Solche holzschnittartigen Hierarchisierungen von Ungleichheitsverhältnissen öffnen immer wieder Tür und Tor für antifeministische Mobilisierungen – und das eben auch in der politischen Linken. Carolin Wiedemann erläutert diese Dynamiken in ihrem Buch „Zart und frei“ und geht dabei auch auf hierarchisierende Tendenzen innerhalb feministischer Diskurse ein. Diese arbeiteten sich in der Vergangenheit vor allem am Patriarchatsbegriff ab, wie Wiedemann in Anlehnung an Theoretiker*innen wie die kürzlich verstorbene bell hooks und Judith Butler erläutert: Bereits während der ersten feministischen Bewegungen kritisierten Schwarze Frauen, dass der Kampf gegen das Patriarchat vor allem auf weisse Frauen ausgerichtet sei, dabei die Lebensrealität Schwarzer Frauen nicht berücksichtige und keine Gerechtigkeit für sie erreichen könne. Und auch aus queerfeministischer Perspektive wurde später der Fokus auf die cis hetero Frau als „Norm“ kritisch hinterfragt.
Patriarchat neu gedacht
Wiedemann ist nicht die erste Autorin, die aufzeigt, wie andere Machtverhältnisse ausser dem zwischen Männern und Frauen immer wieder von der feministischen Bewegung ignoriert – und so die Chance verpasst wurde, solidarisch füreinander einzustehen. Ihre Argumentation zeichnet sich jedoch durch ihren Fokus auf den Patriarchatsbegriff aus: Seit den Versäumnissen der zweiten Welle des Feminismus habe dieser sich gewandelt. Ihrer Ansicht nach etabliert sich derzeit eine neue feministische Bewegung, die den Begriff weiterdenke und „eine neue antipatriarchale Massenmobilisierung“ (S. 104) ins Leben rufe:„In diesem neuen Umgang ist der Begriff des Patriarchats von seinem monolithischen, homogenisierenden Charakter befreit und für eine Deutung geöffnet, die den Zusammenhang mit Klassenverhältnissen, mit kapitalistischen und rassistischen Ausbeutungsverhältnissen sowie mit heteronormativer Herrschaft im Sinn hat“ (S. 104f).
Unter diesen Voraussetzungen kann und sollte sich Gerechtigkeit heute an einer zentralen Ungleichheitsdimension ausrichten, nämlich der des Geschlechts:
„Am Umgang mit der Frage nach Geschlechtern, nach Identitäten, nach Begehrens- und Beziehungsformen zeigt sich, wie frei unsere Gesellschaft tatsächlich ist und wie gerecht wir sind. An diesen Fragen entscheidet sich, wohin wir steuern“ (S. 9).
Identität ist nicht „natürlich“
Eine weitere schädliche Tendenz, die Wiedemann im Zusammenhang mit der Geschlechterfrage sowohl in der rechtskonservativen Szene wie auch in liberalen Kreisen identifiziert, ist neben der Hierarchisierung auch die der „Naturalisierung“. Dabei werden bestimmte Eigenschaften oder Zustände als vermeintlich „natürlich“ verteidigt; zum Beispiel die männliche Herrschaft oder die Marktwirtschaft als Systeme, die angeblich immer schon in Mensch und Gesellschaft angelegt waren. Ein Punkt, den Wiedemann dabei immer wieder herausstellt, ist die Unterscheidung zwischen rechter und strategischer, emanzipatorischer Identitätspolitik.Letztgenannter Begriff bezeichne, so Wiedemann, eine „Politik, die von eigenen Erfahrungen der Diskriminierung und Ausbeutung ausgeht, sie als kollektive Erfahrungen erkennt und so ihre strukturelle Dimension sichtbar macht und bekämpft“ (S. 57). Der „Call-Out-Culture“, also dem öffentlichen Hinweisen auf diskriminierendes Verhalten, spricht sie zum Beispiel als Form strategischer Identitätspolitik in erster Linie ein hohes Mass an Bedeutung zu, wenn es um den Widerstand gegen ungerechtes, vermeintlich „normales“ Verhalten geht. Gleichzeitig sieht sie solche Verfahrensweisen aber auch kritisch:
„Sicher liegt in diesem eigentlich strategischen identitätspolitischen Umgang, (...) die Gefahr, die Strategie aus den Augen zu verlieren und die gesellschaftlich zugeschriebenen Identitäten positiv aufzuladen, statt sie zu demontieren, sie zu (...) naturalisieren und sie dabei weiter gegeneinander auszuspielen. Sicher gibt es immer ein paar Leute, die Queer-Feminist*in-Sein zur neuen Identität verklären, die damit neue Codes etablieren, die wiederum neue Ausschlüsse produzieren“ (S. 110 f.).
