[1] Une nouvelle Comédie humaine? oder Die zwei Enden des Kapitalismus
Der beachtliche Erfolg von Virginie Despentes' Romantrilogie Vernon Subutex (2015–2017), der sich neben der Auflagenhöhe auch in zahlreichen Auszeichnungen dokumentiert sowie mittlerweile in Form einer TV-Serie (Canal+, neun Folgen) und eines Comics, dürfte damit zusammenhängen, dass Despentes' Erzählgeflecht um den arbeitslosen Ex-Plattenladenbesitzer Vernon Subutex eine erst mit ihm evident gewordene Lücke in der französischen Literatur der Gegenwart füllt.1Während ein Grossteil der in den vergangenen Jahren für preiswürdig befundenen Werke in Frankreich sich entweder der Vergangenheit zuwendet oder die französische Gesellschaft durch die eingeschränkte Fokalisierung einer abgehalfterten Männlichkeit zu erfassen trachtet, wie etwa in den Romanen Michel Houellebecqs, unternimmt Vernon Subutex nicht weniger als ein umfassendes Panorama des gegenwärtigen Frankreichs mit seinen zahlreichen sozialen Verwerfungen, Konfliktlagen und Ungewissheiten. Es ist dieser Anspruch Despentes' auf ein multiperspektivisches, vielstimmiges Porträt der französischen Gesellschaft in ihrer Jetztzeit, der rasch Vergleiche mit Honoré de Balzacs Comédie humaine provoziert hat.[2]
Dabei lohnt es sich, den Bezug auf Balzac nicht nur im Sinne panoramatischer Breite anzusetzen. Vielmehr kann auch die Ausarbeitung der Unterschiede für eine erste Einordnung von Despentes' Subutex-Zyklus hilfreich sein; eine Kontrastierung, die sich nicht zuletzt dadurch begründen lässt, dass Balzac und Despentes unbeschadet aller (beträchtlichen) historischen, poetologischen und stilistischen Differenzen durch eine verborgene Kontinuität miteinander verbunden sind: Wo Balzac die Aufstiegsphase der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts kritisch begleitet, analysiert Despentes in ihrem Porträt einer spätkapitalistischen Gesellschaft[3] die Erschöpfung eines Gesellschaftstyps, dessen Eingang in die Literatur von Figuren wie Eugène de Rastignac, César Birotteau und Frédéric de Nucingen markiert wird.
Während Balzac eine Gesellschaft im Zeichen des Aufsteigers und Parvenüs entwirft, präsentiert Vernon Subutex eine Gesellschaft im Zeichen des Abstiegs.[4] Beide Werke bzw. Werkkomplexe situieren sich damit in je unterschiedlich akzentuierten Phasen einer grundlegenden sozialen Transformation. Bei Balzac ist es die althergebrachte Gesellschaft des Ancien Régime, die unter den Auswirkungen des an Fahrt gewinnenden Kapitalismus erodiert. Despentes hingegen verhandelt die sozialen Krisen innerhalb eines postindustriellen Spätkapitalismus, dessen nächstes Stadium noch weitgehend unbekannt ist.[5]
Dabei ist die verschiedene epistemische Organisation der jeweiligen Repräsentation von Gesellschaft aufschlussreich, da sich hierin grundlegende soziale Umbrüche nachverfolgen lassen. Während Balzac im Avantpropos zur Comédie humaine auf die taxonomischen Ordnungen der Naturgeschichte verweist, um die Systematik seines Gesellschaftsaufrisses zu legitimieren, dessen einzelne Protagonisten v. a. nach ,Habitat', Herkunft, Vermögen, Tätigkeit und Geschlecht bestimmt werden,[6] liesse sich die Art und Weise, wie Despentes die Differenzierung ihrer Protagonist*innen organisiert, vielmehr als rhizomatisch charakterisieren.[7]
Sie bilden keine fixierbaren Typen mehr, sondern erweisen sich vielmehr als charakterlich, sozioökonomisch, sexuell und politisch ,fluide'. Diese implizite Ordnung bei Despentes erschliesst sich jedoch erst im Laufe der Lektüre, denn anders als bei Balzac tritt hier nicht die orientierende Instanz eines auktorialen Erzählers zwischen Leser*in und erzählte Welt. Die einzelnen Kapitel der Trilogie weisen vielmehr eine variable interne Fokalisierung auf, durch die in der Regel je eine Figur ihre Mikrorealität artikulieren kann, wobei jede dieser Artikulationen wiederum zum Fortgang des Plots um Vernon Subutex beiträgt und so auf die übrigen beziehbar bleibt. Mit dem Verzicht auf eine identifizierbare übergreifende Erzählinstanz suggeriert Vernon Subutex damit, über die divergierenden Innenwelten und Bedeutungslandschaften der zahlreichen Figuren ein möglichst unmittelbares, ,ungefiltertes' Abbild des gegenwärtigen Frankreichs zu vermitteln.[8]
Der Ausfall auktorialer Vermittlung heisst jedoch nicht, dass Despentes' Romankosmos – wie auch die Comédie humaine – eine ausgeprägte Unwucht besitzt, eine spürbar politische Motiviertheit, die der scheinbar interventionslos präsentierten Perspektivenvielfalt zugrunde liegt.[9] So werden bevorzugt Figuren selegiert, die entweder durch Merkmale der Transgression oder einer sich verschärfenden Prekarität charakterisiert sind.[10] Repräsentanten eines sozialen ,Durchschnitts', finden sich nicht.[11] Vernon Subutex präsentiert folglich eine Gesellschaft der Extreme von arm und reich, in welcher der orientierende Referenzpunkt einer lange Zeit dominierenden Mittelklassegesellschaft als weitgehend ausgelöscht erscheint.
Im Folgenden soll – nach einer kurzen, an soziologischen Befunden orientierten Skizze jenes Gesellschaftstyps, auf den Despentes referiert – die Roman-trilogie analysiert werden, um dabei die in ihr entworfene Form einer neuen, utopisch konnotierten Form der Gemeinschaft oder zumindest Konvivenz herauszuarbeiten und einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dabei gilt es schliesslich auch, das Verhältnis der textinternen ,parasozialen' Alternative jenes culte Subutex zur Form seiner literarischen Vermittlung in den Blick zu rücken und die Frage zu erörtern, ob es möglicherweise ein Potential der Literatur zur produktiven Bearbeitung gegenwärtiger Krisen gibt, das über die rein thematische Ebene und die propositionale Logik politischer Entwürfe hinausreicht.
2 „Polarisierter Postindustrialismus“: Soziale Verwerfungen im Frankreich der Gegenwart
Um die Analyse der Subutex-Trilogie zu systematisieren und die romaninterne Repräsentation von Gesellschaft mit einer externen Vergleichsebene auszustatten, lohnt es sich, zunächst eine soziologische Kurzcharakteristik jenes Gesellschaftstyps anzubieten, dem auch die französische Gesellschaft der Gegenwart zuzuordnen ist. Dies soll hier im Rückgriff auf die Gegenwartsdiagnosen von Andreas Reckwitz geschehen, die als Synthese eines in den vergangenen Jahren sich herauskristallisierenden Konsens in den Sozialwissenschaften verstanden werden können.Insbesondere auf Ebene der Subjekte verzeichnet Reckwitz eine in den vergangenen drei Jahrzehnten sich immer weiter intensivierende Tendenz zur Singularisierung, zur Selbststilisierung als „Singularität“: prekären Arbeitsverhältnissen (z. B. Xavier, Patrice, Céleste, Anaïs) und zwei Identitäre (Noël, Loïc). Nur zwei Figuren werden als reich charakterisiert (Kiko, Dopalet), während alle übrigen, so sie nicht bereits explizit zur prekären Klasse zählen, von Abstiegsängsten geplagt werden. Nicolas Léger situiert Despentes' Trilogie zudem in der breiteren Strömung einer littérature des inégalités, die sich in der jüngeren französischen Literatur verzeichnen lässt (vgl. Léger 2018).
