Die Antwort: Es gibt viele Kampffelder. Die Kultur gehört zu ihnen, nicht nur, weil das so oder so ähnlich bei Antonio Gramsci nachzulesen ist, sondern weil diese, wie der sozio-ökonomische Gesellschaftszustand ein stetes Ergebnis von Kämpfen und Machtverhältnissen ist, sei es nun aus Konflikten zwischen oder innerhalb von Klassen.
Gerade der Literatur wurde im Zuge der historischen Entwicklung hin zum Kapitalismus, der Machtkonzentration auf die bürgerliche Klasse und des damit entstandenen sogenannten „freien Schriftstellers“ das Paradigma der exklusiven und autarken Genie-Clique zugesprochen, an deren Geist die arbeitenden Massen durch Bildungsgefälle und eigentlich auch schon von Haus aus nicht heranreichen. Bis heute gelten Autor*innen als bar jeden gesellschaftlichen Zwangs, sie schreiben aus purem Selbstzweck, scheinbar von Luft und Liebe zehrend. Selbst wenn sie nebenher noch Brotjobs nachgehen (müssen). Denn Klassenzugehörigkeit zählt für sie ebensowenig, wie die Dekonstruktion ihrer Werke auf ihre jeweiligen sozialen Zusammenhänge und Zustände zulässig scheinen.
Wer kann schon nächtelang schreiben, wenn es tagsüber wieder Überstunden hagelt? Und selbst wenn er schreibt, was nimmt er sich heraus, diesem Sport der bourgeoisen Halbgötter zu frönen? Davon abgesehen, dass man heutzutage immer noch im Los-Topf namens Herkunft sitzt, wenn es darum geht, ob man später Dozent*in oder Mitglied des Prekariats ist, geht mit der Literatur der Mief einher, dass ihre Produzent*innen fernab der eigenen Klasse und ihrer Verbündeten stehen. Zu begreifen, dass man trotz Eigennamen auf Bucheinbänden Geistesarbeiter*in ist, gelingt nicht gerade der Mehrheit.
Nichtsdestotrotz: Es gab und gibt Schreibende, die sich durch die strukturelle bis offene Unterdrückung durch die Klassenverhältnisse durchboxten und der Idee, eben jene verkrusteten Zustände zu überwinden, treu blieben und bleiben. Es gab und gibt Autor*innen, denen Gott, Kaiser, Tribun, Staat, Nation, Kapital und sonstige Scheisse keine Heilsbringer waren und sind, die stattdessen den progressiven, vorwärtstreibenden Gesellschaftsteilen ein paar Worte zusprachen. Es gab und gibt Schreiberlinge, denen zwar das Bewusstsein abgehen mag, Teil des Proletariats zu sein, die aber trotzdem als Lohnabhängige einen Beitrag – inhaltlich und/oder formell – lieferten, um zur proletarischen Literatur als sozialen (Teil-)Bewegung und ihrem reflexiven, kritischen und selbstkritischen Charakter beitrugen. Es gab grossangelegte Entwürfe, ein tieferes Bewusstsein in die Literaturproduktion und -interpretation einzubringen – manche grob entworfen, manche abgehoben, manche leider zurückgedrängt. Es gibt im und um das geschriebene Wort eine Schieflage, weil die äusseren sozialen Verhältnisse dieses Schweinesystems die falschen sind und weil diese innerhalb der Literatur allzu oft falsch verarbeitet werden. Weil sich die radikale Linke all dessen bewusst sein sollte.
„Du lernst noch lachen bei uns, Kleiner.“
Historischer Rahmen ist das Konzentrationslager Buchenwald vor den Toren der Goethe-und-Schiller-Stadt Weimar, im Frühjahr 1945. Apitz, Buchhändler, Schauspieler und Autor, der als ehemaliges SPD- und aktives KPD-Mitglied mehrmals von den NS-Faschisten interniert wurde, verbrachte, bis zur Selbstbefreiung am 11. April, acht Jahre in ebenjenem KZ, über das er später seinen millionenfach gedruckten Erstlings-Roman schrieb. Bis heute gelesen – bis heute umstritten.Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, selbst Überlebende des Holocausts, kritisierte die Figur des polnischen Kleinkindes, welches ins Lager geschmuggelt und dort unter grossen Anstrengungen und Opfern von den Häftlingen versteckt wird, als Reduzierung der Shoah. Während Apitz sich auf die Akteure in und rund um das „Internationale Lagerkomitee“ (die illegale Selbstorganisation der Internierten) und der ranghohen Lager-SS fixiert, wird das „Judenbalg“, wie es die Kommandantur schimpft und nach dem es fahnden lässt, Symbol der von den Faschisten verfolgten und ermordeten Jüdinnen und Juden, „verkindlicht“ diese damit und macht sie selbst von antifaschistischer Seite unmündig. Nach Ruth Klüger entsteht dadurch „Kitsch“, der den Verbrechen ihre wahre Grösse nimmt.
