon, nicht näher ins Geschehen eingreifen zu können. An späterer Stelle im Buch nimmt sie hingegen die Form eines Reisepasses an und ist überrascht von der Macht, die sie verkörpert. Otoos Entscheidung, diese Sprecher*innenposition Gegenständen zuzuweisen, ist ungewöhnlich und mutig. Sie kann als Appell verstanden werden, mit neuen Spielarten zu experimentieren, um von Erinnerung zu erzählen.