Die Formatierung menschlicher Subjekte als singulär wurde, wie bereits erwähnt, traditionell unter dem für Missverständnisse anfälligen Etikett der Individualität verhandelt. Singularisiert wird ein Subjekt dann, wenn seine Einzigartigkeit sozial wahrgenommen und geschätzt, wenn sie in bestimmten Techniken aktiv angestrebt und an ihr gearbeitet wird. In diesen Fällen bedeutet Subjektivierung Singularisierung: das Subjekt erlangt jenseits aller Typisierungen – die natürlich immer auch möglich sind und bleiben – eine anerkannte Eigenkomplexität. (Reckwitz 2020, 59)
Diese Stilisierung des Selbst und des eigenen Lebens als Singularität birgt dabei besonderes Erosionspotential für eine überindividuelle (und demnach immer schon geteilte) Ebene sozialer Kommunikation und Interaktion, da gegenüber möglicher Gleichheit in dieser Logik der Singularisierung vielmehr die Unvergleichbarkeit jener Singularitäten betont wird:
In der sozialen Logik des Allgemeinen, die ja auch Unterschiede zwischen ihren sozial relevanten Einheiten – Objekten, Subjekten etc. – markiert, handelt es sich um graduelle Differenzen qualitativer oder quantitativer Art […]. In einer Ordnung der Singularitäten sind die Differenzen hingegen immer absolut und ausnahmslos qualitativ; hier herrscht keine Reihen- oder Rangfolge, hier herrscht eine qualitative Andersheit, die den Charakter einer Inkommensurabilität hat. Inkommensurabilität heisst: Den Einheiten fehlt ein gemeinsames Mass, sie sind nicht als zwei Varianten des Gleichen zu verstehen, sondern scheinen im strikten Sinn unvergleichlich zu sein. […] In der Logik der Singularisierung werden damit starke Differenzen markiert. (Reckwitz 2020, 54)
Mag diese Form des Übergangs zum Paradigma der Singularität anfangs noch im Zeichen der Befreiung, der Freisetzung von Kreativität und Selbstentfaltung gestanden haben, hat der sozioökonomische Umbau der Gesellschaft nunmehr zu einer Ungleichheiten immer stärker akzentuierenden Gesellschaftsform geführt, die Reckwitz als „polarisierte[n] Postindustrialismus“ (Reckwitz 2019, 80) bezeichnet.[12] Charakterisiert wird dieser durch eine Klassendynamik, die nicht nur altbewährte Selbstverständnisse erodieren lässt, sondern auch in ihrer Erfahrungsstruktur zunehmend inkompatible Lebenswelten hervortreibt. Die Mittelklasse spaltet sich auf in eine „alte“ und „neue“ Mittelklasse und wird ergänzt durch eine neue „prekäre“ Klasse:
Indem aus dem Erbe der nivellierenden Mittelstandsgesellschaft die neue Mittelklasse emporsteigt, die prekäre Klasse absteigt und die alte Mittelklasse stagniert, ergibt sich in der westlichen Spätmoderne ein Nebeneinander disparater Lebenswelten und damit auch disparater Selbstverständnisse, Lebenschancen und Lebensgefühlen, das es in dieser Deutlichkeit in der entfalteten Industriegesellschaft nicht gegeben hat. (Reckwitz 2019, 126)
Gerade dieses „Nebeneinander von Aufwertungs- und Abwertungserfahrungen, von Zukunftsoptimismus und Zukunftsskepsis“ (Reckwitz 2019, 126), je nachdem, ob man der „neuen“, von Aufstiegschancen profitierenden Mittelklasse angehört oder der um ihren ehemaligen Status bangenden „alten“ beziehungsweise bereits der „prekären Klasse“, erzeugt damit ein Nebeneinander irreduzibel verschiedener Bezugswelten, die einen umfassenderen sozialen Konsens ins Unerreichbare entrücken.[13] Nicht ohne Grund konstatiert Reckwitz daher eine „Krise des Allgemeinen“ (Reckwitz 2019, 285) und betont die Notwendigkeit „eines neuen Gesellschaftsvertrags“ (Reckwitz 2019, 294), um „eine Rekonstitution des Allgemeinen“ (Reckwitz 2019, 298) zu erreichen.
Entscheidend für unseren Zusammenhang ist insbesondere Reckwitz' Charakterisierung westlicher Gesellschaften als Gesellschaften, in denen die Produktion sozioökonomischer Ungleichheiten verbunden mit einem umfassenden Trend zur „Singularisierung“ zu einer Polarisierung geführt hat, die essentielle Grundvoraussetzungen von ,Gesellschaft' selbst zur Disposition stellt, wenigstens insofern darunter noch ein politisch-normativ orientierender Konsens verstanden werden soll. Umgekehrt gilt: Gerade diese sich verschärfende Fragmentierung und Polarisierung des Sozialen setzt den Wunsch nach einer Neubestimmung oder gar Neubegründung von Gesellschaft frei, die diese sich verschärfenden Antagonismen überwinden kann. An genau diesem Punkt lässt sich der Bogen zurück zu Vernon Subutex schlagen.