„Das Leben ist das Letzte, was wir zu vergeben haben.“
Die Klimax des Romans ist klar auf die Selbstbefreiung des Lagers hin gelegt. So versteht es Apitz, den sich überschlagenden Ereignissen ein ansteigendes Tempo der Szenen einzugeben. Die amerikanischen Alliierten rücken auf Thüringen zu, den Nazis wird es eng im eigenen Kragen und unter den Häftlingen macht sich Ungewissheit breit: Umso näher ihre Befreiung rückt, umso unvorhersehbarer werden die Handlungen der Nazi-Offiziere, deren Foltermethoden unumwunden brutal und barbarisch bleiben bis zum Ende und denen eine Liquidierung des kompletten Lagers (nach Abtransport Zehntausender sind es immer noch über 20.000 Internierte) vorschwebt.Auf diese Situation reagiert das grossteils aus Kommunisten bestehende Lagerkomitee mit Zurückhaltung, wenn sich Panik unter den Eingepferchten breitmacht, mit Verzögerungstaktik, wenn befohlen wird, sich zur Evakuierung und damit für die Todesmärsche in unbekannte Richtung bereitzumachen. Alles, um der heranrückenden Front Zeit zu verschaffen, an das Lager heranzureichen, um den Aufstand wagen zu können und einen Durchbruch zu den Alliierten zu schaffen.
Die Widersprüche, denen sich etwa der Lagerälteste Krämer ausgesetzt sieht, spiegeln sich im Kampf um jeden Einzelnen wider: „Wir haben nicht einfach zu wählen zwischen Leben und Tod!“ Hätten sie das Kind ausgeliefert, stände die illegale Leitung der Häftlinge nicht unter dem erdrückenden Risiko, jederzeit ausgehoben zu werden. Andere wären nicht gefoltert oder gar totgeschlagen worden. Doch ein Kind ausliefern? Ein Kind, das selbst nie Menschen kennengelernt hat, sondern nur SS und Häftlinge.
„Fragen, Hoffnungen, Bangen…“
Bruno Apitz legt keinen redundanten wie verzerrenden Schwall an Pathos in den Roman. Alles bleibt widersprüchlich, vom Drang zur Menschlichkeit, die die Internierten, als zu Tieren herabgewürdigt, auch an sich selbst erfahren wollen, bis zum Wunsch nach Befreiung und Überleben, der einer bleibt, bis zu der konkreten Situation, in der die Selbstbefreiung gelingen kann und nicht zum heroischen Freitod wird, der Tausenden das Leben hätte kosten können.Der kleine polnische Junge (ob nun hermeneutisch als Chiffre der Shoah gedeutet oder nicht) bleibt bis zuletzt eine „Nussschale“ der Ereignisse, passiv, als tiefste Ebene der Determination und Nacktheit gegenüber dem erbarmungslosen Geschehen. Genauso aber werden Gefolterte, wie Höfel, Kropinski, Rose und Pippig, zu nackten Informationsgebern, „lebensunwerten“ Spielbällen und Sandsäcken sadistischer Barbaren in Gestapo- und SS-Uniformen. Voneinander isoliert, kann man die Personen nur schwer entziffern. Die Einzelschicksale sind unablässig miteinander verwoben. Gedeih und Verderb der Häftlinge und ihrer Befreiungsbestrebungen gehen einher mit Aufbau und Bruch der Solidarität untereinander und des Vertrauens aufeinander, aber auch mit dem ge- wie misslingenden Handeln ihrer Wärter.
Aus diesen Widersprüchlichkeiten formt sich das, was „Nackt unter Wölfen“ zu einem wichtigen Bezugswerk der antifaschistischen Literatur macht. Für das Jahr 2015 plant die ARD eine neue Film-Adaption. Ihr obliegt die Bürde, das Werk „gehörig von Ideologie zu entschlacken“. Noch bevor Bruno Apitz' Welterfolg in Druck ging, begann die BRD als Rechtsnachfolger des Dritten Reichs mit grossangelegten Kriminalisierungen von Antifaschist*innen. Die DEFA-Verfilmung „Nackt unter Wölfen“ von 1963 durfte erst ab 1968 der westdeutschen Öffentlichkeit gezeigt werden. Wie „von Ideologie zu entschlacken“ aussehen wird… eine Ahnung macht sich breit.