Kleine Sünden, die nur den Beginn des erfolgreichen Marsches durch die Institutionen schmücken. Nein, Anne Reiche beschreibt den konsequenten Weg des Widerstands, welchen sie gewählt hat. 1965 geht sie als junge Frau nach Berlin und stürzt sich kopfüber in die Kämpfe, die die BRD verändern sollten. Abgebrochenes Studium, Kommune, Blues, Bewegung 2. Juni, 10 Jahre Knast. Nach der Haftentlassung 1982 zieht sie nach Hamburg, wo sie Kontakt zu Leuten aus den besetzten Häusern in der Hafenstrasse hat. Dort lebt und kämpft sie seit 1984.
Leben im Widerstand
Das Buch ist direkt und knackig geschrieben. Es lässt junge Aktivist*innen von heute den Aufbruch der 60er, die Gefangenenkämpfe der 70er und vor allem die Auseinandersetzung um die besetzten Hafenstrassenhäuser in den 80er Jahren hautnah miterleben. Erste Frauen-WGs, Kommunen, die vielen Demos und wie sie sich entwickeln. Die anfangs friedlichen Aktionen und die Diskussionen, ob mensch den Knüppelorgien der Bullen nicht endlich etwas entgegensetzen müsse. Am 4. November 1968 ist es soweit: Erstmals wird die anrückende Polizei mit einem Steinhagel empfangen und zurückgeschlagen.Reiche hat Freund*innen, die zum Blues, der radikalen Westberliner Linken, mit tausenden Anhänger*innen gehören. Bald sind einige von ihnen tot, sie selbst sitzt im Knast und will sich danach erst einmal zurückziehen. Durch die Aussage eines Kronzeugen wird sie wegen Beteiligung an einem Banküberfall erneut, diesmal zu zehn Jahren Haft, verurteilt. Im Knast schliesst sie sich der RAF an, nimmt an kollektiven Hungerstreiks teil und beschreibt die Qualen der Zwangsernährung.
Hamburgs Häuserkämpfe in den Achzigern
Nach der Freilassung zieht sie nach Hamburg. Ihre Schilderung der Kämpfe um die besetzten Häuser in der Hafenstrasse hat mir die damalige Stimmung, unsere Wut und unsere Power zurückgeholt, mit der zwischen 1981 und 89 so vieles möglich war, nach der ich mich heute sehne, wenn ich nach langen Aufenthalten in Griechenland wieder nach Deutschland komme. Überaus spannend, fast wie in einem Thriller, beschreibt sie die Ereignisse des Jahres 1987, als der Konflikt um den Hafen eskaliert. Festungsartig verbarrikadierte Häuser und Tausende Aktivist*innen aus ganz Westeuropa gegen einen Staat, der mit aller Gewalt das Symbol autonomen Widerstands vernichten will. Die geile Grossdemo am 31.Oktober, die Barrikadentage. Es kommt in letzter Minute zum Kompromiss. Die Räumung wird abgeblasen, im Gegenzug die Barrikaden abgebaut und ein Knebel-vertrag unterschrieben. Für Anne Reiche eine bittere Niederlage, da sie die Befriedung der Häuser befürchtet. Die meisten in der Bewegung sind jedoch froh dass es nicht zur Entscheidungsschlacht mit eventuellen Toten gekommen ist. Kurz zuvor waren am 2.11.87 aus einer Demonstration an der Frankfurter Startbahn West zwei Polizeibeamte erschossen worden. Die autonome Bewegung im Rhein-Main Gebiet wurde in der Folge zerschlagen.
Geschichtsschreibung von unten
Empfehlenswert ist das Buch auch für jüngere, politisch interessierte Fussball- und St. Pauli-Fans. War Fussball doch für ältere Autonome und Anarchist*innen bis in die 80er Jahre schlicht scheisse und konterrevolutionär. Der Umbruch, der den Grundstein für vieles legte, wofür der FC St. Pauli heute steht, ist eng verbunden mit der Hafenstrasse und ihren Bewohner*innen. Nur die wenigsten dürften heute wissen, dass der Hafen in den 80ern ein europaweites Symbol für autonomen, militanten Widerstand war. Und das nicht zuletzt der Hafenstrassen-Block im Stadion am Millerntor ab Mitte der 80er mit dafür sorgte, dass sich dort eine Fanszene neuer, antifaschistischer, antirassistischer und antisexistischer Ausrichtung etablierte.„Auf der Spur“ bietet jedenfalls die Chance, einen authentischen Blick auf das Innenleben einer Bewegung zu werfen, die über Jahrzehnte die innenpolitische Diskussion prägte und den Boden für vieles bereitete was noch heute präsent ist und dabei nichts beschönigt. Die Streits, die ätzenden Diskussionen, Verrat und negative Entwicklungen werden nicht unter den Tisch gekehrt, die schönen Momente werden gewürdigt, unsere Siege gefeiert. Oft mit Bezug auf Texte von Ton, Steine, Scherben und Rio Reiser, mit dem Anne Reiche bis zu seinem Tod 1996 eng befreundet war, und dessen Lieder uns durch die Kapitel begleiten.
Fazit: Absolut lesenswert! Denn unsere Begierde nach Freiheit ist stärker als alle Knastmauern!