Im deutschsprachigen Raum lässt sich davon nur träumen; Vergleichbares gibt es nicht. Gelten hierzulande Studien zu Anarchismus nach wie vor zumeist als angestaubte, verkorkste Graswurzelarbeiten idealistischer Eigenbrötler*innen oder Nebenprodukte der Arbeit weniger sympathisierender Akademiker*innen (die damit allerdings die oft kaum gewürdigte und unbezahlte Grundlage für alles Weitere schaffen), kann im englischsprachigen Raum inzwischen tatsächlich von einem Durchbruch anarchistischer Wissenschaften, ja, von ihrer Etablierung gesprochen werden. Dies hat ganz verschiedene Gründe, beispielsweise in einer längeren Vorgeschichte von anarchistischen Forschungen im englischsprachigen Raum, einer anderen Struktur des Uni-Systems, teilweise einem anderen Selbstverständnis von Akademiker*innen, von denen zumindest einige eine Zeit lang direkt in sozialen Bewegungen aktiv waren oder einen Zugang zu ihnen haben.
Darüber hinaus ist es selbstredend eine ambivalente Sache, Anarchismus in/an der Uni zu betreiben. Die Forschungs-Aktivitäten können direkteres Engagement in sozialen Bewegungen allein aufgrund der dafür notwendigen Zeit schnell in den Hintergrund treten lassen. Der feststellbare Anarchismus-Hype in den USA und Grossbritannien kann leicht zu einem manischen Gefühl der Handlungsfähigkeit führen sich aber als Schein offenbaren, insofern die tatsächlichen politischen Entwicklungen weiterhin eher äusserst negativ verlaufen. Und schliesslich wird mensch kein*e Anarchist*in durch ein Uni-Seminar und einen Zuwachs an Wissen, sondern durch konkrete Erfahrungen in politischen Auseinandersetzungen und dem alltäglichen Leben. Dies alles dürfte klar sein.
Und gleichzeitig spricht wohl kaum etwas dagegen, in den Wissenschaften (der „academy“) Raum zu greifen, sich selbst und andere umfassend zu bilden, wozu allerdings ebenfalls gehört, auch über Anarchismus Bescheid zu wissen. An jenen, die das Privileg oder die Leidenschaft haben, sich ausgiebig mit anarchistischen Themen und Perspektiven zu beschäftigen, liegt es, die erworbenen Wissensvorräte und Denkweisen dann auch weiterzugeben, also in die anarchistische Bewegung oder wo auch immer für grundlegende libertäre Gesellschaftsveränderung einzubringen. Und zwar auf Augenhöhe und partizipierend anstatt von oben herab und als Erklärbär. Doch auch wenn einige Ressentiments haben mögen: Sollen anarchistischen Ansätze die Relevanz und die politische Wirkungsmacht erhalten, welche ihnen zustehen, sind Anarchismus-Studien eines von vielen Feldern an denen zu arbeiten ist.
In diesem Sinne stellt The Palgrave Handbook of Anarchism ein wertvolles, durchaus anarchistisches und „seriöses“ (d.h. - für die im Feld Tätigen -: zitierfähiges) Buch dar. Das stattliche Werk ist ein Klotz, ein Batzen, ein Ziegelstein. Jede Uni-Bibliothek sollte die umgerechnet 190€ für das Ebook bzw. die 243€ für die Hardcover-Version hinblättern - Für all jene, die nicht andere Wege finden dort heran zu kommen und schlichtweg, weil es in eine anständige Bibliothek hinein gehört. Das Handbuch ist gegliedert in die vier Abschnitte Kernprobleme (z.B. „The State“, Nathan Jun), Haupttraditionen (z.B. „Anarcha-Feminism“, Donna M. Kowal), Schlüsselereignisse/Geschichten (z.B. „From the Zapatistas to Seattle: The 'New Anarchists'“, Francis Dupuis-Déri) und Anwendungen (z.B. „Farming and food“, Erika Cudworth). Das Vorwort schrieb übrigens Carne Ross, ein Ex-Diplomat, dem die Zweifel am demokratischen Staat nicht mehr losgelassen haben und der heute Werbung für die kurdischen Autonomiegebiete als gelebte gesellschaftliche Alternative macht.
