Der Kern der Solidarität
Von dem trivialen Befund, dass „Solidarität in aller Munde“ ist, lassen sich Dietmar Süss und Cornelius Torp nicht davon abbringen, tiefer zu graben. Wenn „selbst die Einhaltung der Hygieneregeln und das Abstandhalten zum Nächsten […] inzwischen als Akt der Solidarität“ (S. 7) gelte, sei es höchste Zeit, diesem Begriff wieder die Konturen zu verleihen, die er verdient. Süss und Torp fragen: Was können wir aus der widersprüchlichen Geschichte der Solidarität in den letzen Jahrhunderten lernen, was hat sich verschoben – und wo können wir Kontinuitäten und zentrale Merkmale ausmachen, die es auch für künftiges Bezunahmen auf das Wort dringend benötigt?Den beiden Autoren gelingt es im Laufe des Bandes, Solidarität(en) in zunächst partikular gefassten Normen – in Bezug auf eine bestimmte Gruppe an Menschen, eine bestimmte politische Idee, einen national gefassten Rahmen – hin zu einem universalistisch nutzbaren Begriff zu entwickeln, der dennoch Raum für Ambivalanzen und Widersprüche hält.
Solidarität im Gestern und im Morgen
Natürlich darf der Beginn bei der Arbeiter:innenbewegung nicht fehlen. Solidarität kann ihr als Leitbegriff verstanden werden. Die Gleichheit der Arbeiter:innen gegen die Ungleichheit der Klassen. Die Solidarität als „Baumeister einer ganz erhabenen Weltordnung“ (S. 15), wird im Buch der Münchner Revolutionär Kurt Eisner zitiert, dient dabei als moralischer Kompass und Utopie. Das sozialistische Solidaritätverständnis dieser Zeit, so resümieren Süss und Torp,„speiste sich aus Erfahrungen, aus Niederlage und gewonnenen Schlachten, aus täglicher Arbeit und dem Glauben an eine bessere Welt. Gleichzeitig war der Begriff Solidarität aber auch Teil einer wissenschaftlichen Suchbewegung, die darauf zielte, die Funktionsweise und den Wandel kapitalistischer, arbeitsteiliger Gesellschaft zu erklären.“ (S. 16)
Von dort aus geht es dann zu einer Betrachtung des Begriffs nach 1918 und über die Zeit des deutschen Faschismus. Hier wird Solidarität durch Abstammung begründet, als einende Kraft der Volksgemeinschaft. Die Autoren begreifen dies als Form einer exklusive Solidarität, der im Buch eine deutliche Absage erteilt wird. Nach 1945 entwickelten sich neue Formen solidarischen Handelns, argumentieren die beiden Autoren. Es geht dabei vor allem um eine programmatische Ausformung der Solidarität, die durch die erstarkende Sozialdemokratie immer weiter in den Bereich des institutionalisierten Wohlfahrtsstaats gegossen und eingehegt wird. Schritt für Schritt rückte somit der revolutionäre Gehalt des Begriffs in den Hintergrund.
Der Solidaritätsbegriff hat sich in den letzten Jahrzehnten allerdings Schritt für Schritt aus seinem Dornröschenschlaf heraus bewegt und vor allem bei den Neuen Sozialen Bewegungen Anknüpfungspunkte gefunden. Dies kann im Kontext der internationalistischen Organisierung von Lohnabhängigen und der globalen Solidaritätsarbeit im späten 20. Jahrhundert ebenso wahrgenommen werden wie in den feministischen und antirassistischen Bewegungen weltweit. Notwendigerweise ist er davon ausgehend pluralistischer und auch intersektionaler geworden. In Richtung des neuen Jahrtausends gewann insbesondere die Frage nach Solidarität mit flüchtenden Menschen Wichtigkeit. Hier gesellte sich auch eine weitere Dimension zu der der politischen und praktischen Seite der Solidarität hinzu: Die „Anwaltsfunktion“ (S. 141) für die Entrechteten, denen keine staatliche Solidarität zugestanden wird.
Solidarität in der Gegenwart
Den aktuellen „Solidaritätshype“ (S. 7) im Kontext von Corona sehen die Autorinnen im Gegensatz zum gegenwärtig ebenso diskutierten Begriff der Entsolidarisierung im Kontext des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft und einer allgemeinen Krisenpolitik. Insgesamt zeichnet den Band aus, dass die Autoren Solidarität in ihrer Vielschichtigkeit begreifen und zunächst als analytischen und als praktisch-politischen Begriff auseinanderhalten: Solidarität sei „ sowohl politischer Kampfbegriff als auch eine Kategorie wissenschaftlicher Beschreibung“ (S. 9), mal Handlungsanleitung, mal moralischer Wert, mal gesellschaftliches Strukturelement.Torp und Süss vermögen es aber zudem, diese Ebenen in ihrer notwendigen Verbindung miteinander darzustellen. Leitend ist dabei die historische Herleitung von Solidarität(en) als „gesellschaftlicher Praxis, die erst im sozialen Handeln entstehen“ (S. 20) und damit sich notwendigerweise auch den an sich wandelnden gesellschaftliche und politischen Bedingungen orientiert.
Grundsätzlich ist dem gesamten Band ein positiver Bezug auf eine Form der Solidarität anzumerken, die über eine institutionell eingegossene, sozialpartnerschaftlich oder sonstwie eingehegte hinausweist, ohne dabei stark ins Utopische abzudriften. Das macht aber gleichzeitig die Begrenzung eines solchen Solidaritätsbegriffs aus. Fest steht: Die Bedeutung des Solidaritätsbegriffs muss weiterhin diskutiert werden. Was Süss und Torp in ihrem Band aufmachen, eignet sich sicherlich als Aufhänger für diese Debatte. Dass Solidarität aber insbesondere in der täglichen Praxis auch gegen die Widerstände neoliberaler Zurichtungen, gegen Konsumorientierung und Warenförmigkeit, ausgehandelt werden muss, darf dahinter nicht zurückfallen.
Der Kampf um die „richtigen“ Solidaritäten im Plural steht also weiterhin aus, und das ist auch wichtig. Denn diese Formen der Solidarität entstehen im Dazwischen, im Reziproken, in den Beziehungen, welche vor allem die Menschen in der kollektiven Auseinandersetzung damit aufbauen können, wie ein Welt von Morgen aussehen kann.