3 God Is a DJ oder Ab- und Aufstieg des Vernon Subutex
Wie zahlreiche andere Figuren der Trilogie ist Vernon Subutex ein Opfer der von Reckwitz aufgezeigten Prekarisierungsdynamik des Spätkapitalismus. Für den ehemaligen Inhaber des Plattenladens Revolver sind es jedoch nicht die Verlegung von Produktionsstätten in Niedriglohnländer oder die Automatisierung von Berufsfeldern, die seinen alten Lebensunterhalt verunmöglicht haben. Seine Nemesis heisst MP3. Er ist das Relikt einer erloschenen Industrie, die nur noch als Retro-Nische unter Liebhabern fortexistiert.[14] Durch den Selbstmord des befreundeten Pop-Stars Alexander Bleach, der ihm immer wieder finanziell unter die Arme gegriffen hat, kann der arbeitslose Vernon seine Miete nicht länger zahlen und wird vom Gerichtsvollzieher vor die Tür gesetzt.Nach mehreren Couch-Surfing-Etappen bei nicht immer angetanen alten Freunden und Weggefährten findet er sich schliesslich mittellos auf der Strasse wieder. Dabei überrascht nicht nur die Teilnahmslosigkeit Vernons, der seinem sozialen Abstieg gleichsam als Beobachter beiwohnt und kaum versucht, ihm entgegenzusteuern, vielmehr entspricht diesem Absinken auf das Niveau des nackten Überlebens ein allmählicher ,spiritueller' Aufstieg Vernons. Am Ende des ersten Bandes ereilt ihn eine Erfahrung, die als sein Erweckungserlebnis gelten kann. Durchtränkt vom kalten Pariser Herbstregen (und wohl von einsetzendem Fieber begünstigt) erlebt Vernon eines Nachts irgendwo im 19. Arrondissement, wie er sich selbst verflüchtigt: „Il sait qu'il délire, mais ne s'en préoccupe pas. […] de Vernon il ne reste qu'une tension fabuleuse, vers le Plaisir, une dilatation dans le noir, il est la ville entière, il surplombe […]. Au-dessus de lui, les étoiles brillent avec une étrange intensité dans le ciel de Paris“ (Despentes 2015a, 426). Diese wachsende Entgrenzung verbindet sich charakteristischerweise mit einer Synästhesie, in der Elemente der Rock-Tradition eine erhebliche Rolle spielen:
Plus tard – il s'est rendormi entre-temps, il sent un flot de lumière roulant sur un riff de guitare, la voix de Janis perce la douleur comme on viderait l'abcès purulent, il se dénoue. Des doigts invisibles et habiles se glissent derrière les os des clavicules et tirent, le souffle est libéré, la chaleur se diffuse, la cage thoracique est ouverte. Il jouit de chaque parcelle de son épiderme, la chanson s'éternise. (Despentes 2015a, 427)
Das Erlebnis wird als heilsam codiert – „wie man einen eitrigen Abszess leeren würde“ – und lässt von der gewohnten Physis Vernons, dessen „Brusthöhle“ – metaphorisch – gesprengt wird, nicht mehr übrig als eine körperlos gewordene Sensibilität. Zu der hier beginnenden Entzeitlichung (vgl. oben: „la chanson s'éternise“) gesellt sich in der Folge die Erfahrung einer Levitation und einer kontrafaktischen Schau über die französische Kapitale: „Il découvre en face de lui une vue dégagée, il voit tout Paris d'en haut“ (Despentes 2015a, 427). Von diesem entrückten Standpunkt aus wiederum kann er, ähnlich wie der Teufel Asmodée in Lesages Roman Le Diable boiteux (1707), zahlreiche Einzelschicksale verschiedenster Bewohner*innen von Paris erfassen und sich – anders als bei Lesage – empathisch mit ihnen solidarisieren. Sein Ich wird zu einem konzentrischen Kreis, der in ständiger Ausdehnung begriffen ist und schliesslich sogar die Reiche des Nichtmenschlichen umfasst:
Je suis l'arbre aux branches nues malmenées par la pluie, l'enfant qui hurle dans sa poussette, la chienne qui tire sur sa laisse, la surveillante de prison jalouse de l'insouciance des détenues, je suis un nuage noir, une fontaine, le fiancé quitté qui fait défiler les photos de sa vie d'avant, je suis un clodo sur un banc perché sur une butte, à Paris. (Despentes 2015a, 429)
In klinischer Diktion liesse sich Vernons Erleben als akute Schizophrenie einordnen und dies scheint kein Zufall. So haben Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem zweibändigen poststrukturalistischen Klassiker Capitalisme et schizophrénie nicht nur die Kreativität des Schizophrenen als antikapitalistische Strategie aufgewertet, vielmehr bildet im enger gefassten Kontext der Literatur auch die Erfahrung des Schreibens (und des Lesens) selbst eine mögliche Quelle produktiv gewendeter Schizophrenie als emphatisches ,Werden':[15]
Devenir n'est pas atteindre à une forme (identification, imitation, Mimésis), mais trouver la zone de voisinage, d'indiscernabilité ou d'indifférenciation telle qu'on ne peut plus se distinguer d'une femme, d'un animal ou d'une molécule: non pas imprécis ni généraux, mais imprévus, non-préexistants, d'autant moins déterminés dans une forme qu'ils se singularisent dans une population. On peut instaurer une zone de voisinage avec n'importe quoi, à condition d'en créer les moyens littéraires […]. (Deleuze 1993, 11)
Was Deleuze zufolge im literarischen Schreibakt explizit gesucht wird, die Erzeugung einer ,Indifferenzzone' (zone de voisinage), widerfährt Vernon gänzlich ungewollt. Er kann sich in zahllosen Akten emphatischen ,Werdens' nicht mehr von den Singularitäten abgrenzen, die ihn umgeben: Ich sind die Anderen.[16] Doch gerade dieser scheinbare Selbstverlust bildet die Voraussetzung für Vernons nun beginnenden Aufstieg.
Als Clochard fortan im Parc des Buttes-Chaumont im 19. Arrondissement ,ansässig' schart Vernon, dessen „folie douce“ (Despentes 2015b, 16) und „épisodes délirantes“ (Despentes 2015b, 125) anhalten, immer mehr Menschen um sich. Zunächst sind es nur Freunde und Bekannte, die sich von schlechtem Gewissen geplagt seines Wohlergehens versichern wollen, immer häufiger aber auch Fremde, die sich von einem schwer fassbaren Charisma Vernons angezogen fühlen, wobei diese Zusammenkünfte heterogen und amorph bleiben: „un mélange de groupes de discussion, coffee shop à ciel ouvert, débit de bière et lieu de débat“ (Despentes 2015b, 187). Schliesslich beginnt Vernon, der über ein singuläres Talent als DJ verfügt, zu vorgerückter Stunde in einem Restaurant im Park aufzulegen und aus der intensiv empfundenen Konvivenz tanzender Individuen verschiedenster Herkunft formt sich im zweiten Band der Trilogie allmählich der stabile Kern einer neuen Gemeinschaft.
Der Weg Vernons kombiniert damit die in den politischen und sozialen Diskursen Frankreichs virulente Figur des irrécupérable[17] mit hagiographischen, ja sogar christologischen Zügen.[18] Dem Verzicht des Heiligen auf die Verlockungen weltlicher Güter korrespondiert Vernons Ausfall aus jeglicher Form wirtschaftlicher Verwertbarkeit: „Une fois franchi le cap, rien de bruyant, tout se déroule en douceur et avec un rapidité troublante: il est passé de l'autre côté. Le monde des actifs lui paraît déjà loin“ (Despentes 2015a, 351). Das endgültige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und den Verwertungsketten der Konsumgesellschaft wird von Vernon als irreversible Befreiung empfunden, die einhergeht mit einer plötzlich erwachsenen Fähigkeit zur Empathie für seine Mitmenschen, in der sich die christliche Tugend der misericordia aktualisiert:
La vérité était qu'il ne supportait plus, physiquement, ni les murs ni le plafond, il respirait mal, les objets l'agressaient, une vibration nocive le harcelait. Le pire, c'était encore la présence de gens autour de lui. Il sentait leur misère, leurs douleurs, leur peur panique de ne pas être à la hauteur, d'être démasqué, puni, de manquer; il avait l'impression que c'était comme un pollen: ça s'infiltrait en lui et le gênait pour respirer. (Despentes 2015b, 188)
Auch andere Figuren greifen in ihrer Wahrnehmung Vernons auf dezidiert religiös konnotiertes Vokabular zurück. Der überdrehte, dem Kokain zugetane Hochfrequenz-Trader Kiko etwa befindet während einer Party, bei der Vernon als DJ fungiert: „Ce Vernon est ténébreux, depuis qu'il s'occupe du son il est transfiguré“ (Despentes 2015a, 242) – eine deutliche Anspielung auf die Transfiguration Christi (vgl. Lk 9, 28–36). Selbst die sonst eher nüchtern und skeptisch urteilende, nur unter ihrem Decknamen bekannte Protagonistin La Hyène benutzt in ihrer Schilderung der gemeinsamen Zusammenkünfte den Begriff des ,Mysteriums':
Pour la Hyène, tout cela prouvait qu'il se passait quelque chose dans ce groupe qu'elle était incapable de définir, mais qui relevait du presque tangible quand on passait du temps avec eux: un plaisir à être ensemble qui relevait du mystère. Ils ne s'admiraient pas, ils ne se ressemblaient pas, ils n'avaient pas d'intérêt à se côtoyer, mais une fois rassemblés ils s'agençaient […]. (Despentes 2015b, 189)
Es ist diese besondere, schwer fassbare, aber von allen Beteiligten intensiv empfundene Wirkung dieser Zusammenkünfte unter musikalischer Leitung Vernons, die schliesslich zum Versuch ihrer systematischeren Organisation führt. Als convergences sollen sie die Möglichkeit eröffnen, disparateste Individuen ,zusammenzuführen', um ein Korrektiv zu schaffen zu jenen sozialen Spaltungen und Asymmetrien, die der Roman detailscharf verzeichnet. An diesem Punkt gewinnt dessen implizite Utopie konkretere Kontur.