Den Kapitalismus möchte er lieber nicht unbedingt als solchen bezeichnen, stellt aber immerhin zutreffend fest, als Anarchist*in wird mensch nicht geboren, sondern kann sich nur durch selbständige Erfahrungen und Gedanken dazu auf je eigene Weise entwickeln. Im Anarchismus geht es „um viel mehr als wie Gesellschaft 'geregelt' werden kann – eine inhärent hierarchische Formulierung; es geht darum wie wir leben, vor allem miteinander. Alle Herrschaftsbeziehungen zu vermeiden bedeutet nicht hauptsächlich die Regierung abzulehnen, sondern jede menschliche Beziehung in eine der Gleichheit, des Respektes und der Kooperation umzugestalten. Es geht darum eine*n selbst genauso wie die Gesellschaft zu verändern“ (Vorwort, S. ix). Abgesehen davon, dass Anarchismus auch nicht ohne die Ablehnung jeglicher Regierung zu haben ist, sind das doch ein paar schöne Anfangsworte...
Es folgt eine Übersetzung der Einleitung von Carl Levy und Matthew S. Adams (die ersten fünf Seiten des ersten Kapitels):
Einleitung (Carl Levy and Matthew S. Adams )
Die Wiederkehr des Anarchismus als Politik, Methode und seine Präsenz an der Hochschule
Anarchismus als ein politisches Konzept und eine soziale Bewegung wird mit zukünftigen oder im Hier und Jetzt realisierten politisch-sozialen Projekten ohne den Staat assoziiert. Er gründet sich auf eine Verpflichtung zur Autonomie des Individuums und die Suche nach freiwilligem Konsens. In historischen Überblicken über Anarchismus wird er oftmals familiäre Ähnlichkeit politischer, intellektueller und kultureller Entwicklungen des klassischen Griechenlands, antiken Chinas, mittelalterlichen Basra und mittelalterlichen Europas, dem englischen Bürgerkrieg und dem revolutionären Paris präsentiert.Gleichfalls verweisen Anthropolog*innen auf „staatenlose Völker“ überall auf der Welt und durch die menschliche Geschichte hindurch, die als Nachweise für den langen Stammbaum der Tradition der anarchistischen Ablehnung des Staates als organisierendes Prinzip und seines Nicht-Vorhandenseins in der längsten Zeit menschlicher Existenz, dienen. Als eine sich selbst bewusste Ideologie – als ein 'Ismus' – mag Anarchismus seine Existenz den politischen Formulierungen und intellektuellen Strömungen, die Europa im Erwachen der technologischen und politischen Revolutionen geformt haben, verdanken aber er ist ebenso eine entschieden globale und nicht vorrangig europäische Tradition. Die Geschichte des Anarchismus - seine Lehren, Konzepte, Ansätze, Argumente und Stile – wurde durch globale Entwicklungen genährt, die Menschen und Ideen überall auf der Welt verbreiteten und ihre lokalen Erscheinungsformen wurden oft durch heimische kulturelle und intellektuelle Traditionen gerahmt, die Anarchismus als schwer zu fassende, veränderliche Ideologie formten.
Die Unterschulen, welche Anarchismus auszeichnen – seine Mischung aus 'Individualismus', 'Kollektivismus', 'Kommunismus' und 'Syndikalismus', in denen sich verschiedene Haltungen in Bezug auf Wirtschaft und Organisation kreuzen – machten das Verständnis der Eigenheiten dieser Ideologie noch komplexer. Und in jüngster Zeit haben – wie wir sehen werden – neue Ergänzungen bedeutende Präsenz erhalten: Anarcha-Feminismus, Grüner Anarchismus und postmoderner bzw. Postanarchismus zeichnen Ideen und Praktiken nach, die immer im anarchistischen Denken vorhanden waren oder verfeinern sie.
Seit dem Zweiten Weltkrieg kam es zu drei Wellen anarchistischer Erneuerung in der Folge des Zusammenbruchs der Spanischen Republik und des Einmarschs der Franko-Truppen in die anarchistische Hochburg Barcelona Anfang 1939. Zwar gab es (vor allem im globalen Süden) bestimmte Formen syndikalistischen Handels in den 1940ern von denen gesagt werden könnte, dass sie den Geist des Anarchismus von vor dem Zweiten Weltkrieg weitergetragen haben. Diese Bewegungen wurden jedoch – schliesslich bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion und der Transformation der Volksrepublik China von einem leninistischen zu einem kapitalistischen Staat – von nationalen Befreiungsbewegungen überschattet, die ihre Inspiration von der sogenannten sozialistischen Welt bezogen.
Die erste Welle anarchistischer Erneuerung der 1940er und 50er Jahre bestand vorrangig in Klüngeln von Intellektuellen, Künstlern, Studierenden und Bohemiens und umfasste in der englischsprachigen Welt Leute wie Paul Goodman, Colin Ward, Ursula Le Guin, Herbert Read, Alex Comfort, Judith Malina und Murray Bookchin. Vieles ihrer intellektuellen und ideenreichen Arbeit mündete zunächst nicht in Massenbewegungen, auch wenn sie von ihren Geschichten inspiriert waren, noch zogen sie Energie aus der Beobachtung diverses politischer und sozialer Bewegungen oder bewegten sich zum Zentrum radikalen politischen Lebens.
