Manche der Rededuelle endeten damit, dass der Richter Anwält*innen oder Angeklagten das Mikrofon abschaltete. Später wurden sowohl Gefangene aus auch einige ihrer Vertrauensanwält*innen vom Prozess ausgeschlossen. Das Verfahren konnte trotzdem fortgesetzt werden. Dafür sorgten Sondergesetze, die im Eilverfahren von der Bundesregierung in einer ganz grossen Koalition aller damals im Bonner Bundestag vertretenen Parteien durchgepeitscht wurden. Sie waren damals auch als Lex RAF bekannt. Lange zurück scheint die Zeit, als an jedem Bahnhof die Steckbriefe mit den Konterfeis gesuchter RAF-Mitglieder, die in der offiziellen Sprache natürlich nur „Terroristen“ genannt wurden, zu sehen waren.
Damals weigerten sich auch viele Linke, die überhaupt keine Sympathie mit der RAF und ihrem Umfeld hatten, diesen Begriff zu verwenden. Heute, 25 Jahren nach der Auflösung der RAF wird auch in linken Medien im Zusammenhang mit der RAF fast nur noch von Terrorismus gesprochen. Diese Formulierung wird man in den Roman von Bart nicht finden. Denn er ist konsequent aus der Perspektive von Gudrun Ensslin geschrieben, die neben Ulrike Meinhof und Andreas Baader zu den Gründer*innen der RAF gehörte.
Deshalb findet sich am Beginn des Romans eine Erklärung der Autorin: „Alle in diesem Roman enthaltenen strafrechtlich relevanten Beleidigungen und Verunglimpfungen von Personen en der Zeitgeschichte, lebenden oder toten, sowie Aufforderungen zu strafbaren Handlungen, und was sonst nach Strafgesetzbuch strafbar ist, sind entweder, dem literarischen Verfahren entsprechend, nicht gekennzeichnete wörtliche oder bearbeitete Zitate der RAF oder repräsentieren deren Position.“
Heidelberg und Vietnam
Die besondere Stärke des Romans ist, dass es Bart gelingt, die gesellschaftliche Atmosphäre in den frühen 1970er Jahren einzufangen. Er beginnt mit dem Kapitel „Heidelberg, Mai 1972“, in dem die RAF-Anschläge auf das US-Hauptquartier in Heidelbergdurchführte. Es wird detailliert geschildert, wie die Bomben explodierten und wo sich die verletzten und toten Militärangehörigen befanden. Mit den Rechnern in der Einrichtung im Neckartal wurden die Bombenabwürfe und Flugzugeinsätze in Vietnam koordiniert. Diesen heute fast vergessenen Fakt formuliert die Autorin der Sprache und Diktion der RAF. „Rote Armee Fraktion auf roten Appellplatz Byebye Campbell-Barracks Sieg im Volkskrieg, es lebe der Vietcong“ (S. 17).„Zwei Wochen später wurde Gudrun gefasst und in die Justizvollzugsanstalt Essen eingeliefert“ (S. 27) lautet der Anfang des zweiten Kapitels. Der Beginn ihres Kampfes gegen die Totalisolation und als die Durchsetzung der minimalsten Rechte hinter Knastmauern begann. In dem Buch werden die Kämpfe sehr detailliert aus der Perspektive von Gudrun Ensslin geschildert. Wir erfahren von Hungerstreiks und Zwangsernährungen, bei denen die Gefangenen in extremer Lebensgefahr sind. Wir erfahren vom Tod von Holger Meins. Die massiven, auch militanten Proteste, die es danach auf den Strassen der BRD und auch in anderen westeuropäischen Staaten gab, werden in dem Zeitverzug und dem Filter geschildert, mit dem Ensslin hinter Knastmauern davon erfährt.
