Wie das Nachwort der Neuausgabe von Jeder stirbt für sich allein betont, galt Fallada während der Zeit der Nazi-Herrschaft als „unerwünschter Autor” (S. 688). So ähnlich wie Kästner, der seine Kinderbücher über Schweizer Verlage aber trotzdem verbreiten konnte. Und der - unter dem Pseudonym Bürger - für Goebbels Renommierfilm Münchhausen am Drehbuch mitschreiben durfte. Fallada veröffentlichte in den zwölf Jahren der Nazi-Herrschaft elf Bücher. Darunter Wer einmal aus dem Blechnapf frisst (1934) und Wolf unter Wölfen (1937), die nach Eigen- wie auch Fremdeinschätzung zu den aufrichtig gemeinten Werken gehören. Dazwischen ziemlicher Schrott im Sinn des Rückzugs auf die Scholle; Blut und Boden immer recht nahe. Auch Filmaufträge gab es immer wieder.
Ohne den Moralonkel spielen zu wollen: Fallada schlängelte sich mit schlechtem Gewissen immer wieder durch. Bekam bis zum Ende auch immer wieder von einer der vielen zerstrittenen Fraktionen im NS-System Protektion. Etwa zwei längere Frankreichfahrten im Dienst des RAD (Reichsarbeitsdienst). Erwünschter Ertrag: ein lobendes Reisetagebuch, auch im Ausland absetzbar. Wurde nie geschrieben. Auch nie vom Dienst reklamiert.
Auch den Knast 1944/45 hätte sich Fallada so ungefähr in jedem System zuziehen können: er hatte im Suff auf seine Noch-Ehefrau Anne geschossen - oder zumindest sich in Gefechtsposition erwischen lassen. Dafür die in Monaten bemessene Gefängnisstrafe. Dies alles individuell im Alpdruck verarbeitet, aber nicht verwunden. Er hat im Alpdruck „ein Buch über Fallada mitgebracht. Nun wird er damit zu tun haben, sein Leben danach zu richten“ (Liersch 1997, S. 282).
Wie liess sich das aber verallgemeinern?
Der aus dem Exil zurückgekommene Becher, Gründer des Kulturbundes, hatte Fallada die Akten des Prozesses gegen das Ehepaar Hampel - im Roman dann Quangel - zukommen lassen, die wegen „Hochverrats" im Jahr 1943 zum Tod verurteilt worden waren. Ihr Delikt: Sie hatten beide nach der Nachricht vom Soldatentod ihres Sohnes zwei Jahre lang Postkarten ausgelegt und beschriftet, auf denen zum Sturz Hitlers und des ganzen Systems aufgerufen wurde. (Beispiele sind im Anhang des Romans abgedruckt. Kunstschrift. Ohne konkrete Hinweise auf Frontverlauf und Kriegsgeschehen.)Wie alle seine Romane hat Fallada auch diesen in beneidenswerter Schnelligkeit fertiggestellt. 866 Schreibmaschinenseiten in vier Wochen. Das erklärt die Unmöglichkeit ausgedehnter Recherchen. Fallada muss sich auf seine - oft hinfällige - Erinnerung verlassen. So ist bei ihm der Judenstern schon 1940 verpflichtend eingeführt, auch bei Bewegung im eigenen Treppenhaus. In Wirklichkeit gab es ihn erst nach Abbruch aller Brücken nach dem Überfall auf Russland. Anna, die Frau des Postkartenschreibers, schafft es, aus der Nazi-Frauenschaft ausgeschlossen zu werden, indem sie eine Bonzenfrau barsch auffordert, sich endlich in einer Waffenfabrik zur Arbeit zu melden. Das hätte nur das Arbeitsamt bestimmen können. Und gerade 1940 galt noch Hitlers Abneigung gegen Frauenarbeit - vor allem eine unter Zwang. Insbesondere wirkt die Aufforderung von einer Arbeiterfrau dann brüchig, wenn diese selber keiner Fabrikarbeit nachgeht.
