Der renommierte Nachhaltigkeitsforscher Wolfgang Sachs schreibt einleitend, nun sei „Überleben statt Fortschritt“ angesagt, und: „Nicht zuletzt die Überhitzung der Erde und der Verschleiss der biologischen Vielfalt haben dem Glauben, dass die entwickelten Nationen die Spitze der sozialen Evolution sind, den Boden entzogen.“
Alternativen zu „Fortschritt“ und „Entwicklung“
Dem herrschenden Developmentalismus – diesem ideologisch verbrämten Beharren auf „Entwicklung“ als technologie- und finanzgetriebenem Schneller-Höher-Weiter – möchten die Herausgeber*innen vielfältige Visionen und Praxen eines Guten Lebens für alle entgegensetzen. Ihre marxistische Analyse ergänzen sie „durch Perspektiven wie Feminismus und Ökologie sowie durch Vorstellungen aus dem Globalen Süden, einschliesslich der Ideale Gandhis“.Ein Pluriversum einer „Welt, in der viele Welten Platz haben“ – ganz im Sinne zapatistischer Weltsichten. Die Zapatistas sind indigene Aktivist*innen aus Chiapas im Süden von Mexiko, die seit den 1980er Jahren selbstorganisierte Gesellschaftsstrukturen aufbauen. Mit ihrem Motto „Fragend voran“ drücken sie ihre herrschaftskritische und feministische Haltung zur Welt aus. Im Sommer 2021 waren sie auf einer „Reise für das Leben“ in Europa, um weltweit Bewegungen „von links und unten“ zusammenzubringen. Mehrere Beiträge im Pluriversum-Buch beziehen sich auf sie.
Das Anliegen der Zapatistas: „Es geht darum, uns zu vernetzen und unsere Kämpfe zu verbinden“ und: „Wir werden nicht die Unterschiede suchen, sondern das, was uns verbindet.“ (Mobilisierungsvideo zur Reise). Im deutschsprachigen Raum ist es nicht leicht, die verschiedenen Kämpfe und Projekte für eine andere Welt so zusammenzubringen, dass wir mit vereinten Kräften dem schlechten Bestehenden etwas entgegensetzen könnten.
Viel zu oft greifen Pseudo-Alternativen um sich, Green- und Socialwashing sowie Diversity werden Bestandteile profitabler Geschäftsmodelle. Diese setzen auf technische ‚Lösungen‛ und auch gesellschaftlich scheint sich eine immer stärker wissenschafts- und technikorientierte, ja mitunter geradezu naturfeindliche Stimmung breit zu machen. Andere, alternative Ansätze werden an den Rand gedrängt oder sogar diffamiert. Social-Business-Förderprogramme hegen ein, was vielleicht einmal rebellisch begonnen hat.
Aber es gibt auch Hoffnung, beispielsweise unbeugsame Klimagerechtigkeits-Aktivist*innen, die von Zerstörung bedrohte Biotope besetzen, um sie zu schützen; Seenotrettungsprojekte, die das systematische Morden an den europäischen Aussengrenzen anprangern und Menschen auf der Flucht solidarisch unterstützen; unterschiedlichste kollektive Wohn-, Arbeits- und Kulturprojekte, die schon heute versuchen, Keimformen des Zukünftigen zu gestalten. All dies ist vielfältig – pluriversal! –, nie perfekt, aber real, lokal handelnd und global vernetzt.
Starke Stimmen aus der ganzen Welt
Das Pluriversum-Buch präsentiert über 100 starke Stimmen aus der ganzen Welt, die die Vielfalt feiern und sich gleichzeitig um verbindende Grundgedanken versammeln. Von wohlklingenden Scheinlösungen grenzen sie sich ab. Zunächst geht es um globale Erfahrungen mit dieser Entwicklung und ihren Krisen. Dann folgt ein kritischer Blick auf reformistische Lösungen zur Universalisierung der Erde. Den grössten Teil nehmen Initiativen der Umgestaltung ein – vor den Leser*innen entfaltet sich ein Pluriversum wirtschaftlicher, sozialpolitischer, kultureller und ökologischer Konzepte, Weltanschauungen und Praktiken aus aller Welt. Diese Vielfalt ist ein Wert an sich.Weltweit rief das Buch Begeisterung hervor, nachdem es 2019 auf Englisch unter dem Titel Pluriverse – A Post-Development Dictionary in Indien erschien. Ein paar Beispiele:
„Dieses Lexikon des Guten Lebens für alle stellt die wirtschaftliche Illusion des freien Marktes in Frage. (Mogobe Ramose, Südafrika).
„In diesen kritischen Zeiten zeigt uns dieses wichtige Buch eine unglaubliche Bandbreite an Alternativen auf und hilft uns, den Wert unserer Gesellschaften und die Bedeutung des Menschseins neu zu überdenken.“ (Jingzhong Ye, China). „Dieses Buch ist ein Hauch von frischer Luft. Es öffnet viele konzeptionelle Türen zu einem Pluriversum von Weltanschauungen und Praktiken aus aller Welt und überwindet die Illusion des konventionellen Entwicklungs-Denkens als Weg zu einem ökologisch nachhaltigen Planeten.“ (Lourdes Benería, Spanien).
„Beim Aufschlagen dieses Buches setzte mein Herz einen Schlag aus. Endlich gibt es eine Möglichkeit, die alternative Zukunft zu verstehen, die auf der ganzen Welt entsteht. … Pluriversum verkörpert auf bestmögliche Weise die Prinzipien und die Vielfalt, für die es eintritt. Ein unverzichtbares Buch für alle, die nach der besten aller Welten streben. (Juliet Schor, USA).
