Die juristische und die öffentliche Debatte
Kriminolog_innen, Strafrechtler_innen, Rechtswissenschaftler_innen – die Fachwelt ist sich weitgehend einig, auch die Zahlen der Sanktionsforschung sprechen für sich: Die Kopplung von Strafaussetzung auf Bewährung einerseits und dem Arrest andererseits ist hinsichtlich des Ziels einer geringen Rückfallquote vollkommen sinnlos. Schon die beiden Instrumente des Arrests beziehungsweise der Bewährungsstrafe als solche sind, so Müller, statistisch nahezu wirkungslos, was die Förderung des „legalen Verhaltens“ (S. 17) angeht.Dennoch wurde das bis 2012 existierende Kopplungsverbot beider jugendstrafrechtlicher Instrumente aufgehoben: Es handelt sich beim neu entstandenen „Warnschussarrest“ um einen zusätzlichen Arrest zu einer Bewährungsstrafe, hier werden also zwei gegensätzliche erzieherische Botschaften gesendet: Auf der einen Seite erhält die straffällige Person eine positive Prognose, es wird viel Vertrauen in sie gesetzt, dass sie ohne Haftstrafe zu einer Lebensführung ohne erneute Straftaten zurückfindet, auf der anderen Seite wird durch das Verhängen des Arrests hart gegen sie vorgegangen. Da, entgegen des Grundsatzes, bei jungen Menschen aus „erzieherischen“ Gründen die Strafe zeitlich sehr schnell auf das falsche Verhalten folgen zu lassen, der „Warnschuss“ als gegensätzliche Botschaft oft erst sehr spät nach einem langen Strafverfahren und entsprechender pädagogischer Arbeit stattfinde, führe er, so Müller, sogar eher zu mehr Rückfälligkeit.
Entgegen der sachlichen Debatte in der Fachwelt stand im Vorfeld der Gesetzesänderung ein reaktionärer öffentlicher Diskurs, der diese erst möglich machte. Man forderte ein „härteres Vorgehen“ gegen junge Straftäter_innen und biologisierte delinquentes Verhalten nach Geschlecht, Alter und Herkunft, ohne dabei die ökonomischen und strukturellen Ursachen von Gesetzesverstössen auch nur ansatzweise einzubeziehen. Die Forderung, autoritär und abschreckend gegen die jungen Menschen vorzugehen, die, aus welchen Gründen auch immer, entsprechendes Verhalten gezeigt haben, ist in den Debatten allgegenwärtig.
Grundlegende Gefängniskritik
Christoph Müller setzt sich zu Beginn seines Buches unter Rückgriff auf die Mittel der kritischen Diskursanalyse mit dem skizzierten Diskurs auseinander. Er stellt den hinter den entsprechenden öffentlichen Forderungen stehenden Rassismus und Sexismus und die sogenannte Schockideologie gut verständlich und als Einführung in seine daran anschliessende Forschung dar.Besonders auf den ersten Seiten wird deutlich, was dieses Buch so besonders macht: Die pädagogische Herangehensweise an ein juristisches Problem, beschränkt auf einen kleinen Teil im Jugendstrafrecht, den Arrest, steht in Müllers Buch stellvertretend für eine umfassende Kritik an der Praxis totaler Institutionen und des Einsperrens im Allgemeinen. Beginnend mit Foucaults „Überwachen und Strafen“ wird grundlegende Kritik an der Institution Gefängnis und ähnlichen Disziplinartechniken geübt. Es wird für die Leser_innen sehr schlüssig dargestellt, dass das Einsperren von Menschen Delinquenz noch nie vermindert hat, sondern im Gegenteil für eine Stagnation oder einen Anstieg der Fälle sorgt und so auch der Aufenthalt im Jugendarrest eine höhere Wahrscheinlichkeit erneuter Straftaten fördert.
Neben der fachlichen und juristischen Debatte, dem eher staatlichen Blick auf die reinen Zahlen bezüglich Strafverbüssung und Rückfälligkeit, finden sich im Buch auch linke Perspektiven und eine generellere Gefängniskritik. Eine zentrale These Müllers ist, dass das Gefängnis gemäss Foucaults Klassenjustiztheorien die eigentliche gesellschaftspolitische Funktion erfüllt, ein weitgehend geschlossenes Delinquenzmilieu zu schaffen. Vor diesem Hintergrund ist Müllers Untersuchung des Jugendarrests als vermeintliches Instrument zur Kriminalitätsbekämpfung besonders spannend, macht sie doch deutlich, dass der Staat seine Bürger_innen nicht mit Massnahmen der Sozialen Arbeit und Bildungsangeboten unterstützt, sondern lediglich disziplinierend auf sie einwirkt und dabei eigentliche Problematiken, die erst in letzter Instanz zu straffälligem Verhalten führen, ausser Acht lässt.