Schliesslich folgen die Wallungen der Arbeiterin nahtlos der Hetze von Goebbels nach 1943 gegen die "Dämchen mit rotgemalten Fingernägeln" - allerdings nicht gegen die eigenen Bekannten angewandt. Das zeigt eine Eigenheit des Werkes: abstrakte Zeitlosigkeit. Der Krieg ist bei Fallada 1940 so belastend und so verhasst wie 1943. Dabei war die Hitlerfreudigkeit in Deutschland wahrscheinlich nie so gross wie nach der Kapitulation Frankreichs. Umgekehrt das beginnende Erschrecken nie so deutlich wie 1943 nach dem Fall von Stalingrad. Damals begannen die Geschwister Scholl und Professor Huber mit ihren Flugblättern voller inhaltlicher Mitteilungen. Die vollkommene Freiheit der Postkarten jener Familie Quangel von allen zeitgenössischen Informationen aus Zeitung oder Radio wird schon von Kommissaren im Roman verwundert vermerkt. Angeklagt wird von diesen Postkartenschreibern der Krieg. Der Krieg an sich, ohne jeden politisch ernst zu nehmenden Zusatz.
Ein Widerstand, nur genährt über ausgelegte Postkarten - am ehesten wäre er zu vergleichen mit der angeblichen Entfaltung der Aufstände in Tunesien und Ägypten nur über Twitter. So kurze Einträge können nur die schon Überzeugten mitreissen. Die eben über dieses Medium eines erfahren: Wir sind nicht allein. Gehen wir alle zum Treffpunkt. Politisch Unbeleckte vermögen sie kaum zu belehren. Der Aufmunterungseffekt entfällt im Postkartensystem völlig. Wie im Roman unfreiwillig - gegen die Überzeugungsabsicht des Verfassers - zugegeben wurde, bekam die Gestapo noch am Tag des Auffindens neunzig Prozent der Funde abgeliefert. Der Widerstand der Kartenschreiber lief also fast ausnahmslos ins Leere.
Die Gegner
Nicht so sehr die Kommissare der Gestapo sind in diesem Roman die Hauptgegner der Widerständler und damit die Träger der faschistischen Bewegung. Nazihelfer rekrutieren sich in erster Linie aus Zuträgern und Denunzianten. Da gibt es die Nazi-Familie Persicke mit dem hochbegabten sechzehnjährigen Sohn, der auf die Napola kommen soll. Dann aus dem Hinterhaus Barkhausen, Familienvater, Rennwetter, Erpresser. Enno auf der anderen Seite, von seiner Frau verstossener Zuhälter. Sie alle lernen sich kennen beim Versuch, die leere Wohnung der Jüdin im dritten Stock auszurauben. Und bei der Praxis wechselnder Erpressung, bei der die NS-Familie Persicke zunächst Sieger bleibt, bis die Gestapo eingreift, die in diesem Fall sogar eher friedensstiftend auftritt.Diese Gauner stellen die wirklichen Verfolger - ohne anderen Antrieb als Gewinngier. Wer legt den anderen am ergiebigsten rein? Ein Persicke, Mitglied der Familie, die den schärfsten Durchblick im ganzen Roman zugeteilt bekommt, brüllt beim Sieg über Frankreich die einzige Wahrheit heraus, die er versteht: "In nem Vierteljahr sind die Tommys erledigt und dann sollste ma sehen, wie der Führer uns leben lässt. Denn können die andern bluten, un wir sin die Herren der Welt." (S. 10) Der fertige Napola-Schüler Baldur Persicke am Ende: "Ich entwickele auf der Schule meine Führereigenschaften", erklärte Baldur schlicht. "Für alle Fachgeschichten werde ich untergeordnete Kräfte haben. Aber ich werde die Leute unter Dampf halten. Und die Iwans werde ich schleifen. Es gibt viel zu viel von denen" (S. 549) Die ideologische Gefangenschaft der Nazis und der Mitlaufenden wird auf die direkte Ausbeutungsabsicht fremder Völker reduziert. Reicht das aber aus, um den idealistischen Zauber des Faschismus zu erklären?