Wir sehen, wie die Informationen nach Aussen immer mehr abgeschaltet wurden. Denn der Kampf der RAF ist entgegen der Hoffnung der Staatsapparate mit der Verhaftung der Gründer*innen nicht zu Ende. Immer, wenn es neue RAF-Aktionen gibt, werden die Haftbedingungen der Gefangenen verschlechtert. Die Anwaltsbesuche werden erschwert, Radios aus den Zellen geholt und Zeitungen einbehalten. Besonders anschaulich beschreibt Bart am Beispiel eines Briefes, was diese Zensur für die Gefangenen bedeutet, den Gudrun Ensslin an Andreas Baader geschrieben hat. Der hat ihn aber nie erreicht. Die Leser*innen erfahren von den Beschwerden, mit denen Ensslin auf die Zensur reagiert. Dann ging der Brief verloren und Ensslin verfasste einen neuen, und die Prozedur begann von Neuem.
Mit dieser dichten Erzählung gelingt Bart die Atmosphäre der 1970er Jahre einzufangen, die heute auch von manchen Linken verklärt werden. Ein solcher Roman, der konsequent aus der Perspektive der damaligen radikalen Linken geschrieben ist, geht auch davon aus, dass Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe und Andreas Baader keinen Selbstmord verübt haben. Der fiktive Einschub, in dem Bart am Schluss des Buches ein Szenario ihrer Ermordung entwickelt, ist der schwächere Teil des Buches. Aber er ist mit 11 Seiten auch recht kurz. Im vorletzten Kapitel beschreibt die Autorin noch mal Hamburg im Juni 1972. Die Verhaftung von Gudrun Ensslin in einem Modeladen wird noch einmal sehr detailreich erzählt. In diesen Zeilen ist auch schon die spätere Niederlage der RAF herauszulesen. Allerdings braucht es einiges an Hintergrundwissen, um alle Zusammenhänge zu verstehen.
„Unser Problem: dass wir dem öffentlichen Aufruf Negts, sich von uns zu entsolidarisieren, unsere Praxis der Solidarität nichts entgegensetzen konnten, weil sie klandestin sind“, lesen wir da. Dazu muss man wissen, dass der Sozialphilosoph Oskar Negt schon in den frühen 1970er Jahren zu den linken Intellektuellen gehörten, der nicht zur Isolierung der RAF aufrief, sondern auch dafür eintrat, mit der Polizei zusammenarbeiten. Das war damals in der ausserparlamentarischen Linken noch ein Tabubruch, doch spätestens im deutschen Herbst ab 1976 gehörte das Abschwören und Distanzieren nicht nur von der RAF sondern von allen staatsantagonistischen Bestrebungen zum täglichen Ritual fast aller linken Gruppen. Es ist ein grosses Verdienst von Bart, dass sie in dem Roman die Erinnerung an eine Zeit wachhält, als viele Menschen nicht nur eine andere Welt für möglich hielten, sondern auch dafür kämpften. Was Besseres als den Kapitalismus findest Du allemal, lautete die Devise.
Auch im nächsten Absatz ist in wenigen Sätzen viel Hintergrundwissen komprimiert. „Kern unseres Problems: dass wir keine nennenswerte Basis im Volk haben, dass wir nicht nur gegen konterrevolutionäre, linke Intellektuelle wie Negt, sondern auch nicht gegen staatliche Spaltungspropaganda angekommen sind.“
Vorbild Christian Geissler
Es gibt kaum literarische Vorbilder für den beeindruckenden Roman von Stephanie Bert. Am Ehesten ist er noch mit dem Roman Kamalatta zu vergleichen, den der kommunistische Schriftsteller Christian Geissler aus der Perspektive eines Mannes verfasst hatte, der zunehmend mit dem Kampf der RAF sympathisiert. Doch Geissler verfasste ein romantisches Fragment. Bart hingegen erzählt eine Geschichte des Widerstands.Die Spannung entwickelt das Buch aus der literarischen Verarbeitung des historischen Materials, das der 1965 geborenen Autorin wahrscheinlich auch deshalb so gut gelingt, weil sie in den 1980er Jahren in Hamburg Politikwissenschaft studiert hat. Damals waren politisch wache Menschen auch immer mit der RAF und ihren Texten konfrontiert. Sie mögen oft nicht schön zu lesen gewesen sein. Für Barts literarische Verarbeitung gilt das Verdikt nicht. Es zu hoffen, dass sich viele Menschen auf die gewiss nicht leichte linke Zeitreise einlassen.