Mit derlei Fragen lädt uns David R. Chalmers in „Realität+“ zum logischen (Durch)denken ein. Als analytischer Philosoph unternimmt er den Versuch einer zeitgenössischen Antwort auf das cartesianische Problem, also darauf, was wir über uns und unsere Aussenwelt wirklich wissen. Chalmers Buch dreht sich um die Frage, was „Realität“ und was Wissen und Bewusstsein innerhalb dieser Realität eigentlich ausmacht. In einer Beinah-Endlosschleife, aber ohne seinen Gegenstand aus dem Blick zu verlieren, nimmt er uns mit auf vielerlei Erkundungen in die Philosophie, die Mathematik, in Science-Fiction-Filme und andere Techno-Utopien. Er stellt eine logisch-philosophische Frage an den Beginn eines jeden Kapitels; an Hilfestellungen für die Leser*innen krankt „Realität+“ nicht. Man kann der Argumentation von Chalmers in aller Ausführlichkeit und leider auch Penetranz folgen.
Ich bin virtuell, also bin ich
Chalmers entwirft unser Leben und das der Gesellschaft, in der wir leben, als etwas womöglich Simuliertes. Wie im Film Matrix könnten wir alle eigentlich in Gefässen liegen und die Realität würde uns bloss vorgespielt werden. Oder wir begeben uns ganz freiwillig in Kurz- oder Langzeitsimulation, um unserem Leben noch etwas hinzuzufügen oder ein völlig anderes Leben zu leben. Es geht Chalmers primär um die gedankliche Erschliessung, Plausibilisierung und letztlich auch um die Anerkennung möglicher virtueller Welten: „Jede virtuelle Welt ist eine neue Realität: Realität+“ (S. 18), behauptet er.Man mag der These durchaus zustimmen, dass einer simulierten Welt, die beispielsweise durch Aufsetzen einer VR-Brille betreten wird, aufgrund ihrer Wirkkraft und Erfahrbarkeit die Eigenschaft zugesprochen werden kann, real zu sein. Doch was seine Gedankenexperimente in ihrer ganzen Tragweite für unsere Existenz und unser weltliches Zusammenleben hiessen, beantwortet Chalmers nicht. Er verlässt das Terrain logischen Denkens kaum. Trotz seines Umfangs lässt „Realität+“ damit viele störende Fragen zum Beispiel nach den sozialen Rahmenbedingungen dieser Entwürfe bedenkenlos links liegen.
Werden wir alle Sims?
„Realität+“ ist gewiss ein Buch, das eine*n mit Fragen und logischen Problemen bedrängt und überhäuft. Obgleich uns der Autor mit der skeptischen Philosophie und ihrem radikalen Infragestellen jeglichen scheinbar sicheren Aussenwelt-Wissens geradezu belästigt, so konfrontiert uns Chalmers nicht grundlos mit ungeklärten Fragen unseres Verhältnisses zur Technologie und der Frage, was Realität heute für uns bedeutet. Es lässt sich nicht leugnen, dass Technologien und andere Formen künstlich und digital erzeugter Welten bereits jetzt unser Leben beeinflussen. „Die allgegenwärtige Kopplung von Mensch, Smartphone und Internet war ein gewaltiger Schritt auf dem Weg zur Erweiterung des Geistes“ (S. 387), schreibt Chalmers.Hier bleibt er als offensichtlich technikbegeisterter Philosoph (schon 1976 begeisterte ihn das textbasierte Programm Colossal Cave Adventure) jedoch nicht stehen. Er erhofft sich etwas von der Simulationstechnologie und den von ihr erschaffenen Welten. Das Leben in einer solchen virtuellen Realität als eine fundamental andere Welt sei grundsätzlich erstrebenswert: Wir können uns plötzlich in andere Welten begeben, andere Körper annehmen oder durch Simulierung gar die eigene biologische Existenz abschütteln. „Fast alle derartigen Technologien haben das Potenzial, unsere Fähigkeiten zu steigern“. Es läge Chalmers zufolge „an uns, dieses Potenzial zu nutzen“ (S. 397).
Mit Vollgas auf die Cloud
Doch in vielen Szenarien, die uns Chalmers präsentiert, sind wir auf noch zu entdeckende oder stark auszubauende Technologien angewiesen. Es handelt sich hierbei also meist noch um Zukunftsszenarien. Das ist ein Problem, das Chalmers mit seiner logischen Methode einfach ausklammert oder mit blindem Technooptimismus zu übergehen weiss. Hier nähert sich der Autor dem Transhumanismus an, jener Ideologie, die die Freiheit und überhaupt das Beste für den Menschen in der Überwindung unserer physiologischen Grenzen sucht. Unsere ursprüngliche Realität und Lebenswelt verlieren unweigerlich an Bedeutung.Chalmers hinterfragt die sozialen und gesellschaftlichen Vorbedingungen dieser technischen Revolution nicht. Ein derartiger technologischer Sprung setzt eine unglaubliche Produktivkraftentwicklung durch Forschung und Entwicklung sowie eine gesteigerte Ressourcennutzung voraus. Akuten Problemen wie der drohenden Klimakatastrophe entrinnt der Transhumanismus durch Verlegen der Problemlösungen in die Zukunft. Er stellt sich dem „Griff nach der Notbremse“ (Walter Benjamin) in den Weg und setzt alles auf Beschleunigung und Weltflucht. Eine Tendenz, die wir auch gegenwärtig schon beobachten können.
Dem Philosophen zufolge werden sich immer mehr Menschen „aus freien Stücken dazu entscheiden, den grössten Teil ihres Lebens in der VR zu verbringen“ (S. 415). Chalmers scheint mit der Hinwendung zur virtuellen Realität die Gesellschaft aufzugeben oder sie zumindest in konkurrierende Teilrealitäten auflösen zu wollen. Fraglich bleibt es auch zukünftig, ob eine solche Realität erstrebenswert ist. Ein weiteres Mal heisst Philosoph sein noch lange nicht, unsere Fragen und Probleme ins richtige Verhältnis zur Welt setzen zu können. Das zeigt uns auch die Lektüre von „Realität+“. Gewiss wird es nicht das letzte Buch in der Auseinandersetzung um die technifizierte Zukunft sein.