Trotzdem sie gelegentlich durch rivalisierende Anarchist*innen als elitäre Bücherwürmer belächelt wurden, betätigten sie sich doch kaum im etablierten Wissenschaftsbetrieb oder etwa allgemein in etablierter Politik oder Zivilgesellschaft. Doch ihre anarchistischen Methoden, anarchistischen Provokationen und anarchistischen Vorstellungen regten neue Pfade in einer Menge akademischer Disziplinen, darunter Soziologie, Pädagogik, Psychologie, Geografie, Stadtplanung, Literatur und Geschichtswissenschaften, an und sie fanden bisweilen durch verschiedene Medienauftritte als 'öffentliche Intellektuelle' Beachtung, in denen sie hauptsächlich kulturelle Themen kommentierten, worin sich ihre bescheidene Berühmtheit erschöpfte.
Ein Paradebeispiel für eine Person, die sich in diesen Kreisen bewegte ist C. Wright Mills. Berühmtheit erlangte er aufgrund seiner Rolle diese 'neue' Linke gegen die 'alte', die sich augenscheinlich durch verschiedene totalitäre Experimente diskreditierte, zu definieren. Dabei entwarf er eine neue Soziologie, die darauf abzielte, mit der Zwangsjacke der „Kultur der Bombe“ zu brechen gegen jene funktionalistische Soziologie des Kalten Krieg. Statt akademische Aufmerksamkeit zu erhalten, wollte Mills die Bevölkerungen und Eliten des Ostens und Westens vor einer bevorstehenden nuklearen Katastrophe warnen, die sich im Antagonismus des Kalten Kriegs durch das Betreiben der in beiden Blocksystemen spiegelgleichen militärisch-industriellen Komplexe selbst verstärkte.
Die im Kontext sicherer gegenseitiger Vernichtung dringend erforderliche Arbeit von Wright Mills bezog ihre Kraft aus einer älteren gedanklichen und aktivistischen Tradition: den Industrial Workers of the World (IWW). Entscheidend intellektuell beeinflusst wurde er durch Thorstein Veblen, einem Bewunderer der Stärke der IWW in den 1910er Jahren sowie der anarchistischen Tradition des 19. Jahrhunderts, die mit ihren sozialen Fragen - neben anderen Dingen – eine kraftvolle moralische Kritik von Kapitalismus und Staat hervorgebracht hatte.
Stimmen wie Wright Mills wurden heruntergespielt, erhielten aber mit der zweifachen Krise von Suez und Budapest und der Entstehung des afro-amerikanischen Freiheitsbewegung langsam an Fahrt. Dennoch formulierte George Woodcock einen düsteren Nachruf auf anarchistische Politik, als 1962 die erste Auflage seiner grundlegenden Geschichte des Anarchismus erschien. Dieses Buch, erklärte Woodcock seinen Leser*innen, analysiert eine Bewegung, die tot ist. Im Erwachen der unerwarteten Ereignisse von 1968 und die ausgedehnte Periode sozialen Wandels und Aufruhrs die sich von der Mitte der 1950er bis zu den 1970ern erstreckte, bemerkte Woodcock bei der zweiten Auflage seine Todeserklärung könnte voreilig gewesen sein.
Sein Wechsel von einer pessimistischen zu einer optimistischen Sichtweise war teilweise das Ergebnis der Tatsache, dass er aus dem anarchistischen Umfeld herausfiel, als er das konservative Grossbritannien verliess um seit 1949 an der Westküste Kanadas zu leben, stellte jedoch ebenfalls eine Reflexion der veränderten Umstände für soziale Bewegungen dar, die sich nach der Tragödie von Spanien zusehends um sich selbst gedreht und nicht weiterentwickelt hatten. Schwarze Fahnen wurden neuerdings von Paris nach Berkeley wiedergesehen und mit den Ereignissen in Paris im Frühling 1968 entstanden spontane Versammlungen auf der Grundlage direkter Aktion und Graswurzel-Besetzungen, welche die fortgeschrittene kapitalistische Demokratie innerhalb weniger Tage paralysieren konnten.
