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Michel Houellebecq: Ich habe einen Traum

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Michel Houellebecq: Ich habe einen Traum Was für ein Traum?

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Belletristik

Wer Denken als ernste Angelegenheit auffasst, der wird Houellebecq verständnislos, sogar verärgert zur Seite legen; wer ihm hingegen völlig zustimmt, ist entweder hochgradig depressiv oder/und von demselben Hass auf die eigene Zeit beseelt wie der Autor des vorliegenden Essaybandes.

Michel Houellebecq in Porto Alegre, 2016.
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Michel Houellebecq in Porto Alegre, 2016. Foto: Fronteiras do Pensamento (CC BY-SA 2.0 cropped)

Datum 21. Oktober 2012
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Die einzig vernünftige Haltung, die man als Leser Houellebecqs gegenüber überhaupt noch einnehmen kann, ist die des ironischen Widerstands; nur so können wir uns zum Komplizen seines heimlichen Kicherns machen. Immer wieder findet Houellebecq Personen des literarischen wie ausserliterarischen Lebens, mit und durch die er sich gegen den konformistischen Zeitgeist stellen kann: Dieses Mal ist es die radikale Feministin Valerie Solanas, die "Neuen Reaktionäre" (Alain Finkielkraut, Pierre-André Taguieff, Maurice Dantec u.a.), ein Gedicht von Lamartine und - zum wiederholten Mal - der in Vergessenheit geratene Philosoph Auguste Comte, um nur einige Beispiele zu nennen.

Die Beiträge in dem Essayband sind äusserst unterschiedlich und stammen aus einer Zeitspanne von 1997 bis 2008. Sie reichen von kurzen Stellungnahmen zur Pädophilie, Vor- oder Nachworten zu Monographien (Valerie Solanas, Auguste Comte), Einträgen im "Dictionnaire du rock" (Neil Young), Interviews über die Veröffentlichung von "Plattform" und die aktuelle Lage der jüngeren französischen Literatur bis hin zu Publikationen aus dem Internet, die hier erstmalig übersetzt wurden. Auch sind drei kurze Texte in den Band hineingerutscht, die man unter gewöhnlichen Umständen aufgrund ihrer Irrelevanz (wie im Falle von "Auf dem Wege zur Teilrehabilitierung des Banausen...") sowie ihres Arbeits- oder Fragmentcharakters ("Himmel, Erde, Sonne" und "Technischer Trost") wohl besser noch auf der Festplatte des Autors hätte ruhen lassen sollen.

Als deutscher Leser bekommt man jedoch nachträglich eine Ahnung von der eigentümlichen Stimmung, die das literarische Frankreich mit der Entdeckung einer neuen Generation von Autoren um das Jahr 1994 (zu denen auch Houellebecq zählt) ergriffen hat. Man spürt den Grössenwahn, in den Houellebecq dann (nach der Veröffentlichung von "Plattform" als er als Prophet gefeiert wurde) allem Anschein nach verfallen ist, wenn er in einem etwas peinlichen Zeitungsartikel im Le Figaro stolz seine Zugehörigkeit zu dem Club der neuen Reaktionären ("nouveaux réactionaires") verkündet.

Unter dem Deckmantel eines Freidenkertums à la Nietzsche scheint sich in Frankreich wie auch in Deutschland schon seit längerer Zeit eine neue Bürgerlichkeit zu formieren, deren rechtskonservatives Gedankengut jüngst auch bei uns rund um Sarrazins Thesen einer drohenden Selbstabschaffung Deutschlands offen zutage getreten ist. Was wären solche Leute nur ohne die "linken Tabumächte" (Norbert Bolz)?

Verursachte vor einem Jahrhundert noch jede ein wenig lärmmachende Negation einen Skandal, wie das "Unsichtbare Komitee" feststellt, so liegt er heute in jeder Affirmation, die nicht zittert. Doch sehen sich dabei Provokation und Affirmation zum Verwechseln ähnlich. Vielleicht sollte man diesen Nietzsche-Jüngern mit Thomas Mann erwidern: „Als ob es nötig wäre, das Leben gegen den Geist zu verteidigen! Als ob die geringste Gefahr bestünde, dass es je zu geistig zugehen könnte auf Erden! Die einfachste Generosität sollte dazu anhalten, das schwache Flämmchen der Vernunft, des Geistes, der Gerechtigkeit zu hüten und zu schützen, statt sich auf die Seite der Macht und des instinkthaften Lebens zu schlagen und sich in einer korybantischen Überschätzung seiner „verneinten“ Seiten, des Verbrechens zu gefallen – dessen Schwachsinn wir Heutigen erlebt haben.“ (Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, Vortrag am XIV. Kongress des PEN-Clubs in Zürich am 3. Juni 1947)

Houellebecqs Seitenhiebe gegen das politisch Korrekte oder, mit seinen Worten, das "Einheitsdenken" der Linken stellen nur einen schwachen Abglanz jener masslosen Übertreibungen eines Joseph de Maistre dar. Zwar schmunzelt man über die wahnwitzige Geste, mit einem Satz Theoretiker wie Sartre, Beauvoir, Bourdieu oder Baudrillard abzuservieren. Doch weiss man sofort, dass solche Gesten weniger mit Wahrheit als mit Rhetorik zu tun haben, mit der Lust am Formulieren und vor allem mit vielen Vorurteilen, die der Autor nie überprüft hat. Nach dem Abgang der klassischen Intellektuellen bleibt den heutigen französischen Medienstars eben nur noch das Jonglieren mit leeren Worthülsen.

So fragt man sich denn auch, was die Titelgebung des Bandes wohl motiviert haben mochte: Was für ein Traum? Etwa die genetische Verankerung einer "Universalherrschaft der Liebe", wie es in dem Vorwort zu Valerie Solanas heisst? Aber das kennen wir ja schon aus "Elementarteilchen".

In dem schmalen Essayband finden Houellebecq-Kenner wenig Neues; Nicht-Kenner noch weniger, weil der einstige Hype um das "Phänomen Houellebecq" anhand der paar Texte nicht verständlich wird. Gegenüber der "Welt als Supermarkt" bleiben die zweiten Interventionen deutlich zurück.

Sie wirken ein wenig lieblos zusammengestellt und können auch inhaltlich nicht überzeugen. Einzig der kurze, herzzerreissende Eintrag über Neil Young bildet eine Ausnahme: Hier legt Houellebecq seine ganze Seele hinein, entsagt allen bloss äusserlich bleibenden Zynismen, um anhand Youngs Musik ein utopisches Moment in der Kunst aufzuzeigen, ein naives Träumen und inniges Sehnen, das uns immer weitermachen und hoffen lässt. Ansonsten hat wohl niemand, der die paar Thesen und Einfälle nicht zur Kenntnis genommen hat, auch nur irgendetwas verpasst. Dem Rest, also den eingefleischten Hulle-Fans, ist sowieso nicht mehr zu helfen. Sie freuen sich einzig darüber, dass sie nicht allein sind: dass Neil Young weiterhin singt und Houellebecq immer noch schreibt.

M. A. Sieber

Michel Houellebecq: Ich habe einen Traum. Neue Interventionen. Aus dem Französischen von Hella Faust. DuMont Verlag, Köln 2010. 110 Seiten, 22 SFr, ISBN 978-3832195922