Die Essay-Sammlung mit dem Titel „Class and Feminism“ wurde von der US-amerikanischen Frauengruppe The FURIES im Jahr 1974 herausgegeben als Versuch, sich mit der Klassendiskriminierung und mit den damit verbundenen Konflikten in den eigenen Reihen auseinanderzusetzen. Doch das, was dabei entstanden ist, ging weit über die internen Konflikte der Frauenbewegung der 1970er Jahre hinaus. Das Buch ist eine scharfsinnige und bittere Gesellschaftsanalyse und ein politisches Programm zugleich. Für diejenigen, die vom Problem des Klassismus selbst betroffen sind, könnte es auch eine Befreiungslektüre werden.
Klasse ist mehr als Marx
„Class and Feminism“ ist das erste bekannte Werk, das sich offen mit Klassismus beschäftigt und diesen Begriff auch verwendet. Was genau ist mit Klassismus gemeint? Coletta Reid und Charlotte Bunch sehen die Wurzel des klassistischen Verhaltens in der Idee der Überlegenheit der „oberen“ Klassen. Die US-amerikanische Gesellschaft der 1970er Jahre lebt den Autorinnen zufolge in der Illusion, klassenlos zu sein. Durch die Vorstellung, dass jede und jeder, der hart genug arbeitet, aufsteigen kann und letztlich das bekommt, was er oder sie verdient, wird den Armen Hoffnung gegeben und den Privilegierten gleichzeitig das Gefühl der eigenen Überlegenheit. Der Wert einer Person wird an ihrem wirtschaftlichen Status gemessen, Erreichen oder Erhalt dieses Status aber zu ihrer alleinigen Verantwortung erklärt. Die Autorinnen distanzieren sich bewusst von akademischen Klassenbegriffen und in den Mittelklassen verbreiteten Theorien wie dem Marxismus und wenden sich der Perspektive der Betroffenen und ihrer Lebenserfahrung zu, um Klasse in der Form von Ideen und Verhaltensweisen zu fassen.Die in der Kindheit erworbene Klassenposition einer Person hat existentielle Auswirkungen auf ihr Leben, selbst im Falle eines Auf- oder Abstiegs. Denn Klasse, so wie der Begriff von The FURIES verwendet wird, bedeutet viel mehr als die ökonomische Situation oder die Position im Produktionsprozess: Klasse bestimmt die Art, wie wir denken, sprechen, handeln, fühlen, uns selbst und die Welt wahrnehmen, mit anderen Menschen umgehen, Klasse bestimmt unsere Bildung, unsere Zukunftsvorstellungen, unsere Bedürfnisse, unser Konflikt- und Risikoverhalten – und unser politisches Bewusstsein.
Dass man seine Klasse schnell verlassen kann, ist eine Illusion, die die klassistische Herrschaft zusätzlich stützt. Eine Kindheit voller Angst, Armut und Demütigung wird davon nicht ungeschehen gemacht, dass das Kind später doch einen Hochschulabschluss oder einen guten Job bekommt. Hinzu kommt, dass mit dem Aufstieg ein moralisches Dilemma verbunden ist: Für Menschen aus den „unteren“ Klassen ist die Verbesserung ihrer sozialen Situation nur möglich, wenn sie die Werte und die Verhaltensweisen der Mittelklassen übernehmen. Damit übernehmen sie allerdings auch diskriminierende und ausgrenzende Verhaltensmuster und auch die vorherrschende Ideologie, dass jeder „es schaffen kann“, und gelten als die „besseren“ Armen. Die Aufsteiger_innen reproduzieren, wenn auch nicht unbedingt bewusst, die Unterdrückung der Arbeiter_innenklassen und werden damit zum Teil des klassistischen Problems.
Verzichten – aber richtig!
Als zweite gesellschaftlich und politisch schädliche Illusion wird die Vorstellung genannt, man könnte die Klassenunterschiede durch Verzicht und „freiwilligen Abstieg“ beseitigen (S. 19f.). Hier setzt die Kritik an linken politischen Bewegungen und die Selbstreflexion der Frauengruppe an, die auch im heutigen politischen Kontext relevant bleibt. The FURIES sehen auch die „alternativen“ politischen Bewegungen als hochgradig klassistisch, angeführt und dominiert von Kindern der Mittelklassen mit ihren Werten und ihren Vorstellungen vom „richtigen Leben“.Die politisch motivierte „Mobilität nach unten“ beinhaltet in der Regel Ablehnung des materiellen Besitzes, Verzicht auf private Räume und Geld, eine anti-konsumistische beziehungsweise anti-materialistische Haltung und eine bestimmte Kommunikationskultur. All das können sich Kinder der Arbeiterklasse nicht leisten. Sie können schwer auf etwas verzichten, das sie nie hatten. Aus ihren Armutserfahrungen entwickeln sich oft Bedürfnisse, die in politischen Gruppen schnell als kontra-revolutionär abgestempelt werden: der Wunsch, endlich gute Kleidung zu tragen, eigenen Wohnraum zu haben, das Bedürfnis nach Sicherheit und Anerkennung.
