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Aufstände der Erde: „Erste Beben“

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Aufstände der Erde: „Erste Beben“ Erste Beben der Aufstände der Erde

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Sachliteratur

Endlich ist ein Buch auf Deutsch erschienen, dass uns einen genaueren Einblick in die vielseitigen Kämpfe in Frankreich gibt, die in der sog. Klima- und Umweltbewegung stattfinden.

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Datum 18. April 2025
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Seit 2021 gibt es die Bewegung der „Soulèvements de la Terre“, eingedeutscht als „Aufstände der Erde“, die auch kollektiv als Autoren des Buches „Erste Beben“ signieren.

Sie schildern die ganze Vielfalt von Aktionen der beteiligten Aktivist*innen: Sabotage, Blockaden, Besetzungen, direkte Aktionen verschiedenster Art, spektakuläre wie klandestine Aktivitäten.

Die „Soulèvements“ sind ein Netzwerk aus Aktivist*innen, Bäuer*innen, unterschiedlichen Kollektiven etc., das den vielen Fragmenten des Widerstands einen Zusammenhalt gibt.

Gegründet wurde es auf dem Gelände der ZAD Notre-Dame-des-Landes, ein jahrelang besetztes, schwer umkämpftes Gebiet in der Nähe von Nantes, auf dem ein neuer Flughafen gebaut werden sollte. Das Flughafen-Projekt wurde am Ende eingestellt, die Besetzer*innen und ihre vielen Unterstützerinnen „gewannen“, allerdings musste die besetzte, also illegale „Zu verteidigende Zone“ (ZAD) staatlicherseits ebenfalls zerstört werden, von der Bildfläche verschwinden! Es sei denn, es würden staatlich genehmigte Zustände geschaffen, also Verträge, die „Recht und Ordnung“ regelten (Eigentum, Nutzung, Besteuerung etc.). Das spaltete die ZAD in diejenigen der „Mit dem Staat niemals!“-Haltung und diejenigen, die versuchen wollten, das kollektive Projekt zu retten. Und so gibt es die ZAD Notre-Dame-des-Landes bis heute, mit einem gewissen Spaltungstrauma, aber weitergehenden Lernprozessen. (Sehr interessant dazu das Buch von Isabelle Fremaux und Jay Jordan: „We are ‚Nature' defending itself“, Pluto Press 2021).
Auf dem Boden und dem Erfahrungshintergrund der Kämpfe gegen das Flughafenprojekt entstanden die „Soulèvements“ und versammelten jede Menge weiterer Erfahrungen und Anliegen autonomer, bäuerlicher, lokaler Initiativen. Ihr aktionistischer Reichtum umfasst Blockaden von Infrastruktur und Versorgungslogistik, Sabotage von Baustellen, Besetzungen von durch Grossprojekte bedrohten Flächen, Schaffung von Lebensräumen, Unterstützung von kleinbäuerlichen Höfen etc. Dabei geht es in diesem Netzwerk darum, die Vielfalt der Begegnungen und Aktionsformen zu erhalten und gemeinsam die Schlagkraft der einzelnen Gruppen zu erhöhen.

In diesem Zusammenhalt soll ein solider Gemeinsinn entstehen, der Vertrauen und Stärke schafft. Wie das tatsächlich geschah, erzählt dieses Buch. Die ökologische Frage (Schutz und Verteidigung der Böden, des Wassers, bewohnbarer Welten) ist verknüpft mit der sozialen Frage (dem sozialen Kampf um die Lebensbedingungen) und der kolonialen Frage (dem neokolonialen Zugriff und Ausbeutung der „ehemaligen“ Kolonien). Der agrar-industrielle Komplex mit seinem Landgrabbing, der Privatisierung von Wasserreserven, der Versiegelung von Flächen, der Betonindustrie, den Umweltgiften, der Verdrängung der bäuerlichen Landwirtschaft ist einer der Hauptfeinde der „Soulèvements“, als Verbündete betrachten sie aber auch die eher urbanen Kämpfe gegen die Arbeitsrechtsreform, die Rentenreform und die Bewegung der Gelbwesten.

