Das Buch „Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert“ der Philosophin Amia Srinivasan ist eine mäandernde Suche nach Antworten auf Fragen, die feministische Kämpfe gegenwärtig bewegen. Alle sechs Essays des Buches werden getragen von einem intersektionalen Ansatz, der sich unter anderem auf die Arbeiten von Catherine MacKinnon, bell hooks, Adrienne Rich und Angela Davis bezieht und damit gleichermassen einen weiten Überblick über die feministischen Diskurse der letzten Jahrzehnte schenkt.
Liebe, Lehre und Macht
Für die deutsche Hochschullandschaft ist das Essay „Warum man nicht mit seinen Studierenden schlafen sollte“ zentral. Wenngleich sexuelle und romantische Beziehungen zwischen Professor und Studentin zunehmend als problematisch thematisiert werden, gehören intime Anbahnungen, vermeintliche Komplimente, sexistische Kommentare und körperliche Übergriffe in der Wissenschaft immer noch zur Tagesordnung für weiblich gelesene Studierende. Srinivasan nimmt diesen Missstand auf und führt eine überraschende Argumentation gegen ihn ein. Dort, wo es nicht um strafrechtlich relevante Übergriffe geht, sondern um – zumindest im juristischen Sinne – zulässige Verhältnisse, sollen nicht hochschuleigene Richtlinien intime Beziehungen zwischen Professor(_innen) und Studierenden verhindern, sondern eine gute pädagogische Praxis.Um dieser Sexualpädagogik theoretisches Futter zu geben, greift Srinivasan auf eine der Grundannahmen der Psychoanalyse zurück: die Übertragungslehre. Genau wie in der Psychoanalyse komme es in der Lehre zu einer Übertragung zwischen Lehrer_in und Schüler_in. Doch während der_die Analytiker_in qua Berufsstand verpflichtet ist, diese Übertragung therapeutisch zu nutzen und aus ihr keinen eigenen sexuellen oder sonst wie egoistisch motivierten Gewinn zu ziehen, durchläuft kaum ein_e Professor_in auch nur je eine pädagogische Schulung. Laut Freud ist die Übertragung eine Projektion früher Erfahrungen, – sie richtet sich nicht an die Person hinter dem_der Analytiker_in. Sondern die Gefühle dem_der Analytiker_in gegenüber sind projizierte Ängste und Bedürfnisse aus der prägenden Vergangenheit. Srinivasan erkennt richtig, dass es sich zwar bei jeder Verliebtheit um Projektion handelt. Sie schliesst aber ebenso richtig, dass diese sehr banale Feststellung längst nicht ausreicht, um der Projektion in asymmetrischen Machtverhältnissen unhinterfragt nachzugehen.
Der bequeme Weg in der Lehre – zumindest für die Lehrenden – vermeidet die Auseinandersetzung mit ihren Machtdynamiken. Der unbequeme Weg ist etwas origineller. Hier stehen nicht die Subjekte im Fokus, sondern das beinah verschüttgegangene Objekt, die Lehre selbst: „Man muss fragen, welche Art von Liebe Lehrende als Lehrende den Lernenden entgegenbringen sollten.“ (S. 194) Ebenso sollte man fragen, welche Form von Interesse Lernende dem Lehrenden tatsächlich entgegenbringen. Wird Anerkennung, Neugier und Wissbegierde fälschlicherweise als sexuelles Interesse gelesen? Richtet sich das Interesse womöglich vielmehr an das, was der Lehrende repräsentiert, nämlich epistemische Macht?
