UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Alles oder nichts

1771

Der rot-schwarze Faden der Geschichte Alles oder nichts

book-open-reader-677583-70

Sachliteratur

Wir leben in einer Zeit, in der das Ende der Welt leichter vorstellbar ist als das Ende des Kapitalismus.

Alles oder nichts.
Mehr Artikel
Mehr Artikel
Bild vergrössern

Alles oder nichts. Foto: Rocío Mantis (PD)

Datum 14. April 2020
4
0
Lesezeit7 min.
DruckenDrucken
KorrekturKorrektur
Ein hoffnungsloser Satz, vor allem weil durch die Klimakatastrophe das Ende der Welt immer näher rückt, ein Ende des Kapitalismus aber weiter denn je entfernt zu sein scheint.

Spätestens seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus nach 1989 gibt es keine reale Alternative mehr zum kapitalistischen Weltsystem. Nicht einmal mehr der meist miefige Sozialismus des Ostblocks kann nunmehr noch als Bezugspunkt für eine andere Gesellschaft herhalten. Ein konkreter antikapitalistischer Gegenentwurf ist nirgendwo zu finden. Mittlerweile ist es sogar fast unmöglich geworden, sich eine kohärente emanzipatorische Alternative zum Kapitalismus überhaupt noch vorzustellen.

Kapitalistische Gesellschaften zeichnen sich seit jeher durch Profitmaximierung und die Aneignung fremder Arbeitskraft aus. Neben die Unerträglichkeit, dass die meisten Menschen ihre Zeit für Lohnarbeit verkaufen müssen, um überhaupt überleben zu können, tritt aktuell verstärkt die Herrschaft über Menschen und die Umwelt zutage. Die Verfügungsgewalt über Menschen äussert sich in patriarchalen Geschlechterverhältnissen, der modernen Sklaverei sowie im allgegenwärtigen Rassismus, von dem brennende Unterkünfte von Geflüchteten ebenso zeugen wie das Massengrab Mittelmeer.

Die pervertierte Naturbeherrschung erscheint nicht erst in Katastrophen wie Fukushima, sondern in jedem Kohlekraftwerk und jedem Kurzstreckenflug. Innerhalb dieser kapitalistischen Weltordnung mit ihrer (Klassen-)Herrschaft, ihrer globalen, ungeheuren Warensammlung und ihren tödlichen Grenzen greift jede Reform zu kurz. Daher wird auch jede Hoffnung auf die bestehenden Organisationen der politischen Linken enttäuscht werden. Die alten Formen der Arbeiter*innenbewegung, Gewerkschaft und Partei, liegen im Sterben. Zusammen mit vielen NGOs stellen sie sich heute immer mehr als lediglich bürokratische Gebilde dar, deren erstes Ziel darin besteht, sich selbst auf dem politischen Feld zu behaupten und Macht auszuüben, nicht etwa darin, Inhalte durchzusetzen.

Doch steckt dieses System der repräsentativen Demokratie, die Delegierung der Macht über Stimmabgabe, aktuell selbst in einer Krise. Diese Krise der Repräsentation ist nicht nur mit einem Desinteresse der Wähler*innen an den Parteien zu erklären, sondern scheint tiefer zu sitzen. Vielleicht schwindet gerade der Glaube an dieses System, das jahrzehntelang als alternativlos verkauft wurde. In diese Richtung weisen die politischen Bewegungen neuen Typs, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, wie die Indignados in Spanien sowie Nuit Debout und die Gilets Jaunes in Frankreich. Sie haben das herrschende System herausgefordert, indem sie eine neue Form des Zusammenlebens und der politischen Artikulation verlangten.