Wie ein revolutionäres Handbuch beschreibt „Erste Beben“ den inneren Aufbau der „Soulèvements“: Bezugsgruppen, lokale Komitees, dezentrale Aktionskampagnen, Regionalversammlungen, Vollversammlungen, Austausch von Fertigkeiten, Einrichtung von Kommunikationswegen, juristische Begleitung, Organe für die Medienarbeit. Perspektivisch sollen Wasser-Räte gebildet, gemeinschaftliche Kommissionen für die Bodenverteilung und andere grundlegende gesellschaftliche Belange, Gemeingut (Allmenden) geschaffen, Praktiken der Selbstorganisation eingeübt werden.

Die spektakulärste Aktion der „Soulèvements“ war wohl der Massenprotest gegen die in Frankreich für den immensen Wasserbedarf der Agroindustrie geplanten Mega-Bassines, speziell dasjenige, das in Sainte-Soline gebaut werden soll. Die Besetzung des Geländes im März 2023 erfolgte durch 30.000 Aktivist*innen. Aber diese intensiv geplante und kompetent durchgeführte Aktion mit grosser Medienpräsenz hatte die Kriegsbereitschaft des Staates unterschätzt. Unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen wurde die Demonstration von polizeilichen und paramilitärischen staatlichen Kräften zerschlagen. Massenhaft verletzte, teils sehr schwer, traumatisierte Demonstrant*innen: Die Aktion endete als Desaster.

Es folgen intensive Auseinandersetzungen um das „Wie weiter?“. Wut und der Wille zur Konfrontation waren genauso in der Diskussion wie die Sorge um die Rückzugsmöglichkeiten und Regeneration der Kräfte. Um sich von den staatlichen Kriegsmaschinen zu unterscheiden, sollten die Vorstellungen der Gegenmacht: Subsistenzpraktiken, Beziehungslinien des Schenkens, des Verlassens der Warenförmigkeit von Beziehungen untereinander etc. wieder in den Vordergrund rücken. Wie ist das „gute Leben für alle“ zu schaffen, d.h. eine dekommodifizierte Welt bzw. Welten?

Die „Soulèvements“ verstehen sich als Bündnis, Bewegung, Organisation für politische Interventionen gleichermassen. Ihr Ziel ist es, an einer horizontalen politischen Kultur zu arbeiten, Grossaktionen zu koordinieren, eine Gegenmacht aus lokalen Kämpfen zu gestalten, insbesondere mithilfe der Rückeroberung der Böden, von Strukturen für eine regionale Ernährungsautonomie und durch den Aufbau neuer politische Räume. Das liest sich spannend, für deutsche Verhältnisse fast unglaublich, eine Held*innengeschichte.
Das ist, trotz aller Wichtigkeit dieses Buches, vielleicht ein wenig die Crux dieser Erzählung. Es geht um eine fast atemlose Aneinanderreihung von mutigen und phantasievollen Aktionen und Besetzungen gegen Autobahnen, Hochgeschwindigkeitstrassen für TGVs, Megabassines, die Beton- und die Agro-Industrie usw. Man muss ergänzen, dass die „Soulèvements“ nach den brutalen Auseinandersetzungen in Sainte-Soline vor ihrem Verbot standen. So ist dieses Buch auch eine Art Selbstverteidigung, schnell und mehrstimmig geschrieben.

Die Schattenseiten des Aktivismus, seine Ausrichtung auf die Medienpräsenz, die Wissenskonzentrationen in bestimmten Kreisen, Spezialisierungen, der Effektivitätsgedanke, die „rund-um-die-Uhr“-Verfügbarkeit der Organisator*innen, die sich verfestigenden Strukturen der Organisation der Massenproteste werden zwar angesprochen, aber für meine Einschätzung nicht weitgehend genug durchleuchtet. Es gibt immer die Parole zum Durchhalten, als ob nur das „Vorwärtsgefühl“ die Revolution voranbringen könnte.

Dabei ist die „Revolution“, die wirkliche Umwälzung, eine komplette Herauslösung aus dem Mechanismus des Fortschritts. Sie ist die radikale Gegenwart im Jetzt (nicht die Vorstellung, wenn wir heute dies, dann werden wir morgen das). Es geht um die herausgelöste Gegenwart, in der die Zeit keine Rolle spielt. In der es die Verweigerung gleichzeitig mit der Verwirklichung gibt, die Stille und den Lärm der Lust. In der alle ihren Platz haben, alle verschieden sein können. Was „Erste Beben“ beschreibt (die ja keineswegs die ersten sind, sie sind einfach eine aktuelle Form des Widerstands, den es immer gab und gibt), ist eine Grundlage, wie sie in allen anti-autoritären Bewegungen zur Anwendung kommt bzw. kommen sollte. Was aber fehlt, ist das Verständnis von Schichten der Revolution, die darunter liegen, unter dem Aktivismus.