Während den 1970er und 1980er Jahre wurden die Nebeneffekte der 1960er und '1968' in vielfältigen Neuen sozialen Bewegungen verkörpert, die neue anarchistisch beeinflusste Gruppierungen, Aktivist*innen und Denker*innen als eine zweite Welle anarchistischer Erneuerung hervorbrachten. Diese beinhalteten die zweite Welle des Feminismus, grüne Gruppierungen, die Anti-Atom-Bewegungen und Schwulen- und Lesben-Bewegungen, welche alle Formen des „Anarchismus mit kleinem a“ praktizierten, so etwa partizipatorische Demokratie, Bezugsgruppen, das Persönliche als Politisches, konsensuelle Formen demokratischer Selbstverwaltung, Präfiguration und direkte Aktion.
Trotz des klaren Wiederanstiegs des Interesses an anarchistischen Ideen, welches diese Gruppen verdeutlichten, ist es bedeutend, Woodcocks Nachruf von 1962 nicht mit einer Lobrede zu ersetzen. Diese Wellen des „New Anarchism“ oder neuer Politiken mit anarchistischem Geschmack, Stilen, Theorien und Methoden wurden immer noch überschattet von ihren sozialdemokratischen, sozialistischen, eurokommunistischen, leninistisch-nationalistischen Konkurrent*innen und populären radikalen Bewegungen des Globalen Südens. Überdies bezogen diese verschiedenen Bewegungen ihre intellektuellen und organisatorischen Grundlagen, ihre Stärke und Inspiration aus einer Mischung von historischen und gegenwärtigen Akteur*innen. Aber nichtsdestotrotz hatte sich etwas verändert.
Die grössten Impulse für ein breiteres öffentlich wahrnehmbares Wiedererwachen des Anarchismus als Handlungsmodus, Theorie und Methode erwuchs aus komplexe historischen Brüchen. Die Durchdringung verschiedener Varianten des Neoliberalismus im Westen und Globalen Süden, der Niedergang der Sowjetunion und des marxistisch-leninistischen Modells im vormaligen Ostblock, seinen Nachahmungen in Form von 'heroischer Guerilla' oder radikalen post-kolonialen Bewegungen im globalen Süden, wie auch des erstaunlichen Aufstiegs des chinesischen Modells des leninistischen Kapitalismus anstelle des Maoismus, brachten ein instabiles politisches Universum mit, in welchem Anarchismus wiederentdeckt wurde.
Neben dem Aufstieg des politischen Islamismus, der grössten Herausforderung für die neue Weltordnung, verweisen Formen des Anarchismus oder anarchismus-artige Bewegungen auf eine dritte Welle von Anarcho-Aktivismus. Dieser neue Radikalismus war eingebettet im Aufstand im Lakadonischen Urwalds des mexikanischen Chiapas 1994 unter dem Banner der post-leninistischen Zapatistas und verwandter Bewegungen in städtischen und ländlichen Gegenden von Lateinamerika.
Dies entzündete eine Serie von Mobilisierung die anhand des War on Terror/Irak-Kriegs, mit der Krise von 2007/2008, den Occupy- und Platzbesetzungsbewegungen, sowie den mit ihnen assoziierten Nachwirkungen von 2010 bis 2014 kulminierten und die etablierte Politik in vergleichbarem Masse wie 1968 erschütterten, als auch global das Kartendeck auf unvermuteten und unvorhersehbaren Weisen neu mischten. Diese 20jährige Welle sozialer Bewegungen ist eine komplexe Geschichte aus mehreren Strängen.
Die Bewegung für globale Gerechtigkeit, das Knüpfen von Netzwerken auf den Weltsozialforen, der „Krieg gegen den Terror“ nach dem 11.09.2001 und die Invasion des Irak 2003, das Ende der sogenannten grossen Spekulationen, der Finanz-Crash im Jahr 2008, die Eurokrise und das Zeitalter der Sparpolitik führte zum Aufstieg der Platz-Bewegungen vom Tahrir-Platz zum Zuccotti-Park, zu Graswurzel-Radikalismus und linkem Populismus in Lateinamerika und dann in Europa und Nordamerkika (und natürlich zum Gegenschlag des rechten Populismus). Diese Stränge des Dissens wurden zu einem politischen Motor in Lateinamerika, Nordamerika, Europa und anderswo, inspirierten Wissenschaftler wie auch öffentliche Intellektuelle und setzten wiederum das unerwartete Wachstum von 'Anarchist Studies' in den Universitäten und einer breiter interessierten Öffentlichkeit in Gang.