4 Ekstatische Enklaven oder Gesellschaft tanzen
Der heilsame Effekt der sporadischen nächtlichen Zusammenkünfte auf die Beteiligten führt zu dem Versuch, ebendiese Wirkung für ein grösseres Publikum verfügbar zu machen, oder wie es eine Figur in geradezu deleuzianischer Terminologie formuliert: „Une fois partagée par un groupe, une folie, si furieuse soit-elle, peut devenir un mode de vie“ (Despentes 2015b, 394). Dabei wiederholt der Übergang von Spontaneität zu Planung und damit einhergehend das aktive Bemühen um das utopische Potential dieser nächtlichen Gemeinschaftserfahrungen eine topologische Geste, die bereits für die utopischen Texte der Frühen Neuzeit charakteristisch ist: die Einziehung einer Grenze. Wo Thomas More, Tommaso Campanella, Francis Bacon und zahlreiche andere Autoren ihre utopischen Entwürfe auf entlegenen, von bekannten Kontinentalmassen klar demarkierten Inseln situieren, entscheiden sich die Organisatoren der convergences ausdrücklich, diese nicht in Paris abzuhalten, sondern in der Anonymität und Abgeschiedenheit versprechenden Provinz.Eine weitere Unterscheidung betrifft die beteiligten Personen: Zu den wechselnden Gästen der convergences tritt die kleine Gruppe der permanents, darunter Vernon, die Logistik und Planung an den wechselnden Orten der Zusammenkünfte regeln. Für sie gilt es, wie schon für Vernon, sämtliche Bindungen an die zurückgelassene Gesellschaft aufzugeben und administrativ unauffindbar zu werden:
„Pour les permanents, dont il [sc. Vernon] fait partie, qui vivent sur les camps à plein temps, il s'agit de disparaître. Sécurité sociale compte bancaire identité digitale abonnements impositions assurances cartes grises. S'effacer du vieux monde“ (Despentes 2015b, 396). Zu dieser topologischen und sozialen Abgrenzung tritt neben einer medialen – Mobiltelefone und jede Form der Aufzeichnung der convergences sind untersagt – insbesondere auch eine ökonomische, da die Teilnahme kostenfrei ist und die Veranstalter nur von den freiwilligen Sachspenden der Besucher leben: „Ils ne célèbrent rien. Ils n'ont rien à vendre. Ils le font parce que c'est possible. Et qu'il se passe quelque chose, ces nuits. Le point commun entre tous ces gens qui affluent est impossible à définir. C'est quand ils se rassemblent qu'ils deviennent une énorme étoile – ils sont venus pour danser“ (Despentes 2015b, 397).
Diese ökonomische Abgrenzung ist zugleich eine politische, da die Zusammenkünfte nicht im Dienste irgendeiner expliziten ideologischen Botschaft abgehalten werden. In topologischer, sozialer, medialer, ökonomischer und politischer Hinsicht negieren die convergences damit nahezu sämtliche Teilsysteme, die für das Funktionieren einer ausdifferenzierten Gesellschaft gemeinhin als essentiell erachtet werden. Sie bilden eine Form der Konvivenz auf der Grundlage einer fundamentalen Negation von Gesellschaft selbst. Erst auf Basis dieser konstitutiven Negation eröffnen sie den Raum für eine singuläre Erfahrung von Gemeinschaft, die durchweg analog zu jenem Entgrenzungsprozess geschildert wird, den Vernon im Zuge seiner ,Erweckung' durchlaufen hat: „Les épidermes perdent leur frontière, chacun devient le corps des autres, c'est une intimité étendue“ (Despentes 2017, 22).
Für eine Teilnehmerin verdichtet sich die Empfindung dieser neuen Verbundenheit bis zur Sichtbarkeit: „Alors elle avait vu […] autour des corps, des ondes du lumière floues, et elle percevait des cordes d'énergie se tendre et onduler d'une personne à l'autre“ (Despentes 2017, 130).[19] Wie durch fluoreszierende Nabelschnüre miteinander verbunden verwandeln sich die Tanzenden für die Dauer der convergence in Elemente eines einzigen symbiontischen Organismus. Sie vollziehen damit eine (im etymologischen Sinne) Archäologie des Sozialen, als Lehre von dessen Anfängen,[20] die eine Sondierung des Ursprungs aller Gemeinschaft in einer aller expliziten Ordnung vorangehenden Verbundenheit in physisch-rituellem Erleben erlaubt.
Auf den ersten Blick könnte diese klandestinen Zusammenkünfte damit als Instantiierungen einer ‚Neogemeinschaft'[21] verstanden oder als ‚Paragesellschaft'[22] gedeutet werden, doch verfehlen beide Konzepte die Besonderheit dieser Form der Konvivenz, die zugleich Quelle ihrer Fragilität ist. Das Konzept der ‚Neogemeinschaft' lässt sich nicht produktiv anwenden, da sämtlichen Beteiligten, wie immer wieder betont wird, kein einendes Merkmal, kein identitärer Kern gemeinsam ist, der ihr Zusammensein begründen könnte (vgl. oben: „Le point commun entre tous ces gens qui affluent est impossible à définir.“). Der Begriff der ‚Paragesellschaft' wiederum unterstellte einen zu starken Institutionalisierungsgrad oder Grad an abgrenzender Selbstorganisation, denn als ‚Parallel-' oder ‚Alternativgesellschaften' definieren sich ‚Paragesellschaften' gegenüber einer umgebenden Gesellschaft (,Mehrheitsgesellschaft') durch abweichende Werte, Weltdeutungen, Lebensweisen, Kleidungsstile, Alltagssprachen usw., die als bewusste Differenzierung begriffen und mit einem Eigenwert versehen werden und so eine Gegennorm instituieren, die selbst Verbindlichkeit gewinnt (z. B. integralistische Milieus, Kommunen).
Dies wiederum kann dem Umstand nicht gerecht werden, dass sich die convergences gewissermassen akribisch gegen jede Form der institutionellen Konsolidierung verwahren und damit eben auch gegen die Grundlage dessen, woraus eine ,Gesellschaft' mit oder ohne Präfix allererst hervorgehen könnte. Nicht ohne Grund wird daher gegen jegliche Form territorialer Bestimmung mehrfach das ,Nomadische' betont: „Entre les uns et les autres, elle [sc. Pamela] a suffisamment de plans pour qu'ils puissent devenir nomades pendant les dix années à venir“ (Despentes 2015b, 396).[23] An die Stelle jeglicher Festlegung und das heisst eben auch möglicher Exklusion tritt damit eine Utopie der Bewegung, des Nicht-Sesshaft-Werdens, des Provisoriums, eine „Nomadologie“.[24] Diese Form der Konvivenz rund um Vernon Subutex lässt sich damit weder über die in der Moderne geläufige Dichotomie von ,Gemeinschaft' und ,Gesellschaft' erfassen, noch bildet sie eine neue Religion, die als Kompensation sozialer Defizite fungieren könnte. Am ehesten liesse sich das Format der convergence damit als temporär fragiles, territorial ungebundenes Erlebniskollektiv bestimmen.