Diese Repräsentationskrise ist verbunden mit einer Krise des Sozialen. Jahrzehntelang wurde die Mehrheit der Bevölkerungen in den westlichen Industriestaaten durch einen relativ starken Sozialstaat an das System gebunden und hatte gar keinen Grund für eine umfassende Transformation der Verhältnisse – dazu kam, dass durch die Existenz einer sozialistischen Welt der Kapitalismus auch noch nicht zu allen Schweinereien im sozialen Bereich bereit war, die er sich aktuell anschickt durchzusetzen. Gegenwärtig werden die nationalen Staaten durch die Globalisierung des internationalen Kapitals immer weiter geschwächt und ihre ›soziale Fürsorgefunktion‹ nimmt immer weiter ab.

Von Sozialabbau und Austerität können weltweit all die Prekarisierten und in Armut gestossenen Menschen ein trauriges Lied singen. Sogar die bescheidene Hoffnung, die der Klassenkompromiss des Keynesianismus mit sich gebracht hatte, wonach es auch die subalternen Klassen zumindest zu Fernseher, Kühlschrank und Gebrauchtwagen bringen können sollten, scheint verloren. Auch die Aussichten all der Arbeiter*innen oder Angestellten in den Städten, Vororten und auf dem Land, die noch nicht ganz unten angekommen sind, sind trübe. Die zunehmende soziale Ungleichheit bringt die Illusion des Konsenses, der Meritokratie und des sozialen Aufstiegs immer weiter ins Wanken.

Dass die Lage für viele fatal und hoffnungslos ist, haben die Ausschreitungen in den Pariser Vorstädten 2005 gezeigt, die Riots in London von 2011 sowie die militanten Aktionen der Gelbwesten, die Aufstände in Hongkong und Chile.

Diese Vielfachkrisen bringen dabei eine Wahrheit wieder ganz unvermittelt auf den Tisch: Es geht, so phrasenhaft es auch klingen mag, radikal ums Ganze. Dabei wird eine altbekannte Erkenntnis zunehmend zur alltäglichen Realität vieler Menschen: So wie es ist, kann es nicht weitergehen. Mittlerweile weiss man das nicht nur, es gibt auch keine Möglichkeit mehr, es zu leugnen. Nicht weniger als die Revolution gehört auf die Tagesordnung.

Doch analysiert man nüchtern die Verhältnisse – gerade in der BRD –, erscheint nichts unwahrscheinlicher als eine Revolution. Während sich zwar weltweit Aufstände häufen, herrscht in Deutschland weiterhin Friedhofsruhe. Doch ein solch notwendiger Wirklichkeitssinn, der die Gegenwart beschreibt, sollte nicht den Möglichkeitssinn verhageln. Wer diesen Sinn besitzt, sagt mit Robert Musil »beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen, sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen. (…) So liesse sich der Möglichkeitssinn geradezu als Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht weniger zu nehmen als das, was nicht ist.« Denen, die die grundlegende Veränderung der Gesellschaft für unrealistisch hielten, schrieb Rosa Luxemburg bereits rund 40 Jahre vor Robert Musil ins Stammbuch, dass sich »ein äusserst wichtiger Punkt verdunkelt hat, nämlich das Verständnis von der Beziehung zwischen unserem Endziel und dem alltäglichen Kampfe.«

Ihre Rede auf dem Stuttgarter Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1898 lässt sich dabei auch auf unsere Situation im 21. Jahrhundert übertragen. Dort fragte sie zunächst nach den konkret-praktischen Kämpfen der sozialdemokratischen Bewegung und unterschied drei Bereiche: »den gewerkschaftlichen Kampf, den Kampf um die Sozialreform und den Kampf um die Demokratisierung des kapitalistischen Staates.« Diese drei Arten Politik zu machen, finden sich auch heute in Gestalt von Gewerkschafts-, Partei- und Bürgerrechtspolitik wieder.

Luxemburg argumentiert nun, dass diese Bereiche isoliert nie zu irgendeiner Art von befreiter Gesellschaft führen können, sie können der Befreiung unter Umständen sogar entgegenarbeiten und identisch werden mit ihren Gegner*innen. Auch dies lässt sich leicht aktualisieren: die Gewerkschafterin, die sich gegen Umweltschutz stellt, der Parteipolitiker, der soziale Errungenschaften gegen Migrant*innen verteidigen will, der Autonome, der Geschlechterverhältnisse zum ›Nebenwiderspruch‹ erklärt.