Die Herrschaft der sich gegenseitig bekämpfenden Brutalos wird im Rückblick von Fallada als ein Schauspiel germanischen Weltuntergangs gesehen. Wie es in Muspilli heisst, der Zukunftsvision der Norne: "do ne wirt mac helpan dem mac" - da werden Verwandte gegeneinander antreten, so zerfallen alle Familienbande. Die Söhne fallen über den alten Zuhälter her und berauben ihn. Sohn Persicke erpresst den Oberarzt, seinem Vater eine doppelte Ration eines Kotzmittels zu verabreichen, das dieser nicht überleben wird. Der Zuhälter wird vom Kommissar am Seerand erschossen. Ja, Fallada übernimmt billigend die Zustimmung zum Verfall im allerletzten Kapitel. Der verwahrloste Sohn, auf dem Land wieder zu sich gebracht, trifft auf den völlig verratzten und elenden Vater, der ihn um Unterkunft bittet. "Und dann, wenn ich wüsste, ein Barkhausen sitzt auf meinem Wagen, dann drehte ich die Peitsche um und prügelte den Kerl so lange, bis er runter wäre von meinem Wagen.“ (S. 665) Und als er dem Alten mit der Polizei gedroht hat, sein Resumé:
"Was,Toni, wir lassen uns von so einem nicht noch mal das Leben verpfuschen? Wir haben's neu angefangen. Wie die Mutter mich in das Wasser gesteckt und mit ihren eigenen Händen allen Dreck von mir abgewaschen hat, da hab ich mir's geschworen: Von nun an halt ich mich alleine sauber! Und das wird gehalten." (S. 667)
Fallada sieht in der erhobenen Peitsche gegen den Vater den endlichen Schritt der Reinigung von allem Vergangenen. Symbolischer Vatermord - und damit zugleich Anknüpfung an Falladas erstes Werk Der junge Goedeschal (1920). Gericht des Sohnes über den wilhelminischen Vater - jetzt als Reinigung von aller Gewaltherrschaft propagiert und wiederholt.
Was fehlt?
Das Merkwürdigste am Roman ist dasjenige, was fehlt. In Bauern, Bomben und Bonzen hatte Fallada scharfsichtig gezeigt, wie die an sich berechtigte Bauern-Bewegung von den Nazis unter den Nagel gerissen wurde. In Wolf unter Wölfen hatte er präzise gezeigt, wie die Grossgrundbesitzer im Osten als Unterkunftsstellen dienten für Soldaten, eigentlich Söldner, der Schwarzen Reichswehr unter Major Ruckhaber - und hatte wenig Illusionen gelassen über die vereinigten Absichten beider Gruppen, die sich nach 1933 als "alte Kämpfer" vereint wiederfanden.In Rowohlts Zeitschrift Tagebuch analysiert er zur Ereigniszeit 1923 den Putsch der Festung Küstrin im republikanischen Sinn. Von all diesen Erkenntnissen findet sich kein einziges Wort im ganzen Buch. Obwohl in der DDR des Jahres 1946 die herkömmlichen Analysen der ökonomischen Wurzeln des Faschismus nur allzu weit propagiert worden sein müssen. Der wirkliche kommunistische Widerstand im Jahre 1940 wird kurz und abstossend geschildert. Die Kommunisten schliessen zwei Sympathisanten wegen Geschwätzigkeit aus der Zelle aus. Und tauchen als denkbar unsympathische Gestalten noch einmal auf. Dass Fallada jeden wirkungsvollen Aufstand erbittert ablehnt, vertraut er der geheimen Kladde im Knast schon 1944 an:
"Wir haben nichts so Lächerliches getan, wie Verschwörungen zu schmieden und Putsche anzuzetteln, was man in völliger Verkennung der wahren Lage im Ausland immer von uns erwartet hat. Wir waren nämlich keine Selbstmörder, deren Tod einem anderen genützt hätte. Aber wir waren das Salz der Erde." (Fallada 1987, S. 562)
