Kämpfe um Universalität
„Die schwarzen Jakobiner“ hat die Haitianische Revolution der Jahre 1791 bis 1804 zum Gegenstand. Den Ausgangspunkt bildet eine Schilderung der sozialen Verhältnisse in der französischen Kolonie Saint Domingue und insbesondere der kolonialen Praxis der Versklavung. Vor diesem Hintergrund stellt James die Geschichte des revolutionären Prozesses in seiner transatlantischen Verzahnung mit den Geschehnissen in Frankreich und in seinen Wechselfällen bis zur Erlangung der Unabhängigkeit Haitis dar.Er schreibt so die Geschichte einer Revolution, die in den dominanten Selbsterzählungen der westlichen Moderne mindestens ein Schattendasein fristet, zugleich aber als Verwirklichung einiger Ansprüche ihrer Schwesterrevolution in Frankreich erscheinen kann. Dort wurde eine universelle Gleichheit und Freiheit in der Erklärung von Menschen- und Bürgerrechten formuliert, aber nur partikular realisiert. Gleiche Bürger meinte zunächst und immer wieder weisse, männliche, erwachsene, mündige und national eingeschlossene Eigentümer. Doch die Aussage universeller Gleichheit und Freiheit überschritt schnell ihre spezifische Äusserung: Zahlreiche politische und soziale Kämpfe können als Anfechtungen der exklusiven Logik der Menschen- und Bürgerrechte begriffen werden und begründen als solche den andauernden Konflikt um ihre Universalität.
Bereits im Wechselspiel mit dem revolutionären Prozess in Frankreich haben die versklavten Massen der profitabelsten französischen Kolonie ihren Befreiungskampf aufgenommen, die Sklaverei abgeschafft und die Unabhängigkeit errungen. Die Geschichte der Haitianischen Revolution zu schreiben, hiess für James und heisst noch heute, diesem Kampf um Universalität Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen. Darin zeigt sich: „The struggle of the masses for universality did not begin yesterday.“ (James 1947/1980, S. 91)
Revision in der Lektüre
Das Buch kann zunächst als eine dramatische Erzählung gelten, die um das Schicksal ihres Protagonisten Toussaint Louverture – James schrieb zuvor ein Theaterstück über ihn – als Revolutionsführer gebaut ist. Handelt es sich also eher um eine Geschichtsschreibung „grosser Männer“ als um eine Geschichtsschreibung „von unten“? Das Nachwort von Çiğdem Inan zur Neuausgabe hilft, diese Frage zu bearbeiten. Es beleuchtet den Text anhand der Lektüren, die sich in Form kleiner Umarbeitungen und Einfügungen in der zweiten Auflage von 1963 und insbesondere in späteren Vorträgen und Vorlesungen niedergeschlagen haben.Wie Carolyn E. Fick, die Autorin der Studie „The Making of Haiti. The Saint-Domingue Revolution from Below“, formuliert, richten diese späteren Kommentierungen von James den Blick auf die „problematische Beziehung zwischen revolutionärer Führung und Massenbewegungen von unten“ (Fick 2017, S. 64). Inans Nachwort diskutiert diese Akzentverschiebung unter Hinzuziehung von jüngeren Texten und Überlegungen zu kolonialer Sklaverei, Eigentum und Praktiken des Widerstands.
Die Geschichtsschreibung von James ersetzt so gelesen nicht bloss das historische Personal, wie etwa, wenn lediglich statt von Napoleon als Weltgeist zu Pferde nun von Toussaint Louverture als „schwarzem Konsul“ (S. 219) berichtet werden würde. Vielmehr weist die Lektürepraxis des Nachworts auf Spuren von „Mikro-, vor allem aber Massenpolitiken“ im Text (Inan, S. 352), die die herrschaftsgeschichtliche Darstellung der Taten und Schicksale „grosser Männer“ kontrastieren und konterkarieren. Darüber fordert das Nachwort zu einer Revision in der Lektüre des Textes auf, die über den metaphorischen Ausdruck einer Geschichtsschreibung „von unten“ hinaus auf das Problem einer grundlegend gewandelten Position historischer Erkenntnis führt.
Zeiten des Konflikts
Keineswegs wird in einer solchen Lektüre die Mythisierung einzelner Heroen bloss in einen spiegelbildlichen Mythos der Massen verkehrt. Die Rolle der „grossen Männer“ erfährt vielmehr eine folgenreiche Verfremdung. Vor allem als Figuren oder Bilder, d.h. im Imaginären der Massen erlangen die einzelnen Heroen, Revolutionäre oder Staatsgründer Geschichtsmächtigkeit. Ihre Handlungskraft ist nicht nur durch geschichtliche Notwendigkeit begrenzt, wie James in seinem Vorwort von 1938 nahelegt, sondern ihre Denk- und Entscheidungsfähigkeiten werden auch gelegentlich seitens der Massen überholt.Etwa wenn die aufständischen Massen, die Louverture geführt hat und die ihn getragen haben, letztlich über seine tragische Bindung an die Französische Republik hinausgehen, und den Unabhängigkeitskrieg entscheidend zuspitzen, während er in französischer Gefangenschaft briefliche Appelle an seinen Antagonisten Bonaparte richtet und bald darauf verstirbt. Die Tragödie des Einzelnen, die James zu Beginn des abschliessenden Kapitels über den Unabhängigkeitskrieg reflektiert, zerbricht, wo die dramatische Zeit des Konflikts zwischen den „weltgeschichtlichen Individuen“ Napoleon Bonaparte und Toussaint Louverture von einer Zeit der Massenaktivität durchkreuzt wird. Damit zerbricht aber auch der Modus der Geschichtsschreibung: Der Konflikt zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren lässt sich nicht mehr in „grossen Männern“ verkörpern, wenn ihn die Spaltungslinien politischer Organisationen, zwischen Führung und Geführten, Intellektuellen und Massen durchkreuzen.
Der Text stellt sich in einer solchen Lektüre weniger als eine Geschichtsschreibung „von oben“ oder „von unten“ dar, denn als eine des mehrseitigen und konstitutiven Konflikts. Eines Konflikts also, der kein blosses Objekt der Geschichtsschreibung bilden kann, weil sich in ihm erst die Positionen herausbilden, auf denen eine historische Erkenntnis produziert werden kann. Vielleicht lässt „Die schwarzen Jakobiner“ seine Leser*innen auch deshalb nicht los und hört nicht auf neue Lektüren zu provozieren.