All dies macht es notwendig, Politik anders zu denken und sich einer Politik zuzuwenden, die nicht versöhnt werden kann mit den herrschenden Verhältnissen und sich nicht den gesellschaftlichen Spielregeln und Spaltungen beugt. Den emanzipatorischen Charakter der Bewegung kann nach Luxemburgs Ansicht »nur die Beziehung jener drei Formen des praktischen Kampfes zum Endziel« bilden. Dieses Ziel ist die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise und der bürgerlichen Gesellschaft. Dies sind die Voraussetzung für die Entfaltung des menschlichen Potentials hin zu einer Vielfalt von befreiten Subjektivitäten.

Unvorhergesehene Konstellationen und neue Bezeichnungen

Dahingehend gilt es für die Linke ins Gespräch zu kommen. Viel zu häufig wissen die Akteur*innen der einzelnen (Klassen)Kämpfe dabei nichts voneinander, stehen isoliert nebeneinander und können nicht auf gegenseitige Erfahrungen bauen. Es gilt, einen Suchprozess zu starten, mit vorsichtigen Tastbewegungen auszuloten, wie linke Gegenmacht und Klassenkampf vonstattengehen und wie man voneinander lernen kann, indem verlorengegangene Verbindungen und Beziehungen wiederhergestellt werden.

Eine solche Erzählung des Widerstands gegen die Unterdrückung muss notgedrungen ein Fragment bleiben. Zu vielfältig sind und waren die Ansätze, zu unterschiedlich die Aktionen und zu breit der theoretische Bezug. Viel zu häufig waren es auch Praktiken und Vorstellungen, die auch innerhalb der linken Bewegung häretischen und meist oppositionellen Charakter besassen und daher häufig unterdrückt wurden. Der Sammelband versucht, ihre Geschichte(n) zu erzählen und für all jene einen Ort zu schaffen, die nicht ins Raster herrschender Vorstellung parteipolitischer oder auch linksradikaler Provenienz zu passen scheinen. Die Streifzüge sollen den Blick lenken auf all jene, die widerständige Praktiken umsetzen und leben.

Die Ideen der Befreiung laufen nicht linear. Mal zeigt sich die Vorstellung von linker Gegenmacht in einem kleinen mexikanischen Dorf, mal in einem besetzten Haus in Athen, einer militärischen Stellung in Syrien, einer Streikaktion von Frauen in Argentinien. Der rot-schwarze Faden wird durch die Geschichte und durch die Länder verfolgt. Manchmal reisst er, und manchmal taucht er an unerwarteter Stelle wieder auf. Er wird von den Bäuer*innen der Ukraine der 1920er-Jahre bis zu den Gelbwesten gespannt, von autonomen Antifaschist*innen der 1980er-Jahre bis zu Fabrikbesetzer*innen in Südamerika.

Wird solch historisches und internationales Material zusammengetragen wird, ist als Annäherung an die Gegenwart und die Zukunft zu verstehen. Somit ist das Zusammenfügen verschiedener Theorien und Bewegungen doch mehr als ein Freibrief für wildes Denken in alle Richtungen, solange sie auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt verweisen: der Ausweg aus dem Kapitalverhältnis. Dieser wird immer noch abzielen auf »das Einfache, das schwer zu machen ist«, den Kommunismus, wie Bertolt Brecht es formuliert hat.

Christopher Wimmer

Überarbeitete und gekürzte Einleitung aus: Christopher Wimmer (Hg.): »Where have all the Rebels gone?« Perspektiven auf Klassenkampf und Gegenmacht. Unrast 2020. 304 Seiten. ca. 27.00 SFr. ISBN 978-3-89771-277-5