Mehrfach thematisiert sie solche hypothetischen „Einzelfälle“, welche die emanzipatorische Identitätspolitik „in ihr Gegenteil zu verdrehen“ (S. 57) drohten und dazu führen könnten, „dass Utopien selbst ins Deterministische kippen (...), wenn sie ein bestimmtes Menschenbild implizieren (...)“ (S. 185). Derartige Einzelfälle werden in erster Linie von Menschen imaginiert, die sich vom Gender-Sternchen bevormundet fühlen, konkrete Beispiele für sie gibt es im Buch keine. Das Einlassen auf derartige Gedankenspiele scheint ein Versuch Wiedemanns zu sein, „auch denen die Hand zu reichen, die verunsichert sind“ (S.12). Tatsächlich läuft sie damit aber eher Gefahr, ihrer ansonsten so überzeugenden Analyse den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Sex und Solidarität
Gekoppelt an ihre Patriarchatskritik und den Fokus auf die Geschlechterfrage stellt Wiedemann bereits in der Einleitung eine These auf, die da lautet: „Alle hätten besseren Sex, wenn das Patriarchat beendet wäre“ (S. 10f). Darum, sowie um Zartheit generell, geht es in der zweiten Hälfte des Buches. Wiedemann hat hierzu einige Interviews mit Menschen geführt, die Liebe, Sex und Beziehung neu zu leben versuchen. So teilt sich etwa eine interviewte Person die Elternschaft ihres Kindes mit zwei Menschen, zu denen sie eine sexuelle Beziehung hat.Eine andere Person teilt sich die Kindererziehung hingegen mit den Mitbewohner*innen ihrer grossen Wohngemeinschaft, in der auch noch der Vater des Kindes lebt, obwohl die beiden kein Paar mehr sind. Wiedemann berichtet in diesem Teil des Buches auch mehr von persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen; etwa sehr ehrlich und zärtlich von ihrer Teilnahme am „Tender and Feral Lab“, einem „erotischen Laboratorium“, bei dem sich zuvor fremde Menschen „fernab vom cis-männlichen Blick“ (S. 130) ausprobieren und näher kommen können. Einen solchen liebevollen Umgang untereinander definiert sie als Solidarität und beschreibt dann, erneut in Anlehnung an bell hooks, wie „Lieben als Aktivismus“ aussehen kann: Es gehe gar nicht darum, uns von allen binären, heteronormativen Vorlieben im Hinblick auf Sex und Familie zu befreien, sondern darum, „das Prinzip der Normierung des Zusammenlebens aufzubrechen und das patriarchal-rassistische System, auf dem die bürgerliche kapitalistische Gesellschaft basiert, sukzessiv zu untergraben“ (S. 185).
Wiedemanns Buch kann dabei helfen, patriarchale Strukturen auch in den eigenen (linkspolitischen) Reihen und privaten Beziehungen zu identifizieren. Ohne Druck dekonstruiert sie die Ängste und Vorurteile, die häufig mit alternativen Lebens- und Liebesformen assoziiert werden. Sie macht überzeugend klar, dass es sich für alle lohnt, Zärtlichkeit neu zu denken und auszuprobieren.