Trotz der zahlreichen Anspielungen auf poststrukturalistische Theorieentwürfe reaktiviert diese Idealisierung eines sich niemals verfestigenden Zusammenlebens letztlich ein Imaginäres, das deutlich älter ist: den Traum Jean-Jacques Rousseaus von einer Form des Miteinanders vor aller Gesellschaft. Sein Ausgangspunkt ist die Figur des präsozialen homme sauvage, der ebenfalls ein Nomade ist:
Concluons qu'errant dans les forêts sans industrie, sans parole, sans domicile, sans guerre, et sans liaisons, sans nul besoin de ses semblables, comme sans nul désir de leur nuire, peutêtre même sans jamais en reconnoître aucun individuellement, l'homme Sauvage sujet à peu de passions, et se suffisant à lui-même, n'avoit que les sentimens et les lumiéres propres à cet état, qu'il ne sentoit que ses vrais besoins, ne regardoit que ce qu'il croyoit avoir intérêt de voir, et que son intelligence ne faisoit pas plus de progrès que sa vanité. Si par hazard il faisoit quelque découverte, il pouvoit d'autant moins la communiquer qu'il ne reconnoissoit pas même ses Enfans. (Rousseau 1959–1995 [1755], 159)
Das nomadische Leben dieses Einzelgängers vollzieht sich in vollkommener Sprachlosigkeit, da die autarke Einsamkeit seines Lebensvollzugs keine Kommunikation erfordert. Nur zwischen Mutter und Kind gibt es Ansätze zu einer Sprache, die jedoch individuell bleibt, nie zum sprachlichen System gerinnen kann, „ce qui multiplie autant les Langues qu'il y a d'individus pour les parler, à quoi contribue encore la vie errante, et vagabonde qui ne laisse à aucun idiome le tems de prendre de la consistance“ (Rousseau 1959–1995 [1755], 147). Die Sprache ist damit so sehr an die singuläre Situation gebunden, der sie ihre Entstehung verdankt, dass sie mit dem Abschied des Kindes von der Mutter ebenso spurlos wieder verstummt. Wenn sich dennoch einmal zwei dieser nomadisierenden Einzelnen in einer Situation verständigen müssen, ist das, was ihren kommunikativen Horizont bestimmt, so basal, dass die unmittelbar verständlichen Rufe als signes naturels (Condillac) vollkommen ausreichen, denn „[l]e premier langage de l'homme, le langage le plus universel, les plus énérgique, et seul dont il eut besoin, avant qu'il fallut persuader des hommes assemblés, est le cri de la Nature“ (Rousseau 1959–1995 [1755], 148).[25] Dieses ursprüngliche Rufen ist das menschliche Analogon zu der das menschliche Mitleid bestimmenden voix de la Nature, eine Sprache vor der Sprache, die in ihrer Unmittelbarkeit und ihrer notwendigen Wahrheit vor jeder Möglichkeit zur Verstellung eine vorreflexive menschliche Solidarität verbürgt.[26]
Prototypisch für eine nichtentfremdete Sprachform in der Reflexion Rousseaus ist demnach das Schema der Begegnung. Innerhalb dieser reicht die Sprache kaum über das in ihr beschlossene singuläre Ereignis hinaus, ist als Äusserung nur aus dem einmaligen situativen Kontext heraus begreifbar und entzieht sich einer begrifflichen Systematisierung oder gar einer abstraktiven Fixierung im Medium der Schrift.[27] Authentische Sprache und damit eine nicht-entfremdete Kommunikation unter Gleichen ist in dieser von Rousseau geprägten Filiation nur denkbar als singuläre Emergenz, als ein spontan im Verlauf des Aufeinandertreffens entstehender Code der Verständigung der sich auf das Fundament natürlicher Solidarität, wie sie Mitleid und Empathie garantieren, verlassen kann. Auch die Idee der convergence reinstituiert dieses Schema einer singulär gestifteten, ereignisförmigen und damit eben auch temporär begrenzten Solidarität im Zeichen wechselseitiger Empathie und ohne Notwendigkeit eines vorverfügbaren sprachlichen (oder ideologischen) Code.[28]
Auch wenn Rousseau in Vernon Subutex nicht explizit genannt wird, ist er im Subtext damit überaus präsent. So wiederholt etwa auch jener Umstand, der eine erste Auflösung der Gruppe um Vernon einläutet, jenen beinahe mythischen Sündenfall, den Rousseau in der Entstehung des Eigentums und schliesslich des Geldes als Urquelle aller sozialen Übel brandmarkt.[29] Es ist der Tod des kauzigen, aber sympathischen Alkoholikers Charles, welcher der Gruppe die Hälfte eines siebenstelligen Lottogewinns, den er geheim gehalten hatte, zu vererben gedachte, der für Unruhe sorgt. Von einem Moment auf den anderen sieht sich die auf Frugalität basierende Utopie der Gemeinschaft wieder mit den Phantasmen und „Begehrnissen“[30] konfrontiert, die jener kommerzialisierten Gesellschaft der Konkurrenz und des Konsums entstammen, der sie den Rücken gekehrt hatte:
C'était le bordel. Chacun dans son coin à développer son obsession. Personne ne s'énervait, parce que personne ne faisait attention à ce que racontait l'autre. Ça n'était pas l'ambiance du camp. C'était l'ambiance de n'importe quel groupe composé d'individus qui ne sont pas reliés les uns aux autres. (Despentes 2017, 152)
Die Wiederkehr des Geldes bzw. bereits des reinen Versprechens darauf unterminiert alle Bande, die sich zwischen Mitgliedern der Gruppe geknüpft hatten. Die Möglichkeit des Besitzes führt zu einer erneuten Erfahrung der Vereinzelung, an der die Gruppe beinahe irreparablen Schaden nimmt: „La mort de Charles a tout changé. Son héritage a tout changé. Cette somme. Un décrochage. Un looping. Le mouvement inverse de celui produit par les convergences: une déstabilisation, mais pas vers le meilleur. Certainement pas vers l'harmonie. Et ce n'était que le début“ (Despentes 2017, 178–179). Dieser desaströse Effekt unerwarteten Reichtums bringt dabei eine grundlegende Verwundbarkeit dieses Kollektivs zum Vorschein, der sich wiederum anhand des Beispiels Rousseau nachzeichnen lässt. Während Rousseau in den beiden Discours und im Essai sur l'origine des langues die Gesellschaft als solche zur Quelle jeglicher Form von Entfremdung erklärt und die ideal konnotierte Figur des homme sauvage als Gegenbild entwirft, verharrt er als Autor gerade nicht bei jenem regressiven Begehren, zu einem status quo ante vor aller Gesellschaft zurückzukehren. Vielmehr entwirft er in der Schrift Du contrat social (1762) die Konturen einer neuen sozialen Ordnung, die einige Forderungen eines idealisierten Naturzustands aufgreift und doch in eine auf Konvention beruhende und damit eben nicht bloss natürliche Form überführt, die eine neue, gerecht(er)e Gesellschaft begründen kann.[31] Der implizite Rousseauismus in Vernon Subutex weist damit eine signifikante Verkürzung auf, weil es hier gerade jede Form eines neuen Contrat social ist, die es tunlichst zu vermeiden gilt.
Genau hieraus resultiert die äusserste Verwundbarkeit dieses utopischen Entwurfs. Das hier kenntlich werdende Problem einer Utopie ohne Festlegung[32] lässt sich anhand einer Unterscheidung des postmarxistischen Philosophen Cornelius Castoriadis weiter präzisieren (vgl. Castoriadis 1975, 493–538). In L'institution imaginaire de la société unterscheidet Castoriadis zwischen zwei Erscheinungsweisen von ,Gesellschaft': als société instituante und als société instituée. Während letztere eine je historisch gegebene ,aktuale' Gesellschaft bezeichnet, bezieht sich erstere auf eine Gesellschaft im Prozess ihrer Entstehung, als eine noch potentielle Ordnung, die erst im Begriff ist, Wirklichkeit zu werden.
