Das Gefängnis als rassistische Institution
Wie ist also das Gefängnis als Institution im Kontext der Frage nach Sicherheit zu bewerten? Wofür wird es gebraucht? Wen schützt es? Und könnten wir auch ohne? Das alles sind Fragen, die Angela Davis in ihrem im Jahr 2003 erschienenen Buch „Are Prisons Obsolete?“ thematisiert. Auch wenn jüngst das erste und das letzte Kapitel auch auf Deutsch vorgelegt wurden (siehe Weiterführende Literatur, Anm. Red.), ist das Buch in seiner Gesamtheit bislang nicht übersetzt. Allerdings ist es als Einstieg für alle Personen, die über grundlegende Englischkenntnisse verfügen und zum ersten Mal ihre Meinung über das Gefängnissystem hinterfragen wollen, sehr gut geeignet, weil es einen allgemein verständlichen Zugang bietet, ohne sich in akademischen Spitzfindigkeiten zu verlieren.Davis legt ihren Schwerpunkt auf das Gefängnissystem der USA und wie es sich dort entwickelt hat. Dies sollte man im Hinterkopf behalten, will man die Erkenntnisse auch auf Systeme ausserhalb der USA anwenden.
Davis rekonstruiert im Hauptteil die Entwicklung der US-Gefängnisse. Dabei zeigt sie zunächst die historische Kontinuität von rassistischen Institutionen in den USA auf: über Sklaverei, Lynchjustiz und Convict Leasing – dem, nach dem Ende des US-amerikanischen Bürgerkrieges, staatlich organisierten und rassistisch motivierten System der Verpachtung von Strafgefangenen als Zwangsarbeiter*innen – hin zur Segregation und schliesslich der Masseninhaftierung heute. Schwarze Körper, schreibt Davis, würden seitens Politik und Wirtschaft als Ressource zur Ausbeutung betrachtet. Das habe vor allem die anhaltende systematische Kriminalisierung Schwarzer Menschen seit der offiziellen Abschaffung der Sklaverei möglich gemacht. Diese Herleitung ist einleuchtend argumentiert. Doch dann bringt Davis folgende These:
"Wenn wir bereits davon überzeugt sind, dass Rassismus die Zukunft unseres Planeten nicht bestimmen darf, und wenn wir erfolgreich argumentieren können, dass Gefängnisse rassistische Institutionen sind, dann kann dies dazu führen, dass wir ernsthaft in Erwägung ziehen, Gefängnisse für überflüssig zu erklären." (S. 25, Übers. LZ)
Diese Aussage weckt den Anschein, es sei gesellschaftlicher Konsens, dass Rassismen nicht zukunftsweisend sein dürfen. Doch war man sowohl zu dem Zeitpunkt als der Band erschienen ist, als auch heute weit entfernt von einem gesellschaftlichen Konsens zur Ablehnung von Rassismus. Davis lässt an dieser Stelle zudem ausser Acht, dass Rassismus im Kapitalismus nach wie vor einen Nutzen erfüllt; nämlich, indem er bestimmte Personengruppen kriminalisiert und in widrige Arbeitsverhältnisse – nicht zuletzt auch in Gefängnisarbeit – zwingt.
Ein Blick hinter die Gefängnismauern
Neben den rassistischen Strukturen, die sich in der Institution Gefängnis im Kapitalismus zeigen, ist darin auch das Patriarchat fest verwoben. Dass die Verstrickungen von Klasse, Geschlecht und race im Gefängnis- beziehungsweise Strafsystem besonders intensiv zu spüren sind, zeigt Davis eindringlich: „Das heisst, deviante Männer wurden als kriminell angesehen, während deviante Frauen als geisteskrank eingestuft wurden.” (S. 66, Übers. LZ) Sie schreibt weiter:„Wenn wir hier die Auswirkungen von Klasse und race berücksichtigen, kann man sagen, dass dieses Zusammenspiel bei weissen und wohlhabenden Frauen eher als Beweis für emotionale und mentale Störungen dient, bei Schwarzen und armen Frauen jedoch auf Kriminalität verweist.” (S. 67, Übers. LZ)
Nicht nur reproduziert das Gefängnissystem die Unterdrückungsmuster, denen insbesondere nicht männliche Personen auch ausserhalb der Gefängnismauern ausgesetzt sind, sondern treibt diese auf die Spitze. Davis beschreibt, wie insbesondere der sexuelle Missbrauch, den viele inhaftierte Frauen bereits ausserhalb des Gefängnisses erleben mussten, entweder mutwillig durch Wärter fortgeführt wird oder dieser durch besonders intime Leibesvisitationen (strip search) sogar offiziell in die Institutionsregeln selbst hineingeschrieben ist.
Der Prison-Industrial-Complex stellt den letzten grossen Analysegegenstand des Buches dar. Der Begriff beschreibt die Verquickung von Konzernen, der Regierung, Haftanstalten und den Medien. Davis beschreibt, wie private Gefängnisunternehmen durch Gefangenenarbeit Profit machen und wie der Staat sich davon eine Scheibe abschneidet. Die strukturelle Illegalisierung von migrantischen Personen – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung zum Beispiel durch den sogenannten War on Terror – erzeugt einen „human surplus“ (S. 91) der durch einen Ausbau von Gefängnissen nicht nur verwaltet, sondern auch für einen ökonomischen Nutzen ausgebeutet wird. Diese Erkenntnis sollte auch europäische Leser*innen in Zeiten von verschärften Migrationsgesetzen und einem Ausbau des Polizeiapparates hellhörig machen: Volkswagen, BMW, Miele und die anderen über hundert Unternehmen, die in deutschen Gefängnissen billig produzieren lassen, werden auch hierzulande von höheren Inhaftierungszahlen profitieren.