Gegen Autor:innen von Agos liefen und laufen (neben den unvermeidlichen medialen Hasskampagnen) deshalb auch juristische Verfahren wegen „Verrat des Türkentums“ (Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs) – auch gegen Hrant Dink in den Monaten vor seiner Ermordung. Türkische Ultranationalisten hatten ihn bis zuletzt äusserst aggressiv mit dem Tod gedroht und zur Zielscheibe gemacht, ein junger Nationalist führte dann die Tat aus. Innerhalb der Sicherheitsbehörden wurde er im Anschluss unverholen gefeiert, Aufnahmen zeigen den lächelnden Täter etwa gemeinsam mit Polizisten Arm in Arm vor nationalistischen Symbolen. Dass er jetzt wieder auf freiem Fuss ist, ist ein Schlag ins Gesicht aller in der Türkei und in der Diaspora lebenden politischen und ethnischen Minderheiten.
Poetische Fragmente
Von der vorzeitigen Entlassung des Faschos konnte Sâre Zer noch nicht wissen, als sie ihren Beitrag für den Band „tofan (sturm)“ schreibt: „ein ritual, hrant dinks letzten artikel ruh halimin güvercin tedirginliği zu lesen am neunzehnten januar eines jeden jahres“. (S. 86) In seinem Text „Die Unruhe einer Taube in meinem Gemüt“, wie der Titel auf deutsch übersetzt wurde, schreibt Dink über die Zumutungen der gegen ihn laufenden Prozesse und seine wachsende Anspannung – „Ich bin wie eine Taube. Mein Blick huscht nach rechts und links, vor und zurück. Mein Kopf ist genauso unruhig. Und schnell genug, sich von einem Augenblick zum andern zu drehen.“ (Hrant Dink 2007, Übers. J.B.)Gegen das Vergessen und Vergessen-Machen webt Sâre Zer in ihrem Beitrag aus Buchstaben und Trümmerstücken einen Weg des Erinnerns, ein Ritual des wiederkehrenden (politischen, widerständigen und kollektiven) Trauerns auch über Orte und Bruchstellen hinweg. Sie ist damit nicht alleine, weitere Autor:innen der Anthologie fügen eigene Kämpfe, eigene Gedanken, eigene Bezüge in diesen Flickenteppich der Unterdrückung und des Aufbegehrens ein. Auch wenn insgesamt die Themen (und aus subjektiver Perspektive auch die Qualität) der Beiträge variieren, ergeben sie ein sehr eindrückliches Bild der Potenziale politischer Erinnerungsarbeit.
Ich sitze nur wenige Minuten Fussweg vom Ort des Attentats an Hrant Dink entfernt und beginne mit dem Schreiben der Rezension. Unmittelbarkeit verändert den Bezug – etwa, wenn das Militär des Staats, in dem man sich befindet, erbarmungslos auf seinem Territorium und in angrenzenden Regionen Kurd:innen angreift und bombardiert, politische Gegner:innen inhaftiert und pausenlos Menschen nach Afghanistan, Syrien oder Irak deportiert. Aber konkreter Bezug ist nicht alles, auch die Verbundenheit von Erfahrungen über Orte hinweg ist zentral.
Zahllose Leidtragende von militärischer und struktureller Staatsgewalt, nationalistischem Grössenwahn und kolonialer Unterdrückung scheinen in den Textfragmenten des schmalen Bandes vor mir auf dem Tisch auf, mit ihren individuellen und kollektiven Geschichten und Kämpfen. Diejenigen, die ihnen ihre Stimmen, oder ihre Buchstaben, leihen, sind politische Poet*innen, poetische Soziolog*innen und Textarbeiter*innen – darunter Tanasgol Sabbagh, Sanaz Amizipour, Sâre Zer oder Rosa Burç. Es sind „literarische Interventionen aus revolutionären Bewegungen“, wie der Buch-Untertitel verheisst, quer durch alle Genres: Lyrik, politische Gespräche, Essays, zwei Lieder und Bilder. Was ein Gedicht überhaupt sei, im Angesicht der Revolution, fragt Tanasgol Sabbagh im ihrem Beitrag immer wieder, und verbindet die Antworten:
„What is a poem in the face of a revolution
A cemetry?
