Die rätekommunistische Tradition
Man könnte Pannekoeks Pamphlet als ein Dokument von welthistorischem Rang bezeichnen. Nicht, weil es eine für das Thema erschöpfende Analyse zu bieten hätte, sondern weil es eine historische Zeitenwende in Erinnerung ruft: den Zeitpunkt, als die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, die sich auf die Kapitalismuskritik von Karl Marx und Friedrich Engels berief, aus ihrer internationalistischen Programmatik heraus definitiv den Weg zur Nation fand, die mit Krieg gegen ihre Konkurrenten vorgeht, und somit das „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm) möglich machte. Das Buch weist eine politische Alternative nach, die es gab, die aber bedeutungslos blieb, und kann so als Denkanstoss für die heutige Zeit wirken, wo ebenfalls der Weg in einen Weltkrieg – unter takräftiger sozialdemokratischer Mitwirkung und (bislang) leider ohne ernsthafte Gegenwehr der Gewerkschaften – als unvermeidlich erscheint.Pannekoek, der vor 1914 als Dozent an der SPD-Parteischule in Berlin tätig war, verliess im Krieg Deutschland und trat nach 1917 als einer der tonangebenden Theoretiker des Rätekommunismus hervor. Diese Strömung der internationalen Arbeiterbewegung wurde in Deutschland von der 68er-Bewegung und ihren daraus entstandenen politischen Gruppierungen wiederentdeckt und findet seit dem Ende des Ostblocks wieder eine gewisse Aufmerksamkeit. Nähere Auskünfte dazu gibt die Website: https://www.raetekommunismus.de/. Dort wird an die in den 1920er und 1930er Jahren aktive „Gruppe Internationaler Kommunisten“ (GIK) erinnert, deren herausragender Vertreter Pannekoek war (ohne ihr formell anzugehören): Ihre wenigen Mitglieder hätten zwar als „Klosterbrüder des Marxismus“ gegolten, weil sie sich „in erster Linie um die theoretische Kritik kümmerten, aber das mindert keineswegs den Wert ihrer Veröffentlichungen für die damalige und auch heutige Arbeiterbewegung, so weit sie überhaupt noch existiert“.
Der Nachdruck von „Klassenkampf und Nation“ ist bei Red & Black Books erschienen, wo Hermann Lueer schon die Grundlagenschrift der GIK „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung“ () oder den Reprint von „Rätekommunismus – Marxistische Zeitschrift für selbstständige Klassenbewegung“ (1938-1940) veröffentlicht hat (). Der letztgenannte Titel setzt die Edition von „Internationale Rätekorrespondenz 1934-1937“ (https://www.raetekommunismus.de/Texte_Raetekommunismus.html) aus dem Jahr 2020 fort.
Auf diese Schriften wird, wie gesagt, seit der Aufkündigung des „Realen Sozialismus“ wieder stärker Bezug genommen, da Rätekommunisten in der Arbeiterbewegung schon früh als Opposition gegen reformistische und nationalistische Tendenzen, aber genauso als Gegner der Entwicklung hin zu einem Staatssozialismus oder Staatskapitalismus auftraten. Insofern hatten sie eine Sonderstellung innerhalb der Arbeiterbewegung, waren aber mit Lenins oder Luxemburgs Kritik am Kriegskurs der deutschen (und europäischen) Arbeiterbewegung einverstanden, agierten dabei selbstverständlich als Gegenspieler nicht nur des sozialdemokratischen, sondern auch des leninistischen Sozialismuskonzepts.