„Dies ist ein Buch von überwältigender Breite und provokativer und überzeugender Gelehrsamkeit.“ (Sylvia Marcos, Mexiko).
Multimediaprogramm „Pluriversum“ der Grupo Sal
Die Grupo Sal spielt lateinamerikanische Musik, die einen Rahmen bietet für eine „Reihe von Gesprächen mit live-zugeschalteten Intellektuellen, Forschenden, Aktivist*innen und Politiker*innen aus allen Kontinenten, die an bedeutenden sozial- und umweltpolitischen Auseinandersetzungen beteiligt sind.“ Die sechs Musiker verstehen unter Pluriversum „die Erkenntnis, die Anerkennung und die Verbreitung einer unerkannten bzw. unterdrückten Vielfalt von emanzipatorischen Perspektiven.“.Gemeinsam mit der Journalistin Sandra Weiss moderiert Alberto Acosta die Veranstaltungen. Der frühere Energie- und Bergbauminister Ecuadors ist einer der Initiator*innen des Volksentscheids gegen die weitere Abholzung des Yasuní-Nationalparks, das am 20. August 2023 mit 60 Prozent der abgegebenen Stimmen gewonnen wurde. Über dieses historische Ereignis berichtete er in der taz vom 21.08.2023 im Gespräch mit Sandra Weiss.
Auf der Herbsttournee im September und Oktober 2023 werden beide auch das Pluriversum-Buch vorstellen. Dazu gibt es Videoprojektionen des Künstlers Johannes Keitel, mit denen die angesprochenen Themen visuell und thematisch verdichtet werden.
Ein Buch für alle
Mittlerweile wurde das Pluriversum in viele Sprachen übersetzt. Die Übersetzung der deutschen Ausgabe aus dem Englischen wurde unentgeltlich von einem Kreis von Engagierten übernommen. Auch die Autor*innen hatten ihre Texte unentgeltlich verfasst.Im Buch finden sich viele Begriffe, die vielleicht nicht allen Leser*innen sofort verständlich sein werden. Manche haben die Übersetzer*innen in eigenen Anmerkungen erläutert und dies entsprechend kenntlich gemacht. Solche Begriffe, die häufig vorkommen, sind mit einem Pfeil versehen und finden sich in einem Glossar, das es in der englischen Ausgabe nicht gibt und das der Verlag zusammengestellt hat.
Damit möglichst viele Leute das Pluriversum-Buch lesen können, wird es kostenlos online verfügbar sein. Weil aber das Lesen auf Papier viel schöner ist als am Bildschirm, sollte es auch preiswert zu haben sein, trotz des grossen Seitenumfangs. Statt aufwändiger Anträge auf Fördermittel wurden Spenden gesammelt, um die Herstellungskosten so mitzufinanzieren, dass am Ende ein Preis von nur 15 Euro möglich wurde.
Was jetzt notwendig ist
Angesichts der begründeten Zukunftsangst skizziert Wolfgang Sachs drei Narrative, die „der Festung, des Globalismus und der Solidarität.“ Das Festungsdenken sei gekennzeichnet durch einen Neo-Nationalismus mit autoritären Führern und Fremdenhass. Dagegen beschwöre der Globalismus einen möglichst deregulierten, freien Welthandel mit grünem Wachstum. Im Narrativ der Solidarität fordere die Zukunftsangst „den Widerstand gegen Machthaber, die als Garanten für die Ellenbogengesellschaft und kapitalistisches Gewinnstreben auftreten. Stattdessen stehen hier die Menschenrechte und die ökologischen Prinzipien hoch im Kurs, die Marktkräfte sind nicht Selbstzweck, sondern Mittel zu diesen Zielen.“Aber wie kann dieses Narrativ der Solidarität gestärkt werden? Alberto Acosta schreibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe: „Zweifellos liegt noch ein langer Weg vor uns, aber es werden immer mehr Schritte unternommen, um den Menschen wieder als Teil der Natur, ja sogar als Natur selbst, und nicht mehr als deren Besitzer und Beherrscher, zu positionieren. Die Bemühungen, sich wieder mit der Natur zu verbinden, tauchen aus vielen Ecken des Planeten auf.“
Eine Vielfalt solcher Bemühungen – nicht erschöpfend, aber doch eine beeindruckend diverse Sammlung – liegt mit diesem Buch vor. Es will laut Acosta „Ausdruck eines Prozesses des permanenten Widerstands und der Emanzipation sein, der Dekolonisierung des Denkens und der Wiederbegegnung mit den kulturellen Wurzeln der Völker der Erde und auch der Bedingungen unseres eigenen Menschseins als Natur (condición humana de Naturaleza). Von dort aus ist es möglich, sich – entsprechend der indigenen Pachamama – einen zivilisatorischen Wandel vorzustellen und ihn zu gestalten, der auf das menschliche Überleben auf dem Planeten und das gute Leben für alle ausgerichtet ist.“
In diesem Sinne ist das Buch all jenen gewidmet, „die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben.“ Trotz der mitunter recht akademischen Sprache spricht dieses „Lexikon des Guten Lebens für alle“ weit mehr Sinne an als ‚nur' den Intellekt. So kann die Vielfalt der Erfahrungen und Gedanken den Blick auf die Welt weiten und zu eigenem rebellischen Handeln inspirieren.
Möge das Gelesene und das Wissen um die Existenz dieses Buches weitergegeben und verbreitet werden. Es gibt nicht die eine Wahrheit, sondern eine Vielzahl von Perspektiven und Wegen, die nach einem Guten Leben für Alle suchen. Lasst uns in diesem Sinne zusammenkommen, um gemeinsam am Pluriversum zu bauen.