A graveyard?“ (S. 22)
Dies sind eindrückliche Bilder und Worte wie Messer, die tief ins Fleisch schneiden. „Jîna, Liebste“ schreibt Sabbagh, „als ich angefangen habe diesen Text zu schreiben, da gab es dich noch“ (S. 19). Poesie als ein Funke, der die Revolution entzünden kann.
„Something to hold on to
The head of a nail
An open palm, a fist,
fuel, many things: the spark
that lights up a fire.“ (S. 25)
Widerstand und Neubeginn
„An entire world“ – eine ganze Welt, sagt Rosa Burç in einem Beitrag des Pomegranade Podcasts, von dem eine verschriftlichte Kurzversion in den Band gefunden hat, „hidden in this very hard shell.“ Sie bezieht sich auf die Frucht, die dem Podcast den Namen verleiht und mit dem Adrian Pourviseh das Cover der Anthologie geschmückt hat: Der Granatapfel, für viele Menschen Symbol der Widerständigkeit und Autonomie. Die diamantförmigen, tiefroten Kerne, die hinter dieser harten Schale versteckt sind, sagt Burç, „all these small bits have another shell, so they have their integrity and their autonomy, but they are all part of one.“ (S. 50)In der Levante und darüber hinaus hat die Frucht auch deswegen hohe symbolische Bedeutung. Burç schlägt davon ausgehend einen Bogen zu den Feuern, die zum kurdischen Newroz überall entzündet werden – sie sind ein wichtiges Symbol der kurdischen Geschichte und auch des kurdischen Widerstands, ein Sinnbild der Hoffnung. Neben dem Willkommenheissen des Frühlings, der ursprünglichen Bedeutung des Neujahrsfests, sei Newroz zunehmend eine politische Bedeutung verliehen worden, so Burç. Die Fokussierung auf den politischen Aspekt, beziehungsweise die Politisierung der Feierlichkeiten sei
„ein Produkt der starken Kriminalisierung der Newroz-Feiern. […] Schon das Tanzen um ein Feuer ist ein Akt des Ungehorsams und im Fall der Kurd*innen ein Akt des Widerstands. Wir können das kulturelle Leben deshalb nicht von seinem politischen Aspekt trennen." (S. 52f., Übers. J.B.)
Nar, انار, Apfelgranate
Granatäpfel, Akkoub (ein Distelgewächs), Olivenzweige, Flammen… Viele Natur-Bezüge finden sich als Symbole von regionaler und kultureller Verwurzelung, Resilienz und Widerstand wieder. Sie müssen aber auch als kolonisierte (und damit dem widerständigen Gehalt beraubte) Objekte sichtbarer gemacht werden, macht Sanaz Azimipour in ihrem Beitrag des Bandes auf persisch und deutsch deutlich:„Elemente wie Granatäpfel, Keramikfliesen und Fladenbrot [sind] die letzten Dinge, die mit der Jîna-Revolution in Verbindung gebracht werden sollten. Wenn wir Revolutionen im Sinne einer Störung der herrschenden Ordnung verstehen, müssen wir bereit sein, die koloniale Ordnung/das koloniale Verständnis und das kolonisierte Objekt in Frage zu stellen.“ (S. 69)
Nicht alle Autor:innen hätten die Illustration des Buches gutgeheissen, kommentiert demenstprechend Herausgeber aDj in einer Anmerkung am Ende des Buches. Er habe sich letztlich aber für den Fokus und die Kontextualisierung des Granatapfels – der in seiner Familie auch „gerne (lange unfreiwillig) Apfelgranate“ (S. 98) genannt werde – als Symbol für den Band entschieden. Mit oder ohne Granatapfel ist der Band voller revolutionärer tiefroter Fragmente, die zum Nach- und Zusammendenken, zum Betrauern und zu Solidarität anregen.