Die société instituante bildet damit den virtuellen Schatten jeder société instituée und konfrontiert die faktische Gegebenheit einer Gesellschaft mit deren Kontigenz, d. h. mit einer Fülle abweichender, noch unrealisierter, aber möglicher Formen von Gesellschaft. Als vermittelnde Instanz zwischen beiden fungiert das Imaginäre, das Castoriadis als „Magma“ bezeichnet und das die Quelle jener noch nicht Form gewordenen Virtualität möglicher Gesellschaften bildet.[33] Entscheidend aber ist, dass die beiden Erscheinungsweisen von ,Gesellschaft' nicht getrennt operieren können. Die société instituée kann zwar durch die société instituante infrage gestellt werden, doch funktioniert dies letztlich nur durch den Übergang zu einer neuen (ggf. gerechteren) société instituée, ohne welche das Wirken der société instituante vergeblich bleibt.[34] Damit ist aber exakt jener Übergang bezeichnet, den die Gruppe um Vernon nicht vollziehen will oder kann. Vielmehr verharrt sie als société instituante im Stadium der Negation einer société instituée. Eine erneute société instituée soll hingegen um jeden Preis vermieden werden.
Das in dieser Utopie implizierte Begehren, auf einer Schwelle zwischen Gesellschaft1 und Gesellschaft2 zu verharren und dieses Ausharren selbst bereits als Begründung einer neuen Form von Sozialität zu feiern, ist jedoch nicht ihr einziger problematischer Zug. Eine weitere Bedenklichkeit zeigt sich in der Beschränkung des Politischen auf die somatische Ebene. Denn auch wenn durchweg die Undefinierbarkeit dessen betont wird, was die heterogensten Individuen im Verlauf der convergences miteinander in Harmonie verbinden kann, ist dieses Element genau besehen unschwer zu bestimmen: Sie alle besitzen einen Körper, der durch Schallwellen manipuliert werden kann.
Die Synchronisation fremder Körper zu einem tanzenden Kollektiv vollzieht sich vor aller Rationalität, vor aller sprachlichen Kommunikation und bedarf keiner Zustimmung. Der Begriff der Manipulation scheint dabei durchaus angemessen, denn es ist eben nicht nur Vernons Versiertheit als DJ, jeweils den richtigen Track zu wählen, die den Ereignischarakter der convergences bewirkt, vielmehr kommen dabei auch jene sagenumwobenen ,Alpha-Wellen' zum Einsatz, die der verstorbene Alex Bleach kurz vor seinem Ableben entdeckte und die es erlauben, Individuen zu ,synchronisieren'.[35] Diese akustisch erzeugte ,Gleichschaltung' psychischer Systeme liest sich wie ein fleischgewordener Wunschtraum aus dem Handbuch des Totalitarismus. Ihr einziger Unterschied gegenüber den Kontrollfantasien totalitärer Systeme besteht in der Abwesenheit einer ideologischen Botschaft.
Die Erfahrung der convergences beschränkt sich damit letztlich auf jenen Aspekt der Massenerfahrung, den Elias Canetti als „Entladung“ (Canetti 1960, 16) bezeichnet hat,[36] d. h. die Entlastung von sozialer Distanz und Differenz durch die unmittelbare Nähe fremder Körper und die Identifikation mit diesen, die durchaus wollüstig erfahren werden kann.[37] Diese Akzentuierung des Somatischen und damit einhergehend die Ausschaltung von Vernunft, Sprache und Diskurs durchkreuzt aber jeden Weg, der von den convergences zurück in die Sphäre des Politischen führen könnte. Die um Vernon Subutex sich konturierende Utopie bleibt damit eine – in einem viszeralen Sinne – ästhetische, die keine Ambitionen entwickelt, die über die nächtlichen Tanzekstasen hinausreichen könnten. Sie bildet eine projektlose Gegenwart.[38]
5 Ironisierung der Utopie und Pharmakon der Literatur
Der Romanzyklus selbst verzeichnet das Scheitern der hier skizzierten, spontanistischen Utopie, verharrt jedoch in einer eigentümlichen Schwebe zwischen Affirmation und Ironie. Das denkbar gewaltsame Ende ereilt die Gruppe um Vernon durch ein identitär motiviertes Attentat, dem sämtliche Gruppenmitglieder mit Ausnahme Vernons zum Opfer fallen. Paradoxerweise ist es gerade der Filmproduzent Dopalet, welcher den Terrorakt in Auftrag gab, der in der Folge die Geschichte dieses Kollektivs einschliesslich seines blutigen Endes in Form einer erfolgreichen TV-Serie gewinnbringend vermarktet.[39]Die Utopie der convergences endet letztlich durch eine gewaltsame Intervention von aussen. Zugleich widerfährt ihr im Zuge der genannten Kommerzialisierung eben das, was Alexander Bleach in seinem Video-Testament über die Kultur des Rock in der Ära Mitterrand beklagte: Die Entschärfung einer Transgression durch ihre Überführung in ein als transgressiv konsumierbares Produkt.[40] Dabei bleibt zu überlegen, ob diese recht nahtlose Überführung von Transgression in Konsum nicht auch mit dem spezifischen Charakter der hier entworfenen utopischen Form zu tun hat. Schon Alexander Bleach darf desillusioniert bekennen: „Le rock convenait à la langue officielle du capitalisme, celle de la publicité: slogan, plaisir, individualisme, un son qui t'impacte sans ton consentement“ (Despentes 2015b, 137). Verbirgt sich eine vergleichbare subkutane Kompatibilität mit den Interessen des Spätkapitalismus womöglich auch im Format der convergences?
Um diese Frage zu beantworten und die Assimilation subversiver Semantiken durch die Logik des Marktes präziser zu erfassen, gilt es zunächst auf die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus hinzuweisen, der – wie Luc Boltanski und Ève Chiapello gezeigt haben (vgl. 2011 [1999]) – nach der Hochphase des Industriekapitalismus in den 1970er Jahren in eine irreversible Krise gerät und in der Folge eine allmähliche Umstellung auf den tertiären Sektor vollzieht, so dass Dienstleistungen und Finanzmärkten ein immer grösserer Anteil an der Wertschöpfung zukommt.
Die Industriearbeiterschaft als Kollektiv, das den Eigeninteressen des Kapitalismus soziale Forderungen und ein planbares Berufsleben abringen konnte, verschwindet zugunsten eines Trends zu Dezentralisierung, Enthierarchisierung, Individualisierung und Flexibilisierung der neuen, nicht mehr auf grosse Industriekomplexe angewiesenen Formen von Arbeit. Entscheidend ist, dass dieser graduelle Umbau der Arbeitswelt in seiner begrifflichen Formatierung auf ein besonders seit 1968 emphatisch artikuliertes Bedürfnis etwa nach Individualität, Kreativität, flachen Hierarchien rekurrieren und sich so als Einlösung einer eigentlich ausserhalb des ökonomischen Bereichs formulierten Befreiungssemantik präsentieren kann.[41] Einher mit dem Zurücktreten jener Kollektive, die den Kapitalismus in seiner vorherigen Phase noch einzuhegen vermochten, geht ein Trend zur Vereinzelung, der zwar grössere Potentiale zu individualisierter Lebensführung eröffnen mag, die Individuen zugleich aber immer unvermittelter mit einer bis in das Privatleben hineinreichenden Konkurrenzdynamik konfrontiert. Diesem Anpassungsdruck steht der/die Einzelne nun mehr allein gegenüber, zumal die Formulierung überindividueller, kollektiver Interessen immer schon an der Konkurrenz der Einzelnen untereinander zu scheitern droht.