Doch das intellektuelle Feld wurde seit den 1940er Jahren bis heute durch mehrere Generationen von radikalen Akademiker*innen, durch neugierige und sympathisierende Forscher*innen und Praktiker*innen der Sozialwissenschaften, Humanwissenschaften und Kunst vorbereitet. Man brauchte nicht Anarchist*in zu sein um zu sehen, dass die Fragen, die der Anarchismus aufwarf nach Antworten verlangten. So wurde beispielsweise in der klassischen Periode die Untersuchungsagenda und das politische Ethos des Theoretikers des bürgerlichen Staates, von Kapitalismus' und Bürokratie, Max Weber , durch engagierte vertraute Diskussionen und freundliche Debatten mit Anarchist*innen und Syndikalist*innen geschärft. Auf ähnliche Weise diente Anarchismus in unserer eigenen Zeit als Muse, zur Auseinandersetzung, oder als Methode, sodass man an der Beschäftigung mit ihm in einigen einschlägigen Bereichen nicht mehr vorbeikam oder sogar Arbeiten entstanden, die sich auf eine selbst-definitierte anarchistische Massenbewegung bezogen.
Für den Anthropologen David Graeber, der eng mit der direkt-aktionistischen Bewegung für globale Gerechtigkeit verbunden war und der später bei der Erschaffung von Occupy Wall Street mitwirkte, stellte Anarchismus beispielsweise eine Form konsensueller Graswurzel-Demokratie ohne Staat dar und in vielen seiner akademischen Arbeiten versucht er zu verstehen, wie Menschen ihr Leben ohne den Staat bewältigen können. Ähnlich sieht das bei auch James Scott, einem anderen Anthropologen aus, der mit einem 'anarchistischen Blick' herausbekommen wollte, wie Bäuer*innen des globalen Südens (z.B. Brasilien, Südost-Asien und Ägypten) mit verborgenen Abläufe in ihren Lebensgewohnheiten versuchten und immer noch versuchen der Lesbarkeit der hungrigen Staatsmaschine zu entgehen.
Der explosionsartige Ausbruch von Interesse an Anarchismus in all seinen Erscheinungsformen wurde befeuert durch Feedback-Schleifen, die durch verschiedene Generationen von Nach-1945er anarchistischen Denker*innen, sympathisierenden Akademiker*innen und Student*innen gepflegt und gefördert wurden, die – wie früher Max Weber – den Wert in den Fragen sahen, welche Anarchist*innen stellten, in den Beispielen, die sie gaben und in den Methoden die sie betrieben. Zum Beispiel wurden Historiker*innen von transnationalen, exilierten und kosmopolitischen anarchistischen und syndikalistischen Bewegungen zwischen den 1870ern und 1920ern durch Beispiele der Bewegung für globale Gerechtigkeit und Occupy ausserhalb ihrer Seminarräume inspiriert. Politische Theoretiker*innen und öffentliche Intellektuelle der Platzbewegungen haben umgekehrt Bezug auf den transnationalen Anarchismus und Syndikalismus des frühen 20. Jahrhunderts genommen und diese als Vorläufer der netzwerkartigen, rhizomatischen, digitalisierten Protestwellen von heute betrachtet.
In Hinblick auf Publikationen hat die Anzahl von Monografien, Anthologien und herausgegebenen Arbeiten mit Bezug zu allen Aspekten des Anarchismus (klassischem, neuem, und 'post'-Anarchismus) deutlich gemacht, dass die heutige Situation anders ist als in den 1950ern, den Interessenswellen in den 1960ern und 1970ern, wie auch dem Fokus auf Anarchismus welcher mit Punk und den neuen sozialen Bewegungen in den 1980ern aufkam. In all diesen Phasen erfolgten immer Veröffentlichungen aber bis zum Ende des Kalten Krieges und wahrscheinlich sogar bis zum Anbruch des neuen Jahrhunderts überschatteten marxistische, postmoderne und post-koloniale Formen radikalen Denkens das kurze Auftauchen von Anarchismus in der gedruckten und digitalen Welt. Wie dieses Buch zeigt, ist dies nicht mehr zwangsläufig länger der Fall.
Mit der marktschreierischen Anpreisung des Handbuchs vor dem übersetzten Abschnitt habe ich gewollt etwas übertrieben, um darauf hinzuweisen, dass sich einige bedeutende Neuentwicklungen in der anarchistischen Theorie ergeben haben. Weiterhin stimmt es auch, dass sich in bestimmten Kreisen mittlerweile doch ganz anders beziehungsweise überhaupt über Anarchismus sprechen lässt, was vor zwei Jahrzehnten kaum vorstellbar gewesen ist. Für beides ist das Handbuch ein sichtbarer Ausdruck. Gleichzeitig sind die Anarchismus-Studien weiter voranzutreiben und bilden nach wie vor eine kleine Sparte innerhalb eines Feldes breiterer kritischer Wissenschaften.