Franz Jung (seinerzeit ebenfalls Mitglied einer „Kampforganisation“ der Spartakus-Gruppen und der KAPD) beispielsweise hat es 1920 nach der Niederschlagung der deutschen Revolution in seiner „Technik des Glücks“ so formuliert: „Revolution ist, wenn auch nur ein Mensch unzufrieden ist. Der Zustand dieser Unzufriedenheit schliesst das Arsenal der Revolution auf, die Waffen und die Revolutionierungsmittel, die Kraftquelle des motorischen Widerspruchs und der gemeinsamen Widerspruchsbewegung, und das Revolutionsziel: das Glück. Der Revolutionsprozess wird also andauern, solange Gemeinschaftsbewusstsein nicht automatisch gleichgesetzt und empfunden wird als Glücksbewusstsein. ... es ist das kollektive Erleben, intensiviert von Mütterlichkeit und Liebe und Gemeinsamkeit, das Allerleben in der gemeinsamen Bewegung. Es ist nicht projizierbar mehr auf Zeit und Zustand, weil es nur mehr Bewegung ist.“

Das bedeutet: eine unendliche Transformation der sozialen Interaktionen und der subjektiven Begierden, eine nicht-ideologische, nicht-identitär ausgerichtete Kommunikation, die Fähigkeit zur Solidarität unter extremen Diversitäten. Solidarität als Strategie verstanden, in der die Einheit der Erfahrung mehr zählt als die Divergenz von Auffassungen.

Die Kraft der „Soulèvements“ ist ganz offensichtlich, dass sie eine Bewegung der Zusammenfügung, der Komposition ist (wie Kristin Ross es in „La forme-Commune“, La Fabrique éditions 2023, beschreibt). Komposition heisst in ihrem Verständnis, dass die Solidarität nicht trotz der Diversität der Gruppen besteht und praktiziert wird, sondern zum Zwecke und zur Verbreiterung der Diversität. Für die Pariser Commune war der Ort, die lokale Verankerung, die Möglichkeit der Versammlungen, die Weitergabe des Wissens, der Symbole und Rituale, von immenser Bedeutung.

Es ging um kommunale Macht und lokale Solidarität. Und im Zentrum dieser Selbstermächtigung steht die radikale, von Konventionen befreite Subjektivität, die sich des gemeinschaftlichen Rhythmus bewusst wird, der das Glück ermöglichen kann. Dazu kann ich nur raten, „Das Buch der Lüste“ von Raoul Vaneigem einzubeziehen. Wechseln wir die Perspektive, gehen wir von der Subjektivität aus, um dem Verschleiss, der Missachtung, der Schuldzuweisung, der Ermüdung der sozialen Beziehungen auch innerhalb der politischen Zusammenhänge neu zu begegnen. Verstehen wir die Konspiration des Widerstands als gemeinsamen „Atem des Glücks“.

Insofern sind die ZAD von Notre-Dame-des-Landes und andere Orte des Zusammenlebens und Begegnens Grundlage für eine grosse und grossartige Assoziation wie die der „Soulèvements de la Terre“. Denn „die Erde“ oder auch unser Planet ist der Boden der Erinnerung nicht nur für die Kriege, Massaker und Niederlagen, sondern auch für alle Erfahrungen der Aufstände, der Kooperation und des Zusammenlebens. Das Buch läd zur Diskussion ein, wie wir dem Revolutionsziel Glück gemeinsam näher kommen können.

Hanna Mittelstädt

Aufstände der Erde: „Erste Beben“. Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2025. 352 Seiten ca. 29.00 SFr., ISBN: 9783862415090.

Franz Jung: „Der Sprung aus der Zeit“. Avantgarde, Agitprop, Autobiographisches. Edition Nautilus, Hamburg 2024. 368 Seiten ca. 32.00 SFr., ISBN: 978-3-96054-352-7.

Raoul Vaneigem: „Das Buch der Lüste“. Edition AV, Bodenburg 2022. 148 Seiten ca. 26.00 SFr., ISBN: 978-3-86841-287-1.