Vor dem Hintergrund dieser tiefreichenden soziökonomischen und soziokulturellen Transformation fällt auf, dass die teils deleuzianische, teils unspezifisch ,poststrukturalistische' Semantik, derer sich Despentes' Romanzyklus bedient, ein Gegenmodell bemüht, das in der Phase des Industriekapitalismus der sog. Trente Glorieuses (1945–1975) noch transgressiv und revolutionär sein mochte, in der Phase des gegenwärtigen Stadiums eines globalisierten Kapitalismus, der selbst längst ,rhizomatisch' strukturiert ist, aber viel an Oppositionspotential verloren hat. Vernon Subutex formuliert seine Utopie im Herzen einer spätkapitalistischen Gesellschaft im Ausgang von einer Semantik, die sich jene längst einverleibt hat.[42] Es bleibt damit insgesamt zweifelhaft, ob die Semantik des Poststrukturalismus jene Aufgabe einer normativ grundierten Kritik des gegenwärtigen Kapitalismus leisten kann, oder ob sie nicht vielmehr die Individuen in einem double bind festhält, indem sie auf den Wunsch nach Authentizität reagiert und deren Möglichkeit zugleich negiert:
On peut donc dire, sans exagération ni paradoxe, que si le capitalisme a tenté de récupérer (en la marchandisant, comme on l'a vu) la demande d'authenticité qui était sous-jacente à la critique de la société de consommation, il a aussi, sous un autre rapport et de façon relativement indépendante, endogénéisé, avec la métaphore du réseau, la critique de cette exigence d'authenticité dont la formulation avait ouvert la voie au déploiement de paradigmes réticulaires ou rhizomatiques.
Cette double incorporation contradictoire tend à la fois à reconnaître la demande d'authenticité comme valide et à créer un monde dans lequel cette question ne devrait plus se poser […]. Mais si cette situation, par les tensions qu'elle exerce, peut être perturbante pour ceux qui s'y trouvent plongés, force est de reconnaître qu'elle permet au capitalisme de contourner l'échec auquel il semble voué dans ses tentatives de réponse aux demandes d'authenticité. Mieux vaut en effet, dans l'optique de l'accumulation illimitée, que la question soit supprimée, que les personnes soient convaincues que tout n'est ou ne peut plus être que simulacre, que la,véritableʻ authenticité est désormais exclue du monde, ou que l'aspiration à l' ,authentiqueʻ n'était qu'illusion. Elles accepteront plus facilement alors les satisfactions procurées par les biens offerts, qu'ils se présentent ou non comme,authentiquesʻ, sans rêver d'un monde qui ne serait pas celui de l'artifice de la marchandise. (Boltanski und Chiapello 2011 [1999], 608‒609 [Hvg. d. Verf.])
Die Enttarnung von Authentizität als Mythos erweist sich als Theodizee der Ware. Romanintern scheitert das Projekt der convergences an einem Erstarken des Extremismus, der nicht nur in dem genannten rechtsidentitär motivierten Attentat sichtbar wird, sondern auch in Form islamistischen Terrors, der insbesondere durch die explizite Thematisierung des Anschlags auf den Pariser Konzertsaal Bataclan am 13. November 2015 hervortritt. Die Verbundenheit stiftende Utopie der convergences wird, so die Suggestion der Trilogie, zerrieben von einem politischen Klima, das von zwei symmetrischen Formen eines identitär motivierten ,Backlash' gegen eine multikulturelle, pluralistische Gesellschaft bestimmt wird.[43]
Doch endet der Zyklus nicht mit dieser Geste einer doppelten Viktimisierung, im Zuge derer die Opfer extremistischer Gewalt noch von jenen vermarktet werden, die das Attentat in Auftrag gaben. Der Roman schliesst vielmehr mit einem überraschenden Ausblick in die Zukunft und betrachtet das Geschehene aus der Distanz eines Millenniums: In einer postapokalyptischen Welt ist Europa von einer nicht weiter ausgeführten nuklearen Katastrophe kontaminiert, doch persistiert nach wie vor eine „secte Subutex“, die sich als „peuple nomade“ (Despentes 2017, 402) im Untergrund weiterhin zu den offiziell verbotenen convergences trifft. In teleologischer Lesart wird das besondere Potential dieser nächtlichen Zusammenkünfte zum Vorstadium der Entdeckung der „grandes portes“ (Despentes 2017, 405) erklärt, die eine simulierte Wiederkehr ausgelöschter Wirklichkeit erlauben:
Les grandes portes sont ouvertes, en divers points de la fin du XXe siècle, sur les territoires européens non encore contaminés – elles sont, aujourd'hui, fréquemment utilisées. Les entités – animales, extraterrestres, divines, post-mortem, ultra-fréquentielles – sont familiarisées avec ce passage. On appelle ce carrefour: Lost Paradise. Il s'agit de voyager sur une terre d'avant les grandes catastrophes du début du XXIe siècle. On peut y communiquer avec des animaux vivants, la lumière est non simulée, l'air est respirable, certains vont même jusqu'à se baigner dans les eaux sans protection. (Despentes 2017, 405)
Die Funktionsweise dieser „grossen Pforten“ wird nicht näher erläutert, doch wiederholt sich in der simulierten Wiederkehr einer irreversibel zerstörten Welt (vgl. oben: „Lost Paradise“) auch im Abstand eines Jahrtausends der letztlich rein kompensatorische Charakter einer utopischen Form, die es nicht vermocht hat, die globale Katastrophe zu verhindern. Diese dem Genre der Science-Fiction entlehnte Zeitachsenmanipulation, mit der Vernon Subutex endet, lässt damit einen tiefreichenden Pessimismus erkennen.[44] Zwar dokumentiert sie die Persistenz der Utopie, ebenso sehr aber deren Vergeblichkeit, eine bessere Welt anders als im Modus der Simulation herbeizuführen. Affirmation und Ironisierung der utopischen Form werden ununterscheidbar.
Teilt Vernon Subutex damit das Scheitern seiner textinternen Utopie? Ist deren Unfähigkeit, ein soziales Gegenmodell wenigstens zu entwerfen, auch ein Scheitern des Romans? Oder gibt es eine Ebene, auf der das, was in der Diegese misslingt, womöglich doch und mit anderen Mitteln gelingt? Man würde den literarischen Text mit normativen Erwartungen sicherlich überlasten, wollte man aus Despentes' Romantrilogie ein sozialstrukturelles Alternativmodell zur Bewältigung gegenwärtiger ökonomischer, sozialer und politischer Legitimationskrisen extrapolieren. Verortet man den spezifisch sozialen Wert des ,Systems' Literatur mit Niklas Luhmann in der „Möglichkeit, die Welt in der Welt zu beobachten“ (Luhmann 2008, 287) bzw. präziser: die Gesellschaft in der Gesellschaft, so heisst dies auch, dass die Literatur jene Krisen und aporetischen Konstellationen, die innerhalb anderer Funktionssysteme oder zwischen diesen feststellbar werden, nicht durch den privilegierten Zugriff auf eine höher gelagerte epistemische Ebene auflösen kann.[45] Die Wiederkehr der aporetischen Konstellation ,Poststrukturalismus'/Spätkapitalismus auf der diegetischen Ebene von Vernon Subutex erscheint in dieser Hinsicht nur folgerichtig. Das spezifische Potential der Literatur besteht damit in ihrer Bearbeitung dieser Krise(n) nicht mit politischen Rezeptologien, die Ausserliterarisches letztlich nur reproduzieren würden, sondern mit den ästhetischen und narrativen Verfahren, die nur sie mit voller Lizenz zum Austrag bringen kann.