Widerstand in voller Einsamkeit
Woher dann - trotz allem - die Wirkung des Romans - in Ost und West? Vielleicht aus dem Bild verschlossenster Einsamkeit im Widerstand. So hätte Fallada sich gerne verhalten. Durch seinen Broterwerb (Schreiben) wurde ihm das immer neu verwehrt. Er prostituierte sich. Vielleicht mit ein Grund für seine Morphium- und Trunksucht. Ausdruck der Hoffnungslosigkeit im Verfall. Schon der Titel des Romans ist einem Werk entnommen, das Fallada für sein höchstes, alle anderen für sein flachstes hielten - Wir hatten mal ein Kind (1934) endet folgendermassen:"Vollkommen erfährt der Einzelgänger [des Romans, Anm. fg] nur das Unglück. Ein Kind stirbt ihm. Der Hof geht zugrunde. Seine Verbindung mit Christiane wird öffentlich beschmutzt. Er hat das Gefühl, in einer Welt voller Feiglingen und Lügner zu leben, und einmal mehr rennt der Sucher Gäntschow [Held des Romans, Anm. fg] gegen das düstere Bild an. Er jagt mit dem Verleumder im Kutschgespann an der Rügenschen Steilküste entlang. Jäh wird aus der wilden Fahrt tödlicher Ernst, und er stürzt in die Konsequenz seines Schicksals - (...) alle Quälerei war umsonst, jeder stirbt allein, und allein zu sterben ist bitter" (Liersch 1997, S. 210)
Eigentlich, muss man daraus schliessen, hat Fallada sich damals schon den einsamen Widerstand erträumt. Einen, der ihm den Kontakt mit allen anderen Widerstehenden erspart. Nur reicht das nicht aus. Wie sehr Fallada da ein persönliches Schicksal als allgemeines sich ausdenkt, wird auch in der Gestalt des rätselhaften Kammergerichtsrats aus dem Erdgeschoss sichtbar. Er ist ganz offenbar der Gestalt des eigenen Vaters nachgebildet, er, den Fallada in den ersten Leerlaufbüchern immer angeklagt hatte. Jetzt ist er der pensionierte Blutrichter, hat 21 Todesurteile verhängt. Aber hungert und dürstet nach einem Gespenst: Gerechtigkeit.
Er setzt sich zwar gegen das einzelne Unrecht, dem er begegnet, zur Wehr. So will er erfolglos die Jüdin Rosental retten. Vor dem Todesurteil verschafft er den beiden Quangels Zyankali-Kapseln, um ihnen das Sterben zu erleichtern. Dennoch schreitet er ganz fremd und verbindungslos durch den Roman. Als Zeichen nur individueller Versöhnung mit dem Vertreter des einst abgelehnten autoritären Gerichtsstaates wird er im Roman geehrt. Mit der Möglichkeit freilich für niemanden zur Nachahmung.
Am Ende seines Lebens wird Falladas Roman des Widerstands - für alle - doch noch einmal die Replik seines Alpdruck. Einsam alles durchstehen, um "anständig" geblieben zu sein. Wie auch das zweideutige Trostwort des Mitgefangenen im Roman lautet: Quangel fragt ihn, was hat angesichts des sicheren Todes unser Widerstand genützt? Antwort: "Uns viel - weil wir uns bis zum Tode als anständige Menschen fühlen können." (S. 567) Das "Anständige", wie es auch Himmler mit Vorliebe verwendete. Nicht das Wirksame, wie es politisch zu fordern wäre.
Der letzte Roman dessen, der für seine welthaltigeren Werke als Balzac des zwanzigsten Jahrhunderts angesehen und geschätzt wurde, ist der eines Einsamen, der sich nur im Bild der Einsamkeit wiederfinden kann. Politisch falsch. Als Lebenszeugnis unvergesslich.