Auf dem Weg ins „Zeitalter der Extreme“
Mit der Entscheidung der deutschen Sozialdemokratie von 1914, die Kriegsanleihen zu bewilligen und im Innern einen „Burgfrieden“ zu schliessen, wurde aus der Arbeiterbewegung im Prinzip eine Kraft, die der imperialistischen Politik des Staates innerhalb der Staatenkonkurrenz kein Paroli mehr bieten, sondern sie mittragen wollte. Dem schlossen sich auch die Gewerkschaften an. Renate Dillmann und Arian Schiffer-Nasserie schreiben dazu in ihrem Buch „Der soziale Staat“: „Der Kampf nach Aussen erfordert die innere Einheit der Nation. Die ‚soziale Frage' und der potentielle Internationalismus der Arbeiterbewegung bekommen damit eine neue Bedeutung. Der Erste Weltkrieg bringt in Deutschland das, was heute als ‚Sozialpartnerschaft' bezeichnet wird – die Zusammenarbeit der antagonistischen Interessen von Kapital und Arbeit unter staatlicher Aufsicht –, enorm vorwärts. Das Kaiserreich braucht sein gesamtes Volk für diesen Krieg, also auch die bis dahin bekämpfte Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften. Kein Teil der Gesellschaft darf abseits stehen.“Dillmann und Schiffer-Nasserie erinnern auch an die besondere Rolle der Gewerkschaften, die im Laufe des Krieges mehr und mehr in die Kriegswirtschaft einbezogen wurden. Für sie stellte der Krieg eine Zeitenwende dar, sie wurden nun staatlich nicht mehr befehdet, sondern in einer bisher unbekannten Form anerkannt: „Sie übernehmen staatlich-öffentliche Aufgaben auf dem Arbeitsmarkt und sie sind für den Frieden an der ‚Heimatfront' zuständig. Im Gegenzug werden auf Intervention des Militärs hin polizeiliche Massnahmen gegen sie eingeschränkt. Ab 1916 beginnt das deutsche Reich mit einer staatlichen Bewirtschaftung verschiedener Industriezweige (‚Hilfsdienstgesetz'). Es sichert sich die Mitarbeit der Gewerkschaften bei dieser ‚gigantischen Mobilisierung von materiellen und menschlichen Ressourcen des Reiches für den Krieg' (Hoffmann) durch paritätisch besetzte ‚Arbeiter- und Angestelltenausschüsse in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigen, die als Schlichtungsinstanzen bei der Beschäftigung auf Arbeitspflichtbasis und bei Kündigungen wirkten; ausserdem durften jetzt gewerkschaftliche Funktionäre nicht mehr einberufen werden'.“ Dies ist, heisst das Fazit der beiden Autoren, „die Geburtsstunde der Betriebsräte in Deutschland“.
Pannekoeks Intervention, die zwei Jahre vor der schwerwiegenden Entscheidung der Parteiführung erfolgte, bezog gegen die nationalistische Entwicklung Position – mit einem (wie man von heute aus sagen muss) noch recht gemässigt vorgetragenem Widerspruch zur offiziellen Parteilinie. Das Buch geht auf das Verhältnis von Nation und Sozialismus ein, greift (mit parteitaktischen Überlegungen) die Probleme des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn auf, nimmt aber vor allem die staatstragenden, austromarxistischen Tendenzen ins Visier, wie sie etwa Otto Bauer in seiner Schrift „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ (1907) formulierte. Bauer war der massgebliche Vertreter des Austromarxismus, der 1914 auch den Kurs der SPD vertrat.
Dillmann und Schiffer-Nasserie zitieren zur damals vorherrschenden Parteilinie den österreichischen Sozialdemokraten Max Beer, der 1931 auf die Beratungen der sozialistischen Internationale zurückblickte: Zwei Jahre vor Beginn des Kriegs sahen sich die Delegierten der Internationale in einer Doppelrolle, es gab gewissermassen zwei Seelen in der Brust der Arbeiterparteien wie der von ihnen vertretenen Mitglieder. Die eine war ihr internationalistischer Sozialismus, die andere empfand national und betrachtete die Staaten, die das System des Eigentums gegen sie etabliert hatten, mit viel Gewalt gegen sie absicherten und sie schlussendlich für ihre Aussenpolitik als Kanonenfutter einspannten, nicht einfach als ihre Gegner. „Für die deutsche Delegation sprachen Bebel und Vollmar; beide bekämpften die Ansichten und die Vorschläge Herve's (der kompromisslosen Pazifismus vorgeschlagen hatte) als in jeder Beziehung unausführbar; sie wiesen auf die kulturelle Bedeutung des nationalen Gedankens hin; Bebel hob noch hervor, dass die beim Ausbruch eines Krieges entstehende Erregung weite Bevölkerungskreise erfasse und die Opposition gegen die Entfaltung der Landesverteidigung in eine äusserst schwierige Lage bringe.“ (Beer)