Diese bestehen zum einen in ihrer oft als ,Welthaltigkeit' bezeichneten, mimetischen Kraft, Modelle sozialer Wirklichkeit zu entwerfen, die anders als Beschreibungen durch soziale Teilsysteme wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Religion nicht auf eine klar definierte, Beobachtungen determinierende Leitunterscheidung festgelegt ist, sondern eine polykontexturale Weltmodellierung erlaubt, in der gerade die komplexe und konfliktaffine Kontaktzone dieser partikularisierten Wirklichkeitszugriffe thematisiert werden kann, in der sich das Leben der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft vollzieht.[46] Dieses literarisch konstituierte Weltmodell wiederum kann seine eigene epistemologische Verfügbarkeit intern reflektieren, indem etwa durch die Kopräsenz verschiedener Figurenperspektiven auf dieselbe fiktionale Welt deren objektive Gegebenheit problematisierbar wird.
Die Möglichkeit eines solchen Perspektivismus muss dabei nicht zwingend erkenntniskritisch funktionalisiert werden, wie es insbesondere in der Literatur der Moderne zum Topos geworden ist, sondern kann in einem seltener thematisierten Sinne auch erkenntnisstiftend wirken. Die vielleicht eindrücklichste Erfahrung bei der Lektüre von Vernon Subutex ist schliesslich jene, dass die Erzählinstanz selbst sämtliche sozialen Grenzziehungen, die sich in der gegenwärtigen französischen Gesellschaft (und ganz ähnlich in den meisten gegenwärtigen Gesellschaften ‚westlichen' Typs) erkennen lassen, radikal unterläuft. Die disparatesten sozioökonomischen und soziokulturellen Milieus werden in Form ,dichter Beschreibungen' greifbar und beginnen – verbunden über das Projekt Subutex – miteinander zu interagieren und zu kooperieren. Besonderes literarisches Gewicht liegt dabei auf der empathischen Erfassung der Prekären, Deklassierten, der Ausgebeuteten und Frustrierten, deren Einzelleben sich gewöhnlich jenseits des erzählerischen Interesses bewegen. Paradigmatisch zeigt sich diese ,entgrenzte' Empathie und die Sensibilität für zunächst unwahrscheinlich anmutende Bedeutungslandschaften in der Schilderung der sorgsam kuratierten Plastiktütensammlung der Alkoholikerin und ehemaligen Französischlehrerin Véro nach Charles' Tod:
La Véro repasse le sac en papier kraft du plat de la main, jusqu'à pouvoir le plier soigneusement et le ranger au-dessus des autres. Elle n'entendra plus, dans son dos, la gueulante du vieux qui ne supportait pas de la voir porter tant d'attention aux piles d'emballages alors que tout le reste de l'appartement se barre en couilles. Ça le rendait dingue qu'elle soit capable d'oublier le linge dans la machine à laver jusqu'à ce qu'il moisisse mais que les sacs plastique et papier soient classés par taille, couleur et matériau dans le grand meuble du salon, qu'elle a vidé de toute la vaisselle parce qu'elle avait trop de sacs. Chacun ses manies. Le buffet marron est bourré d'emballages, maîtriser cet espace procure à la Véro un plaisir aussi intense qu'inexplicable. Il y a d'un côté les emballages à bulle, puis les papiers, les petits en plastique à côté des grands, et dans la dernière section, les très beaux sacs, qu'elle trouve dans la rue. (Despentes 2017, 37)
Die Erzählinstanz des Romans verfährt damit immer schon im Sinne jener oben als ,Schizophrenie' bezeichneten Erweckungserfahrung Vernons, indem sie auf narrativer Ebene das leistet, was textintern dem Format der convergences zugeschrieben wird: die Verknüpfung disparatester Individuen, zwischen denen sich prima vista kaum Gemeinsamkeiten feststellen lassen. Die ohne auktoriale Kommentierung vorgeführten Eigenwelten der insgesamt 26 Figuren gewinnen aus sich heraus Relevanz, Konsistenz und ermöglichen einen Modus des Verstehens, der anders kaum verfügbar ist. Despentes Romanzyklus leistet damit etwas, was keine soziologische Gegenwartsdiagnose und auch keine überhitzte Debatte in sozialen Netzwerken leisten kann, nämlich die scheinbare Fremdheit entlegenster Milieus qua Imagination und Empathie als eigene Möglichkeit zu erfahren.
Ist Literatur über ihren Status als Kommunikation mit dem übergreifenden, ebenfalls kommunikativ konstituierten Kontext ,Gesellschaft' immer schon verbunden,[47] so ermöglicht Vernon Subutex innerhalb einer vermehrt diagnostizierten Sprachlosigkeit oder Diskursverweigerung zwischen sozialen Gruppen auf Rezeptionsebene eine ganz anders gelagerte Form der Kommunikation. Während sich in der zunehmend von sozialen Netzwerken und Suböffentlichkeiten dominierten Gegenwart eine Pluralität von Kommunikationssphären zeigt, die eine immer stärkere Abschliessung nach aussen aufweisen,[48] und etwa auch die wachsende Virulenz von Verschwörungstheorien ein starkes Indiz für eine fortschreitende „Fragmentierung der Öffentlichkeit“ (Butter 2018, 17) darstellt, konfrontiert Despentes' Trilogie ihre Leser*innen mit einer radikalen Entgrenzung dieser kommunikativen Schranken. Wie Vernon, der in jener folgenreichen Nacht sich in einem scheinbar olympischen Blick auf Paris selbst verliert, werden sie für die Dauer der Lektüre zum Medium anderer, disparater Wirklichkeiten, denen sie sich nur durch Abbruch entziehen können.[49]
Ausgehend von der Beobachtung einer wachsenden Synthetisierung natur- und sozialwissenschaftlicher Schlüsselerkenntnisse ist in der jüngeren Wissenssoziologie ein „complexity turn“ verzeichnet worden (Urry 2006). Diesem korrespondiere eine neue, komplexitätsaffine „structure of feeling“ (Raymond Williams):
a greater sense of contingent openness to people, corporations and societies, of the unpredictability of outcomes in time-space, of a charity towards objects and nature, of the diverse and non-linear changes in relationships, households and persons, and of the sheer increase in the hyper-complexity of products, technologies and socialities. (Urry 2006, 111)
Allerdings bleibt in dieser primär wissenssoziologischen Betrachtung von ,Komplexität' die politische Dimension eines solch neuen Bewusstseins und einer solch neuen Sensibilität für Komplexität aussen vor. Gerade im Feld der Politik aber lässt sich schon länger eine von identitären, autoritären, extremistischen und populistischen Strömungen ausgehende Tendenz zur Konstruktion kontrafaktischer Eindeutigkeit beobachten, die jenes im Raum der Epistemologie formulierte Komplexitätsgebot vehement unterläuft. Gerade in einem sozialen und politischen Sinne aber bildet Despentes' Vernon Subutex ein herausragendes Beispiel für eine mit literarischen Mitteln verfahrende Propädeutik der Komplexität.
Selbst der Name des Protagonisten gewinnt in diesem Zusammenhang eine spezifische Bedeutungsdimension: Hinter subutex verbirgt sich Buprenorphin, ein Schmerzmittel aus der Familie der Opioide, das unter anderem als Substitut für Heroin Verwendung findet. Vor dem skizzierten Hintergrund einer polarisierten, in ihren konstitutiven Grundlagen verunsicherten Gesellschaft mag auch Vernon Subutex im oben genannten Sinn als Ausgangsstoff eines Entgiftungsprozesses anwendbar sein. Über den therapeutischen Erfolg kann jedoch ‒ auch das impliziert der Status von Buprenorphin als Übergangsstoff ‒ nur jenseits der Literatur befunden werden.