Srinivasan meint, dass begehrt wird, was den Professor zu dem macht, was er in seiner Funktion als Professor ist. Es gibt Beispiele aus den letzten Jahren, in der diese vermeintlich begehrte und begehrende Person eine weibliche Person war. Das weist umso mehr daraufhin, dass es hier um die Machtposition an sich geht. Wer das verkennt, trifft vielleicht umso härter (möglicherweise trifft es ihn_sie aber auch gar nicht), was Srinivasan sehr nüchtern festhält:
„Wenn Lehrende die Sehnsucht Lernender nach epistemischer Macht in einen Schlüssel zur Sexualität verwandeln und es zulassen oder gar provozieren, zum Objekt ihres Begehrens zu werden, haben sie als Lehrende versagt.“ (S. 195)
Sie stützen dann eine patriarchale Logik, gegen die sie paradoxerweise in ihren theoretischen Arbeiten zeitweilig ins Feld ziehen. Können sie „der Versuchung, Nutzen aus der besonderen Sozialisierung von Frauen im Patriarchat“ (S. 204) zu ziehen nicht widerstehen, dann weisen sie ihrer Studentin den Platz zu, der ihr von Beginn an zuzustehen schien: als Assistentin, als Sekretärin, als „Spenderin emotionaler Fürsorge“ (S. 205).
Srinivasan fordert keine strengeren Richtlinien an den Hochschulen. Auch sie erkennt, dass bisher jede Regelung von formal einvernehmlichem Sex immer auch eine antifeministische Kehrseite hatte, die das Sexleben von Frauen entweder kontrollieren oder Frauen infantilisieren sollte. Aber vielleicht wären Institutionen für Lehrende nicht übel, die die Funktion der Supervision übernähmen. Auch die psychoanalytische Praxis samt ihrer Akteure ist nicht frei von widersprüchlichen Affekten, Gefühlsregungen und (Gegen-)übertragungen. Ihnen wird aber per Definition Platz eingeräumt; etwas das der Wissenschaft häufig fehlt. Bis eine neue Kultur der Lehre an den Hochschulen einzieht, bleibt – gegen jede produktive Logik des patriarchal-kapitalistischen Systems – die Forderung: Just don't do it!
Abolitionistischer Feminismus
Während Srinivasan in ihren Essays eher Verhältnisbeschreibungen vornimmt, eine neue Ethik fordert und dabei stellenweise eine Kritik der ökonomischen Verhältnisse vermissen lässt, wird der Anspruch im letzten Essay des Buches radikaler. In „Sex, Karzeralismus, Kapitalismus“ tritt Srinivasan einer Karzeralpolitik (der Karzeralfeminismus setzt vornehmlich auf höhere Haftstrafen für Sexualverbrechen und Gewaltverbrechen gegen Frauen) entschieden entgegen. Sie argumentiert für einen abolitionistischen Feminismus, der antikarzeral, antikapitalistisch und antirassistisch agiert.So soll nicht vergessen werden, wen das patriarchale System der westlichen Welt am härtesten trifft: Arbeiter_innen, Schwarze Frauen, Sinti_zze, Rom_nja, geflüchtete Frauen, Einwanderinnen, Frauen mit Kopftuch, queere Menschen. Sie leiden häufig doppelt, wenn die Gesetze, die Frauen schützen sollen, verschärft werden. Einerseits betrifft sie Gewalt im Haus, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum häufiger als wohlhabende, zumal weisse Frauen. Andererseits ist ihnen mit der reinen Bestrafung ihres Freundes, Mannes, Sohnes, Arbeitgebers et cetera selten geholfen. Arm und verwundbar bleiben sie. Frauen, ungeachtet ihrer sozialen Unterschiede, ist eines gemeinsam:
„Sie alle werden aufgrund ihres Geschlechts unterdrückt, und das ist das Fundament ihrer empathischen und strategischen Allianz. Aber gerade die Formen des Leids, die nicht alle Frauen gemein haben – und vor denen einige durch ihren Wohlstand, ihre Hautfarbe, ihren Staatsbürgerstatus oder ihre Kaste bewahrt werden –, belasten die betroffenen Frauen am meisten.“ (S. 237).
Und genau deshalb, so schliesst Srinivasan ihr Buch, sollte die Solidarität und der feministische Kampf immer dort hinstreben, wo die Kräfte am dringendsten gebraucht werden.