Nationalismus statt Klassenkampf
Pannekoek wendet sich gegen die nationale Entwicklung, lobt aber gleichzeitig „das wertvolle Werk von Otto Bauer“. Hier muss man nicht nur eine gewisse Zurückhaltung konstatieren, sondern Halbherzigkeit des Einspruchs. Im Grunde übernimmt Pannekoek Bauers Position, dass Nationen – auch wenn sie im Kapitalismus das Werk einer hoheitlichen Gewalt sind – einen Ausdruck allgemein-menschlicher Lebensbedingungen darstellen, also eine Gemeinschaftlichkeit hervorbringen, die auch der Sozialismus nicht ignorieren kann. „Die Nation ist eine aus Schicksalsgemeinschaft entstandene Charaktergemeinschaft“, hält Pannekoek fest und unterschreibt damit in gewisser Weise die – quasi anthropologische, naturwüchsige – Bindung des Einzelnen an das grosse Ganze und seine Prägung durch einen Nationalcharakter.Eindeutigen Widerspruch zu Bauers Position legt Pannekoek da ein, wo es um die Perspektive sozialistischer Entwicklung (und dazwischen immer wieder: der Parteiarbeit im österreichischen Vielvölkerstaat) geht. Bauer sieht im sozialistischen Aufschwung eine Möglichkeit, das Nationalbewusstsein in den Massen aufzugreifen, zu festigen und dann mit einem progressiven Inhalt zu füllen. Er erwartet dadurch sogar eine „steigende Differenzierung der geistigen Kultur der Nationen“. Mit der gemeinsamen Erziehung und der Zusammenarbeit in den „Werkstätten der Nation“ trage der „Sozialismus in sich auch die Gewähr der Einheit der Nation“; ja die sozialistische Gesellschaft werde „die gesamten Völker durch die Verschiedenheit nationaler Erziehung und Gesittung so scharf gegeneinander abgrenzen, wie heute nur die Gebildeten der verschiedenen Nationen gegeneinander abgegrenzt sind“.
Pannekoek formuliert an dieser Stelle eine entschiedene Gegenposition: Die Arbeiterparteien orientieren ihre Mitglieder auf den Klassengegensatz, und je mehr sie damit Erfolg haben, werde das Klassenbewusstsein der Arbeiter das nationale Gemeinschaftsgefühl obsolet machen; für die weitere gesellschaftliche Entwicklung soll Letzteres dann keine Rolle mehr spielen. Genau im Gegensatz zu Bauers merkwürdiger Vision – die Gebildeten, die gemeinhin als Kosmopoliten gelten, sind ihm die Protagonisten nationaler Borniertheit – will er die nationalen Besonderheiten sozusagen zu folkloristischen Elementen und Reminiszenzen herabstufen.
Die imperialistische Staatenkonkurrenz behandelt Pannekoek recht kurz. Er kritisiert natürlich den nationalstaatlichen Kurs, der durch die „Entwicklung des Imperialismus“ bestimmt ist. Die „gemeinsamen Gefahren, womit die Weltpolitik die Arbeiter bedroht, vor allem die Kriegsgefahr“, sieht er jedoch – der Tradition der optimistischen, historisch-materialistischen Deutung des Geschichtsverlaufs folgend – im Grunde als eine Chance: Je grösser die Gefahr, desto mehr Hoffnung auf Widerstand! Solche Mängel der Analyse kann man von heute aus gesehen aber ignorieren.
Wichtig an der Veröffentlichung ist, dass die heutigen Leser und Leserinnen hier – zwei Jahre vor „Ausbruch“ des Ersten Weltkriegs – den ideologischen Charakter der mittlerweile vorherrschenden Rückblicke auf die Zeitenwende von 1914 vermittelt bekommen. Seit den Rückblicken des Gedenkjahrs 2014, seit etwa Christopher Clarks Studie „Die Schlafwandler“ (2012) als massgebliche Erklärung gilt, heisst es ja wieder, dass damals ein „Kriegsausbruch“ stattfand. Einem Naturereignis gleich kam er angeblich über die Menschheit, und die Eliten hätten dabei versagt, ihn zu verhindern.