Eine Imitation der von ihnen als demütigend erfahrenen Lebensweise durch Personen, die aus Spass auf dem Boden schlafen und Essen stehlen, aber gleichzeitig jederzeit zu ihren reichen Eltern zurückkommen können, wird oftmals als Beleidigung empfunden. Die „modisch gemachte Armut“ („poverty made fashionable“, S. 19) der Absteiger_innen aus den Mittelklassen wird zudem oft dazu genutzt, sich durch ihren „korrekten“ Lebensstil und ihre „richtige“ Kultur von anderen abzugrenzen und – im Falle der Kinder aus der Arbeiterklasse - sie von oben herab zu erziehen. Menschen aus armen Verhältnissen wird nicht zugetraut, ihre Lebenssituation und ihre Unterdrückung selbstständig analysieren und benennen zu können. Da sie die Ausdrucksweise der Mittelklassen oft nicht beherrschen und nicht entspannt und höflich kommunizieren können, werden sie als weniger vernünftig oder „politisch“ wahrgenommen.
Im Kontext einer feministischen Gruppe kommen laut den Autorinnen andere Abwertungsmechanismen hinzu: die Weigerung, sich mit den eigenen Privilegien auseinanderzusetzen, weil Frauen angeblich nicht in der Lage sind, andere Frauen zu unterdrücken, die Aufwertung des Emotionalen und die permanente Beschäftigung mit eigenen Gefühlen (für Menschen aus ärmeren Gesellschaftsschichten ein Luxus), aber auch die Erwartung, dass alle Menschen gut und freundlich sein sollen. Kritik an klassistischem Verhalten unter Frauen kommt als persönlicher Angriff und Feindseligkeit an.
Nicht Schuld, sondern Veränderung
Es sind die Mischung aus Leidenschaft und Analyse und die vielfältigen und vielschichtigen Inhalte in der knappen Form der fünf- bis zwölfseitigen Essays, die „Class and Feminism“ so aussergewöhnlich machen. Komplexere Herrschaftsanalysen und politische Reflexionen werden durch eigene Erfahrungen illustriert und der Leserschaft zugänglich gemacht. Die von den Autorinnen geäusserte Ablehnung des künstlichen Widerspruchs von Rationalität und Emotionalität wird auch in ihren Texten sichtbar, die den Verstand und die Gefühle gleichermassen vermitteln und ansprechen. Klassismus wird im Buch auch in seiner Verbindung zu anderen Herrschaftsformen erkannt und analysiert, die Herrschaft der Reichen ist zugleich männlich und weiss, und auch die Kämpfe gegen Sexismus, Rassismus und Klassismus kann man nicht getrennt voneinander führen. Damit nehmen die Autorinnen bereits die politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen der nächsten Jahrzehnte vorweg und zeigen Kategorien auf, die für die heutigen Debatten um Intersektionalität entscheidend sind.Die in „Class and Feminism“ geäusserte Kritik an gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ist hart und offen, soll aber nicht vernichtend werden. Es ist keine Anschuldigung, sondern eine Aufforderung, die Welt zu verändern, beginnend mit sich selbst. Klassendiskriminierung unter Frauen erzeugt Konflikte und spaltet die Bewegung. Ziel sollte es sein, die unterschiedlichen Erfahrungen der Menschen zu verbinden, voneinander zu lernen und gemeinsam jede Form von Herrschaft zu bekämpfen. Frauen aus der Mittelklasse sind dazu angerufen, ihre Privilegien zu reflektieren, Dominanzverhältnisse abzubauen, ihren Besitz und ihre Fähigkeiten nicht zu verschwenden oder zu verleugnen, sondern zu teilen und für die Verbesserung der Gesellschaft einzusetzen. Die Revolution, so der Titel des Essays von Coletta Reid und Charlotte Bunch, beginnt zu Hause. Auch aus dieser Programmatik können wir heute noch viel lernen.
Bei allen Bereicherungen gibt es an der Argumentationsweise in „Class and Feminism“ allerdings auch etwas auszusetzen. Wenn man gegen Klassismus in der Linken und die allzu akademische Betrachtung der Kategorie „Klasse“ argumentiert, sollte man den Gegenstand der Kritik nicht gleichzeitig reproduzieren. Die im Buch immer wieder vorkommenden Verweise auf Marx (und Marxismus) ohne Erklärungen oder Angaben zum Inhalt der Theorien können für von Klassismus betroffene Personen, die sich die entsprechende Bildung nicht oder noch nicht angeeignet haben, abschreckend wirken. Genauso schwer verständlich können manche Kommentare sein, wie zum Beispiel, die Gesellschaft sei „gehirngewaschen durch die protestantische Ethik“ („brainwashed with the protestant ethic“, S. 37). Die Beschreibung des „Lesbischwerdens“ („becoming a lesbian“, S. 32) als eines entscheidenden Schrittes hin zur Emanzipation könnte unter Umständen diskriminierend wirken, da die meisten Personen ihr sexuelles Empfinden nicht als frei gewählt sehen und nicht einfach lesbisch werden können.
Eine Gesellschaftskritik wie „Class and Feminism“ kann ihrerseits kritikwürdig sein. Ihre Lektüre kann dennoch für viele eine Hilfe und Inspirationsquelle werden.