Innenansichten
Herzstück von Müllers Forschung sind Interviews mit Arrestant_innen, aus denen recht eindeutig hervorgeht, welchen negativen Einfluss das Eingesperrt-Sein auf die Jugendlichen hat und welche Herausforderungen sie durch den Aufenthalt im Arrest zu bewältigen haben. Entgegen dem vorrangig politischen Herangehen im ersten Drittel des Buches rückt hier die sonderpädagogische Ausrichtung des Autors in den Fokus. Es wird deutlich, wie die vermeintlich „resozialisierende“ Zeit in Haft neues, von der Gesetzeslage abweichendes, „deviantes“ Verhalten hervorbringt. Die Interviews zeigen eindrücklich, dass Resozialisierung durch Einsperren, also de facto das Separieren von der restlichen Gesellschaft und das Unterwerfen unter Regeln, die ausserhalb der Anstalt nicht gelten, nicht funktionieren kann.Es gelingt Müller, sich gleichzeitig mit den inhaftierten Interviewpartner_innen zu solidarisieren. Seine eigene Position zur Praxis der Inhaftierung bleibt kein Geheimnis, ohne dadurch seinen wissenschaftlichen Standpunkt zu beeinflussen. Besonders gut funktioniert dies über die distanzierte Wiedergabe von Gesprächsfetzen mit Mitarbeiter_innen der Arrestanstalten, die er kontrastierend einfliessen lässt. Scheinbar nebensächliche Aussagen der Beschäftigten – etwa die Frage an ihn als Interviewer, ob er lieber zuerst einen „guten“ oder einen „schlechten“ Interviewpartner haben wolle (S. 52), oder die Ankündigung, einen „richtigen Ganoven“ (S. 72) für ihn zu haben – sagen viel über das Menschenbild der von ihm angetroffenen, in den betreffenden Einrichtungen arbeitenden Personen und die gesellschaftlich verbreitete Vorstellung bezüglich straffällig gewordener Personen aus. Es wird gerade durch diese einleitenden Worte enorm deutlich, wie die Beschäftigten in den Jugendarrestanstalten die Regeln der Institutionen verinnerlicht haben.
Aufschlussreich ist auch die treffsichere und genaue Wiedergabe der Gespräche der Auswertungsgruppen, mit denen Müller seine Interviews interpretiert hat. Die verschiedenen Standpunkte der Studierenden, die daran mitgearbeitet haben, zeigen verschiedene Blickwinkel: von per se solidarisch mit den Inhaftierten bis zu ablehnend und emotional. Sie geben als Ganzes sehr treffend die aus den Interviews zu ziehenden Schlüsse wieder.
Den Abschluss des Buches bildet eine Gegenüberstellung pädagogischer Konzepte. Müller zeigt, dass wir es bei vermeintlichen Alternativen zu Arrest und Haft, wie zum Beispiel den gängigen Antiaggressions- oder Coolnesstrainings, eigentlich mit denselben Methoden, Menschenbildern und Schwachpunkten zu tun haben: Schocken, Kleinmachen und Beschämen der betroffenen Person. Mit ermächtigendem und verstehendem pädagogischen Blick haben diese „Alternativen“ nichts gemeinsam. Anschliessend werden tatsächliche pädagogische Alternativen, aufbauend auf einer konstanten pädagogischen Beziehungsarbeit, in groben Zügen vorgestellt.
Wie so oft bei der Lektüre linker wissenschaftlicher Veröffentlichungen, blieb ich am Ende des Buches zwar mit spannendem Wissenszuwachs, jedoch leider auch etwas ratlos zurück. Während mich besonders die einleitenden Kapitel mit ihrer Kritik am Gefängnis und der dahinter stehenden Ideologie und Pädagogik zustimmend nicken und wissbegierig weiterlesen liessen und die folgenden Interviews, sowie deren Auswertung die angedeutete Theorie anschaulich belegten, sorgte die Schlussfolgerung des Werks, die eine andersgerichtete Pädagogik in groben Zügen einbringt, bei mir als Leserin eher für ein grosses: Ja, stimmt, und jetzt? Man möchte gerne weiterlesen und sowohl politische Konsequenzen aus der Analyse und Kritik ziehen, als auch die pädagogische Alternative zur Schockideologie weiterdenken. Um nicht nur zu wissen: so eine Pädagogik möchte ich nicht machen, sondern auch ein „anders“ für sich und die eigene Arbeit mit jungen Menschen zu finden. Der Widerspruch, dass man als Sozialarbeiter_in eigentlich ständig systemstabilisierende Arbeit macht, und ob man in Einrichtungen, die man von der Sache her ablehnt, arbeiten sollte oder nicht, hört nicht auf.