Solche Rückblicke müssen natürlich die Tatsache ignorieren, dass sich Ende des 19. Jahrhunderts in der europäischen Arbeiterbewegung die Stimmen zu Wort meldeten, die vor dem kommenden Krieg warnten. Die sozialistische Bewegung stellte sich von Anfang an gegen die materielle wie ideelle Kriegsvorbereitung. Schon 1848 im „Kommunistischen Manifest“ schrieb Marx – vor der Gründung der I. Internationale 1864, eher bekannt als Internationale Arbeiterassoziation (IAA) –, dass „die Arbeiter kein Vaterland haben“; die Agitationsschrift schloss mit dem Ruf „Proletarier aller Länder vereinigt euch“.
Engels warnte bereits 1887 vor einem „Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit“ und 1893 in seiner berühmten Artikelserie „Kann Europa abrüsten?“ vor einem „allgemeinen Vernichtungskrieg“ und Rosa Luxemburg wies in ihrer Schrift von 1912 über die „Akkumulation des Kapitals“ auf die Kriegsträchtigkeit des imperialistischen Expansionsdrangs hin. Dass es in der Vorkriegszeit eine deutliche Frontstellung gab zwischen den Befürwortern des Aufrüstungs- und Kriegskurses und dessen Gegnern, passt eben nicht zum heutigen Konsens, demzufolge die europäischen Grossmächte „schlafwandelnd“ in einen Krieg „hineinschlitterten“, den keiner kommen sah und den niemand wollte.
In gewisser Hinsicht könnte man der europäischen Sozialdemokratie, allen voran der SPD, die Hauptschuld für das gegenseitige Abschlachten der Nationen geben, denn ohne die Bereitschaft der Arbeitermassen, in den imperialistischen Krieg ihrer Herren zu ziehen, wäre es nicht gelungen, die Völker für vier lange Jahre gegeneinander in Stellung zu bringen. Vielleicht wäre der Krieg sogar durch den Widerstand der Arbeiterbewegung verhindert worden. Dass es nicht so kam, ist der Sozialdemokratie als ihr grosser „Verrat“ angekreidet worden. Dies trifft jedoch nicht zu, wie Pannekoeks Intervention belegt: Die Nation stand bereits vorher – trotz allen Friedensidealismen – für die Sozialdemokratie in so hohem Ansehen, dass 1914 umstandslos der Übergang vom Normalzustand zum „Tod fürs Vaterland“ gemacht werden konnte.
Die Aktualität der Überlegungen, die der Rätekommunist Pannekoek vor 110 Jahren anstellte, liegt auf der Hand: Im Jahr 2022 zeigt sich definitiv, dass das Zeitalter der Weltkriege nicht zu Ende ist. Warnungen, dass die Welt kurz davor steht, in einen grossen Krieg hineinzuschlittern, sind allenthalben zu hören. Dass aber das Fussvolk des Staatenverkehrs, die arbeitende Menschheit, sich dieser Entwicklung in den Weg stellen sollte, wie damals Luxemburg oder Pannekoek propagierten – ist eine kaum noch wahrnehmbare Minderheitenposition.
Die Edition der alten Schrift von Pannekoek ist somit keine historische Reminiszenz an eine längst untergegangene Ära der Arbeiterbewegung, sondern von unmittelbarer Brisanz. Denn sie zeigt, dass die Unterordnung der sozialen unter die nationale Frage keine Selbstverständlichkeit ist. Im Gegenteil. Das Aufzeigen des fundamentalen Gegensatzes von sozialen Anliegen und nationalen Programmatiken ist ein Verdienst dieser Veröffentlichung, die angesichts der Unbedingtheit, mit der gegenwärtig das Soziale als eine Fussnote nationaler Durchsetzungsfähigkeit behandelt wird, als wichtige Gegenrede gelesen werden kann. Und dies erscheint besonders in (Vor-)Kriegszeiten nötig, wo jedes soziale Anliegen daraufhin abgeklopft wird, ob es auch einen produktiven Beitrag zum Fortschritt der Nation leistet.